Verschwörungstheorie

Versuch, ein Ereignis, einen Zustand oder eine Entwicklung durch eine Verschwörung zu erklären
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Als Verschwörungstheorie bezeichnet man den Versuch, Ereignisse oder Zustände durch eine geheime Verschwörung zu erklären, also durch das zielgerichtete, konspirative Wirken von zwei oder mehr Personen zu einem illegalen oder illegitimen Zweck.

Der Terminus selbst ist problematisch und zwar aufgrund beider Begriffsbestandteile: „Verschwörung“ ist eine negative besetzte, stark wertende Attributierung, „Theorie“ bezeichnet eine modellhafte Abstraktion der Wirklichkeit, was eine Verschwörungstheorie so nicht leistet. Teilweise wird daher auch von „Verschwörungsmythos“ (Geoffrey T. Cubbit) gesprochen, um das Imaginäre des Begriffes herauszustreichen. Richtiger wäre es daher, von einer Verschwörungshypothese zu sprechen, oder neutraler von einer Kausalwirkungshypothese, die eine verborgene Zentralsteuerung unterstellt.

Die zentrale Prämisse der Verschwörungstheorie, dass eine hochgradig vernetzte soziale Realität durch Handlungen kausal beeinflusst werden könne, gilt heute – vor dem Hintergrund der Interdependenzen und strukturellen Kopplungen sozialer Systeme – allgemein als inadäquate Vorstellung der Welt. Sozialwissenschaftliche Modelle zeigen, dass weitreichende Ereignisse in Gesellschaft, Wirtschaft oder Staat nicht allein durch das zielgerichtete Handeln von Personen oder Personengruppen verursacht werden. Statt dessen nimmt man an, dass Ereignisse aus multifaktoriellen Bedingungsgeflechten resultieren, die aus Strukturen, Konjunkturen, Absichten, Gegenabsichten, Irrtümern und schlichten Zufällen bestehen und sich obendrein gegenseitig beeinflussen. Die Auffassung, dass eine relativ kleine Gruppe wichtige gesellschaftliche Ereignisse zentral steuern könne, hat somit heute wenig Überzeugungskraft. Der Begriff Verschwörungstheorie ist daher in weiten Teilen der Öffentlichkeit stark negativ besetzt: Zumeist wird er zur Abwertung vermeintlich unbegründeter, irrationaler, abseitiger oder sogar paranoider Ansichten verwendet.

Im Folgenden soll daher die Verschwörungstheorie als Zentralsteuerungshypothese von den Verschwörungstheorien als Geschichtsbild unterschieden werden.

Verschwörungstheorien als Zentralsteuerungshypothesen

Eine Verschwörungstheorie im engeren Sinne beinhaltet die Hypothese, dass der zentrale Faktor eines Ereignisses oder Verhältnisses das gezielte Wirken von Personen oder Personengruppen im Verborgenen ist, etwa eines Geheimbundes oder eines Geheimdienstes. Für die Bildung einer solchen Hypothese kann es gute Gründe geben. Es ist schließlich eine Tatsache, dass Verschwörungen existieren, und - wenn auch nur als Faktor unter vielen - für wichtige Ereignisse von ausschlaggebender Bedeutung sein können.

Als wissenschaftliche Form der Zentralsteuerungshypothese kann etwa die breite Forschung über die verschiedenen Geheimdiensttätigkeiten im Zweiten Weltkrieg, z.B. in der psychologischen Kriegführung oder bezüglich der Chiffriermaschine Enigma gelten. Hier wird die Tätigkeit konspirativer und – aus der Sicht des Spionageziels – illegaler Aktionen unterstellt und deren angenommene Wirksamkeit zur Erklärung wichtiger historischer Ereignisse herangezogen. Wichtig für die Wissenschaftlichkeit ist dabei aber der Hypothesencharakter: die Annahme muss durch empirische Beweise revidierbar, also korrekturfähig, sein, d.h. sie wird nicht gegen Widerlegungen immunisiert, sondern ist jederzeit für die Hinzunahme anderer oder weiterer Ursachen offen.

