Der Begriff Antisemitismus-Debatte bezeichnet die öffentliche Diskussion um einen neuen Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland, die seit den Äußerungen Jürgen W. Möllemanns im Bundestagswahlkampf 2002 breit geführt wird. Ähnliche Debatten gab es schon im 19. Jahrhundert, etwa im Berliner Antisemitismusstreit. Die durch Möllemann ausgelöste Debatte reiht sich ein in Vorläufer wie
- die Diskussion um Daniel Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“
- die Kontroverse um die Friedenspreisrede des Schriftstellers Martin Walser, vor allem mit Ignatz Bubis
- den Streit um antisemitische Motive in Walsers Roman "Tod eines Kritikers"
- den Skandal um den Politiker Martin Hohmann und seine "Tätervolk"-Rede
- das umstrittene Buch von Norman Finkelstein über die „Holocaust-Industrie“.
Diese Einzeldebatten stehen ihrerseits im Zusammenhang mit Zeitereignissen wie der Zwangsarbeiter-Entschädigung, dem Holocaustmahnmal und besonders dem seit der 2. Intifada verschärften Nahostkonflikt. Die Zunahme antisemitischer Tendenzen wird nicht nur bei rechtsextremen oder rechtskonservativen, sondern auch linksgerichteten Gruppen und Parteien bemerkt und reicht inzwischen bis weit in die gesellschaftliche „Mitte“ der Zivilgesellschaften Europas hinein.
Die Frage nach den Ursachen und Erscheinungsformen des alten und neuen Antisemitismus wird jedoch spätestens seit dem Holocaust in den Sozialwissenschaften gestellt. Der Artikel zeichnet Anlässe, Verlauf und Kernthemen der Einzeldebatten nach und stellt dann übergreifende Theorien zum Antisemitismus in Deutschland dar.
Verlauf der Möllemanndebatte
1. Befragt nach Selbstmordanschlägen gegen israelische Zivilisten sagte Möllemann in einem Zeitungsinterview: "Ich würde mich auch wehren, auch im Lande des Aggressors, wenn Deutschland von einer feindlichen Armee besetzt wäre." Diese Aussage wurde als Rechtfertigung von Mord verstanden und stieß auf scharfe Kritik, u.a. von Michel Friedman, damals Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.
2. Im Frühjahr 2002 erregte der Fall Jamal Karsli die deutsche Öffentlichkeit: Dieser ehemalige Grünen-Abgeordnete stammt aus Syrien und trat zur FDP-Fraktion im Landtag über, weil die Haltung von Außenminister Joschka Fischer im Nahostkonflikt ihm einseitig pro-israelisch erschien. Zudem stellte er einen Aufnahmeantrag an die FDP. Möllemann lud ihn persönlich zu diesem Übertritt ein, weil er sich davon Stimmengewinne von Muslimen in Deutschland erwartete und hoffte, die knappe SPD-Grünen-Mehrheit im Düsseldorfer Landtag kippen zu können. Möllemann war damals Vorsitzender der Deutsch-Arabischen Gesellschaft.
3. Karsli hatte die Besetzung Palästinas durch Israel wiederholt mit "Nazi-Methoden" verglichen. Daraufhin wurde die FDP von verschiedener Seite zur Verhinderung seiner Aufnahme in die Partei und zum Ausschluss aus der Fraktion aufgefordert, u.a. auch vom Zentralrat der Juden in Deutschland.
4. In diesem Zusammenhang sagte Möllemann wiederum in einem Interview: „Ich fürchte, dass kaum jemand den Antisemiten in Deutschland, die es leider gibt und die wir bekämpfen müssen, mehr Zulauf verschafft hat als Herr Sharon in Israel und Herr Friedman in Deutschland mit seiner gehässigen intoleranten Art. Das geht so nicht, man muss in Deutschland Kritik an der Politik Sharons üben dürfen, ohne in diese Ecke geschoben zu werden.“
Der erste Teil der Aussage wurde von vielen als eine Schuldzuweisung an die Juden allgemein aufgefasst, da Ariel Sharon Israel und Friedman den Zentralrat der Juden Deutschlands repräsentierten. Der zweite Teil der Aussage wurde als Unterstellung verstanden, Juden in Deutschland tabuisierten Kritik an Israels Politik. Prominente FDP-Mitglieder, darunter Hildegard Hamm-Brücher, warfen Möllemann vor, er bediene aus populistischen Interessen heraus antijüdische Ressentiments.
Im weiteren Verlauf spitzte sich die Kontroverse zu:
5. In einer Kolumne für die Zeitung Neues Deutschland schrieb Möllemann am 27. Mai 2002: „Die Erfolge von Haider in Österreich, Berlusconi in Italien und Fortuyn in Holland zeigen den Beginn einer Emanzipation der Demokraten.“
Darauf sagte Charlotte Knobloch, Vizepräsidentin des Zentralrats der Juden: „Möllemann hat sich als Antisemit geoutet, stellt sich in die Reihe der Volksverhetzer wie Haider.“
6. Bei einem Israel-Besuch sah sich der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle Fragen nach seiner Haltung zu Möllemanns Aussagen ausgesetzt, der Vorsitzende der linksliberalen Meretz-Partei sagte ein Treffen mit ihm ab. Wieder in Deutschland, drängte er diesen nun zum Ausschluss Karslis aus der FDP und setzte eine Erklärung des Bundesvorstands durch: „Die FDP bedauert und missbilligt die Missverständnisse, die durch Möllemanns Äußerungen entstanden sind.“
7. Dieser sah seine Äußerung jetzt als “Fehler“, lehnte aber eine Entschuldigung und Karslis Ausschluss aus der FDP-Fraktion ab. Karsli verzichtete „freiwillig“ auf seinen Aufnahmeantrag für die Partei, durfte aber Mitglied der FDP-Landtagsfraktion bleiben.
8. Der Zentralrat der Juden unter Paul Spiegel bestand auf Möllemanns Entschuldigung, Karslis Ausschluss und lehnte die Rede von “Missverständnissen“ ab. Er organisierte eine Demonstration vor dem Thomas-Dehler-Haus (Parteizentrale der FDP) in Berlin. 2000 Bürger nahmen Teil.
9. Friedman bat den damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau um eine Klarstellung, was zum Grundkonsens der deutschen Demokratie gehöre. Dieser lehnte eine direkte Stellungnahme ab. Bundeskanzler Gerhard Schröder jedoch erteilte einer Koalition mit der FDP nach dem 22. 9. eine Absage: So sei sie nicht regierungsfähig.
10. Am 5.6. diskutierte der Bundestag über den “Antisemitismus“-Streit. Westerwelle verwahrte sich gegen die wahlkampfbedingte Diffamierung, die FDP sei teilweise antisemitisch. Wolfgang Schäuble (CDU) nahm ihn in Schutz: Die FDP sei demokratisch und schaffe Klarheit durch Karslis Ausschluss. Volker Beck (Grüne) verwies auf frühere Möllemannzitate, die nicht misszuverstehen seien („Wäre unser Land besetzt, würde ich mich wehren...“). Petra Pau (PDS) wies auf Anschläge auf jüdische Einrichtungen und offene Angriffe gegen Juden in Deutschland hin: Es habe 3400 Straftaten in 4 Jahren gegeben.
11. Karsli empfahl im Internet einen Artikel, der Israels Palästinenserpolitik mit dem Nazi-Massenmord an Juden verglich. Westerwelle stellte Möllemann nun „wegen neuerlicher Äußerungen Karslis“ ein Ultimatum, diesen auszuschließen.
12. Am 6. 6. erklärte Möllemann im Düsseldorfer Landtag Karslis Rückzug aus der FDP-Fraktion. Er selbst sah die Debatte ausgelöst durch seine Kritik an Sharons Politik und wies auf 35000 zustimmende Zuschriften "aus der Mitte der Bevölkerung" hin. Er sagte auch: „Sollte ich jüdische Mitbürger durch meine Äußerung (4.) verletzt haben, entschuldige ich mich dafür.“ Zugleich verlangte er eine Entschuldigung des Zentralrats dafür, dass er „Volksverhetzer“ genannt wurde (5., Knobloch) und den Grundkonsens der Demokraten gefährde.