Verschwörungstheorien als Geschichtsbild („conspiracism“)

Für Verschwörungstheorien als Geschichtsbild, für die der Politologe Richard Hofstadter in den sechziger Jahren die Bezeichnung „paranoider Stil“ vorschlug, hat sich in den letzten Jahren im Englischen der Begriff „conspiracism“ eingebürgert, der von dem amerikanischen Journalisten Frank P. Mintz geprägt wurde. Eine deutsche Übersetzung hierfür wäre vielleicht „konspirationistisches Weltbild“ oder „Konspirationismus“. In der Literatur wird dieses Weltbild als handlungsorientiertes, monokausales Geschichtsbild zur Reduktion gesellschaftlicher Komplexität und zur Erklärung des Bösen beschrieben. Während die Bezeichnung „konspirativ“ den Bezug auf tatsächlich verschwörerisches Handeln enthält, verweist „konspirationistisch“ auf eine imaginäre, befürchtete Zentralsteuerung.

Insofern der Konspirationismus die Korrekturfähigkeit verliert, lässt sich auch von „Verschwörungsideologie“ oder „Verschwörungsdenken“ (Armin Pfahl-Traughber) sprechen. In diesem Sinne bezeichnet der Begriff eine „festgefügte, monokausale und stereotype Einstellung“. Amerikanische Psychologen haben nachgewiesen, dass bei Menschen, die an eine Verschwörungstheorie glauben, die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass sie auch an andere glauben. Dasselbe Erklärungsmodell wird bei derartiger charakterlicher Neigung stereotyp auf mehrere oder sogar alle Phänomene angewandt.

Das konspirationistische Weltbild ist, vereinfacht gesagt, der Versuch, eine Antwort auf die Frage zu geben, wieso guten Menschen Böses zustößt: In einer säkularisierten Gesellschaft, in der nicht mehr alles mit dem Wirken eines allmächtigen Gottes erklärt werden kann, werden unerfreuliche Phänomene häufiger den Machenschaften einer Verschwörergruppe zugeschrieben, da jemand ja dafür verantwortlich sein muss. Die Neigung zu einer solchen personalisierenden Erklärung ist umso größer, je geringer die Fähigkeit ist, das multifaktorielle Bedingungsgeflecht zu durchschauen, aus dem komplexe Phänomene resultieren.

Als Beispiel mag die Französische Revolution gelten, die nach der Meinung aller seriösen Historiker das Ergebnis vielfältiger Ereignisketten und Strukturen war. Als auslösende Faktoren werden z.B. der wirtschaftliche Aufschwung des Bürgertums bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung seiner rechtlichen Unterprivilegierung, die publizistischen Erfolge der Aufklärungsphilosophie, die hohe Staatsverschuldung auf Grund der Verwicklung in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, politische Fehler des Königs und schiere Zufälle wie die Missernte des Jahres 1788 gesehen. Diesem extrem komplexen Ursachengeflecht bietet die bis heute vorzufindende Verschwörungstheorie, die Revolution beruhe auf einem geheimen Zusammenwirken der Freimaurer und Illuminaten, den Vorteil, leicht verständlich zu sein und einen personalen Akteur als Schuldigen zu präsentieren. Die eindeutige Benennung von Schuldigen ist auf den manichäischen Zug des konspirationistischen Weltbildes zurückzuführen und folgt dem Wunsch, die unterstellten Machenschaften aufzudecken, abzustellen und zu bestrafen. Daher bezeichnet man diese Verschwörungstheorien als handlungsleitend.

Monokausal ist das konspirationistische Weltbild insofern, als die Tätigkeit der Verschwörer als die einzige oder wenigstens wichtigste Ursache des zu erklärenden Phänomens betrachtet wird. Andere Ursachen und Faktoren werden dabei ausgeblendet oder abgewertet. Gleichzeitig werden die Verschwörer als extrem mächtig dargestellt. Diese Macht ermögliche es ihnen, trotz ihrer geringen zahlenmäßigen Verbreitung – die Illuminaten etwa hatten in Frankreich kaum ein Dutzend Mitglieder –, Ereignisse von welthistorischer Bedeutung zu inszenieren – etwa den in wenigen Monaten herbeigeführten Sturz eines jahrhundertealten Regimes, wie in der Französischen Revolution. Auch sollen die nachgerade dämonisch mächtigen Verschwörer über ausgeklügelte Geheimhaltungsmechanismen verfügen, weshalb außer dem geübten Verschwörungstheoretiker niemand die verborgenen Zusammenhänge erkennen kann.

Auffällig ist auch, dass die Verschwörer in sehr vielen Verschwörungstheorien angeblich über ein weltweites Beziehungsnetz verfügen: Diese angeblichen internationalen Verbindungen appellieren an die nationalen Gefühle der Rezipienten und lassen die Verschwörer noch bedrohlicher erscheinen. Außerdem können ihre Auslandsverbindungen es glaubhafter erscheinen lassen, wieso außer den Verschwörungstheoretikern selbst noch niemand dem Treiben der Konspirateure auf die Spur gekommen ist.

Typisch für „conspiracism“ ist dabei die Immunisierung des Weltbilds gegen außenstehende Korrektive. Wer an den Verschwörungstheorien zweifelt, gilt entweder als getäuscht, erpresst oder gar als Mitwisser der Verschwörung. Verschwörungstheorien im konspirationistischen Sinne sind damit nicht mehr falsifizierbar. Sie teilen daher mit den Pseudowissenschaften das Charakteristikum, dass sie sich weigern, Bedingungen anzugeben, unter denen sie zugeben, dass ihre Hypothese unrichtig ist. Eine gelungene Parodie auf das konspirationistische Weltbild ist die Bielefeldverschwörung, die im Internet weite Verbreitung findet.

Geschichte des konspirationistischen Weltbilds

Verschwörungstheorien hat es wahrscheinlich immer gegeben – sie scheinen eine anthropologische Konstante zu sein. Im Mittelalter etwa führte man die Pest auf angebliche Brunnenvergiftungen durch die Juden zurück oder wähnte geheimes und illegales (nämlich den Lehren der Kirche widersprechendes) Glauben und Handeln bei echten oder vermeintlichen Ketzern wie den Katharern oder den Templern. Die Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit funktionierten nach demselben Schema: Ein Unglück war geschehen, man identifizierte mehr oder weniger willkürlich einen Sündenbock, dem man dann den blutigen Prozess machte.

Allgemein aber waren Verschwörungstheorien im Mittelalter eher selten, da man noch meist unerfreuliche Ereignisse mit dem unerforschlichen Ratschluss Gottes erklärte und nicht mit den Machenschaften menschlicher Verschwörer. Das Vollbild einer Verschwörungstheorie als Geschichtsbild lässt sich das erste Mal im England des elisabethanischen Zeitalters nachweisen, als Jesuiten versuchten, auf illegalem Wege nach England zu kommen, um für die Rekatholisierung des Landes zu wirken. Unter der Folter gestanden diese Jesuiten dann ihre Verwicklung in verschiedene Mordanschläge auf die Königin oder den Sprengstoffanschlag auf das Parlament.

Dieses Musterbild der vom Ausland gesteuerten Jesuiten-Verschwörung fand ihren Höhepunkt 1678 in der „Papisten-Verschwörung“, dem sog. „popish plot“: Angeblich hätten Katholiken geplant, den König und seinen Bruder, den späteren James II. umzubringen. Diese hanebüchenen Unterstellungen – schließlich war James II. selbst katholisch – nahm die Whig-Opposition zum Anlass, gegen Königstreue, Konservative und Katholiken Front zu machen, von denen mehrere wegen Hochverrat unschuldig hingerichtet wurden.

Nachdem der „popish plot“ als Schwindel aufgedeckt und sich nach der „Glorious Revolution“ von 1688 die Gegner des neuen Königs Wilhelm von Oranien als „die loyale Opposition seiner Majestät“ bezeichnet hatten und damit verschwörerischer Umtriebe nicht mehr verdächtig waren, kam es zu einer Beruhigung der politischen Öffentlichkeit in England. Das Bild vom Jesuiten als konservativ-katholischen Konspirateur, der von Rom aus seine verderblichen Fäden zöge, fand aber Eingang in den Diskurs der französischen Aufklärung, zum Beispiel die Encyclopédie Diderots und d'Alemberts.

Nicht zuletzt als Folge dieser Verschwörungstheorie wurde der Orden 1773 aufgelöst. Im 18 Jahrhundert hatten sich in Zusammenhang mit dem „Jesuiten-Staat von Paraguay“ und dessen Zerschlagung einige Jesuiten nämlich gegen die Herrschaftsansprüche der spanischen und der portugiesischen Krone gewandt und schienen damit die antijesuitische Verschwörungstheorie zu bestätigen.

Einem konspirationistischen Weltbild entsprach in der Französischen Revolution auch die blutige Verfolgung politischen Gegnern mit Hilfe der Guillotine. Sie hatte aber insofern einen wahren Kern, als die Feinde der Revolution wie die königliche Familie, der Hochadel und der romtreue Klerus tatsächlich häufig insgeheim mit dem Ausland in Verbindung standen und ausgesprochen katholisch waren.