Wolfgang Clement, SPD-Ministerpräsident, sagte darauf: Kritik an Israel sei kein “Tabubruch“, sondern auf der Basis der besonderen deutschen Beziehungen zu Israel immer erlaubt gewesen. Die Angst jüdischer Mitbürger vor neuem Antisemitismus sei real und nicht wegzudiskutieren. Er verlangte Möllemanns „Umkehr“ und klare Absage an den Rechtspopulismus. Um der “politischen Hygiene“ willen solle Karsli nun auch sein Mandat zurückgeben. Beides blieb aus.
13. Westerwelle bekräftigte im “Stern“, Möllemann bleibe sein Stellvertreter als “starke Persönlichkeit“. Die FDP bleibe unverrückbar eine Partei der “Mitte“, die die allgemeine „Unzufriedenheit“ mit etablierten Parteien aufgreife. Er wolle Protestwähler auch von DVU und REP für die FDP „zurück“ gewinnen und diese als “Protestpartei“ profilieren, um die 18% im Wahlkampf zu erreichen.
14. Der Zentralrat der Juden sah nun seine Bedingungen für ein Gespräch mit der FDP erfüllt.
15. Am Nachmittag desselben Tages erklärte Möllemann im Interview bei Sandra Maischberger, ntv-Journalistin: Seine Entschuldigung habe allen verletzten Juden, aber nicht dem Journalisten Friedman gegolten. „Den halte ich unverändert für einen arroganten und aggressiven Typ, der wirklich jetzt mal was wegräumen muss.“ Er habe die Pflicht, „von seiner überheblichen Art als Oberlehrer der Nation herunterzukommen“ und sich dafür zu entschuldigen, dass er ihn als Antisemiten bezeichnet habe. Er habe keine Entschuldigung verdient. “Ich mag Leute nicht, die auf meine ausgestreckte Hand schlagen.“ Er wolle keine neuen Bedingungen aufstellen, aber auch nicht drumherum reden, was ihn und Friedman trenne: Sharons Kriegspolitik. „Ich hoffe, der Zentralrat findet die Kraft, sich davon zu distanzieren.“ 35000 ihm zustimmende e-mails kämen aus der Mitte der Gesellschaft. Davon seien vielleicht 3% Extremisten.
16. Der Zentralrat nahm Möllemann daraufhin vom Gesprächsangebot an die FDP aus. Spiegel begründete das so: „Er hat sich durch die Strategie der Doppelzüngigkeit endgültig disqualifiziert.“ Friedman betonte, er habe Möllemann nicht Antisemit genannt. Sondern dieser benutze antisemitische Klischees, um die FDP zu einer rechtspopulistischen Partei zu machen. Das habe die FDP-Führung zu lange toleriert. Die Ächtung des Antisemitismus sei keine spezielle Aufgabe der Juden, sondern Gründungskonsens der Bundesrepublik. Er sei erschrocken, wie schnell das in Frage gestellt werden könne.
17. Die FDP-Führung wollte den Konflikt nun auf einen persönlichen Streit Möllemann-Friedman reduzieren. Aber Möllemann beschimpfte nun auch verdiente Parteimitglieder wie Gerhart Baum, Burkhard Hirsch und Hildegard Hamm-Brücher: “Wenn diese Querulanten nochmal das Sagen in der FDP bekämen, würde ich sofort aussteigen.“
18. Sandra Maischberger interviewte Möllemann erneut und fragte ihn direkt: "Wo und wann hat Friedman Sie Antisemit genannt?" Sie habe trotz intensiver Recherche keinen Beleg dafür finden können. Möllemann antwortete, er sei von der Frage überrascht und könne es ad hoc nicht belegen. Er bekräftigte jedoch, dass Friedman sich bei ihm entschuldigen müsse.