Die massiven antikatholischen Angriffe durch die Aufklärer und die mörderischen Verfolgungen in der Revolution führten dann einige konservative Theoretiker dazu, die Verschwörungstheorie einfach umzudrehen. Der ehemalige Jesuit Abbé Augustin Barruel und der schottische Gelehrte J. Robison stellten um 1798 die Gegenthese auf, nicht die Jesuiten hätten eine Verschwörung gestartet, sondern ihre Feinde, die aufklärerischen Philosophen, die Freimaurer und vor allem die Illuminaten. Der Illuminatenorden Adam Weishaupts bot sich besonders an, weil er – im Unterschied zur politisch und religiös grundsätzlich toleranten Freimaurerei – tatsächlich die radikaldemokratische Umgestaltung der Gesellschaft mit den Mitteln eines Geheimbunds zum Ziele gehabt hatte. Zwar war er bereits 1785, also vier Jahre vor der Revolution zerschlagen worden (andernfalls hätten Barruel und seine deutschen Quellen auch gar nicht aus seinen geheimen Papieren zitieren können), doch schien manches für seine Weiterexistenz zu sprechen: Zum einen war das ehemalige Mitglied Johann Joachim Christoph Bode, ein sächsisch-weimarerischer Geheimrat, wenige Wochen vor Ausbruch der Revolution nach Paris gereist – eine Koinzidenz, an der kein Verschwörungstheoretiker vorbeigehen kann. Auf der anderen Seite existierte in Frankreich selbst eine freimaurerartige Bruderschaft namens „Les Illuminés“, die zwar eher konservativ-mystisch ausgerichtet war und mit den bayrischen Illuminaten nur den Namen gemein hatte, doch schien das auszureichen.

Seit dem beginnenden 19. Jahrhundert jedenfalls ist das Bild des politischen Verschwörers von links, der international vernetzt ist, überall Werte wie Vaterland, Glaube und Familie unterminiert und versucht, Revolutionen anzuzetteln, fester Bestandteil des konservativen Diskurses. Dies Bild steht auch deutlich hinter den Karlsbader Beschlüssen von 1819, mit denen der österreichische Kanzler Metternichs überall Demagogen verfolgen, zensieren und einsperren ließ. Eine Übertragung dieser Verschwörungstheorie auf die Juden lässt sich mit Sicherheit allerdings erst für den Anfang des 20. Jahrhundert nachweisen, als der russische Geheimdienst unter Verwendung von Schauerliteratur und einer französischen liberalen Polemik gegen Napoleon III., die einfach umgedreht wurde, die Protokolle der Weisen von Zion zusammenfälschte, die dann einer der Schlüsseltexte des Antisemitismus werden sollten.

In diese antisemitische Verschwörungstheorie, die im Kern immer noch starke Ähnlichkeit mit ihrem antijesuitischen Urbild hat, wurden nach der Oktoberrevolution noch antibolschewistische Elemente eingefügt. Die so entstandene Mär einer jüdischen Weltverschwörung, die ihre Feinde im Zangenangriff durch amerikanischen Finanzkapitalismus einerseits, sowjetischen Kommunismus andererseits halte, bildet den Kern von Hitlers Weltanschauung, der sich in Mein Kampf explizit auf die Protokolle der Weisen von Zion berief. Insofern kann der Nationalsozialismus als eine große Verschwörungstheorie angesprochen werden, die deswegen noch mörderischer war als die anderen, weil die vermeintlichen Verschwörer nicht durch Absprache, sondern durch Abstammung Teil der Verschwörung geworden seien.

Verhängnisvoll aufgeladen war diese antisemitische Verschwörungstheorie noch durch die Dolchstoßlegende: Bereits kurz nach dem Ersten Weltkrieg hatte die Oberste Heeresleitung die Verschwörungstheorie verbreitet, Schuld an der deutschen Niederlage wäre nicht etwa die materielle, technische und zahlenmäßige Überlegenheit der Alliierten spätestens seit dem Kriegseintritt der USA, sondern die Wühltätigkeit der deutschen Sozialdemokratie, die dem angeblich „im Felde unbesiegten“ deutschen Heer mit der Novemberrevolution in den Rücken gefallen sei.