19. Einige Tage vor der Bundestagswahl versuchte Möllemann ohne Absprache mit Westerwelle, das Thema Israelkritik für den Wahlkampf zu benutzen: Ein ohne Absprache mit Gremien der Partei erstelltes Flugblatt, dessen Finanzierung wahrscheinlich rechtswidrig erfolgt war, zeigte Sharon und Friedman nebeneinander und stellte ihnen Möllemanns "Klartext" gegenüber. Dies führte in der Folge zum Parteiausschluss und zu einem Strafverfahren gegen Möllemann wegen Parteispenden-Betrug.
Dieser Verlauf zeigt die Schwierigkeit, eine politische Streitkultur ohne persönliche Animositäten und sachfremde Interessen zu pflegen. Dabei ist der Kontext des Streits zu berücksichtigen: Er fand im Wahlkampf statt, nachdem Ignatz Bubis (ehemaliger Vorsitzender des Zentralrats der Juden und FDP-Vorstandsmitglied) gestorben war und Möllemann die FDP auf seine populistische Strategie der "18%" verpflichtet hatte.
Die Debatte drehte sich um folgende Sachfragen:
- Sind Selbstmordattentate gegen israelische Zivilisten legitimer Widerstand in einem unerklärten Krieg oder Mord?
- Ist Kritik an der Politik Israels und seiner jetzigen Regierung unter Premier Ariel Scharon in Deutschland ein Tabu-Thema?
- Ist das Möllemann-Flugblatt mit seiner Abbildung prominenter Juden als Verantwortlichen des Nahostkonflikts antisemitisch?
- Sind die FDP oder Jürgen W. Möllemann antisemitisch?
- Ist eine generelle Zunahme von antisemitischen Tendenzen in Deutschland zu beobachten?
- Gibt es eine Häufung von antisemitischen Ausfällen bei bekannten Politikern?
- Ist Michel Friedman mit seiner "Art" (was immer damit gemeint war) für wachsenden Antisemitismus in der Bevölkerung verantwortlich?
Diese Behauptung Möllemanns war der eigentliche Auslöser des Streits. Sie wurde von den einen als unverfänglich und in der Sache berechtigt, von den anderen als Versuch, antijüdische Ressentiments wachzurufen und so Stimmen für die FDP zu gewinnen, gewertet. Ihre Argumentationsstruktur wurde als antisemitisch verstanden, da sie einem bekannten antisemitischen Klischee ähnelte:
"Der Jude" ist arrogant, spielt sich auf, hat zuviel öffentlichen Einfluss, unterdrückt das "Wirtvolk"; ergo ist er am Aufkommen des Antisemitismus selber schuld. Ferner kann die Aussage gegen Sharon (1.) - "ich würde mich auch wehren, auch im Land des Aggressors" - mit der Aussage gegen Friedman (15.) - "den halte ich unverändert für einen arroganten aggressiven Typ" - leicht zu der Nazi-Parole - "Deutsche, erwehrt euch des Juden im eigenen Land!" - verknüpft werden. Dass dies tatsächlich geschieht, erfahren hier lebende Juden durch immer mehr und immer offenere Hassbriefe.
Daher lautet die entscheidende Frage:
- Können bestimmte exponierte jüdische Personen per definitionem "Schuld"/ "nicht Schuld" am Antisemitismus sein? Wie kommt es, dass von einzelnen Juden oft unreflektiert auf alle Juden gefolgert wird? Was sind die eigentlichen Ursachen dieses Antisemitismus?
Weblinks
- revisited - Möllemann, Friedman und Karsli, Texte zur Auseinandersetzung
- [1] Antisemitismus-Konzept bei Horkheimer/Adorno
- [2] Der Adorno-Schüler Helmut Dahmer über die Deutschen und ihr Verhältnis zum 'Bombenkrieg'
- Forum zum Thema Antisemitismus in Deutschland
Siehe auch: Antisemitismus-Debatte über die Rede des Politikers Martin Hohmann.