Zwischen den Weltkriegen zeigte das konspirationistische Weltbild auch in der Sowjetunion Stalins seine mörderischen Folgen. Während des „Großen Terrors“ von 1934 bis 1939 „gestanden“ fast alle Altbolschewiken und die übergroße Mehrheit des Offizierkorps der Roten Armee in Schauprozessen, sie seien Teil einer antisowjetischen entweder von Trotzki oder vom kapitalistischen Ausland geführten Verschwörung – sie waren sämtlich schwer gefoltert worden. Ob Stalin tatsächlich diesem Wahn anhing, dem mehrere Millionen Menschen zum Opfer fielen, oder ob er seine Verschwörungstheorie in kühlem Kalkül nur deswegen propagieren ließ, um mögliche Rivalen auszuschalten, ist ungeklärt. In den 1950er Jahren folgte dann eine ebenfalls konspirationistische, antisemitische Kampagne Stalins gegen „wurzellose Kosmopoliten“.

Während ab 1945 das konspirationistische Weltbild in Europa nur mehr an den Rändern der Gesellschaft nachzuweisen ist, konnte es in den USA eine wachsende Anhängerschaft finden, wo der „Ausschuss für unamerikanische Aktivitäten“ von Senator Joseph McCarthy 1950 bis 1954 regelrechte Musterbeispiele für Verschwörungstheorien produzierte. Auch in der Folge nahm die Zahl und die Verbreitung von Verschwörungstheorien hier nicht ab. Gegenstand der Verdächtigungen ist häufig die eigene Regierung, der u.a. von fundamentalistischen Christen, Rechtsanarchisten und der National Rifle Association (NRA) unterstellt wird, im Bunde mit der UNO oder anderen übernationalen Mächten daran zu arbeiten, Freiheit und Moral der Bevölkerung zu unterminieren und eine „neue Weltordnung“ errichten zu wollen. Anlass hierzu bot zuletzt das Massaker von Waco (Texas) 1993. Diese gegen die eigene Regierung gerichteten konspirationistischen Verdächtigungen wurden nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zurück nach Europa importiert, als sich die Verschwörungstheorie verbreitete, die Bush-Administration selbst stecke hinter den Angriffen auf das World Trade Center und das Pentagon, um bessere Argumente für ihre Kriegspläne gegen Afghanistan und den Irak zu haben.

Ähnlich wird auch in den konspirationistischen Theorien argumentiert, die gegenwärtig in der arabischen Welt florieren. Hier ist eine Mischung zu beobachten, die sich aus den Verschwörungstheorien zum 11. September, aus teils klassischen, teils antiimperialistisch modernisierten antisemitischen Verschwörungstheorien und aus konspirationistischen Versuchen zusammensetzt, für die geringen Entwicklungserfolge, die die arabische Welt in den letzten hundert Jahren erzielt hat, einen Sündenbock zu finden.

Verschwörungstheorien und politische Kultur

Konspirationistisches Denken lässt sich für alle Zeiten und alle Kulturen der Menschheit nachweisen. Dennoch unterliegt seine Popularität Konjunkturen: In einigen Gesellschaften treten sie als über einen gewissen Zeitraum als Massenphänomene auf, in anderen scheinen sie konstantes Merkmal der politischen Kultur zu sein, während wieder andere davon nur in geringem Maße davon betroffen sind. Wie der historische Überblick gezeigt hat, war z.B. die Epoche der französischen Revolution oder Jahre um den Zweiten Weltkrieg herum Zeiten konspirationistischer Hochkonjunktur. Als Erklärungen für diese Phasenwechsel bieten sich an:

  1. der unterschiedliche Bedrohungsgrad einer Gesellschaft
  2. die unterschiedliche Aufgeklärtheit einer Gesellschaft
  3. die unterschiedliche Akzeptanz oppositioneller Gruppen

ad 1.) Das konspirationistische Weltbild ist gerade dort vertreten, wo sich mehr oder minder große Teile einer Gesellschaft von außen bedroht fühlen. Das war etwa bei der Pest des Mittelalters genauso der Fall wie im elisabethanischen England, im revolutionären Frankreich oder auch im Deutschland der zwanziger Jahre, als der überraschend verlorene Weltkrieg und der als nationale Schmach empfundene Versailler Vertrag die Suche nach einem Sündenbock motivierten. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass das Ergebnis dieser Suche stets irrational ist und mit der Verursachung der als unerfreulich empfundenen Lage oft nur wenig oder – wie im Falle des deutschen Antisemitismus – überhaupt nichts zu tun hat. Gegen die Annahme, dass eine äußere Bedrohung eine hinreichende Bedingung für die Verbreitung des konspirationistischen Weltbilds in einer Gesellschaft ist, spricht aber die Tatsache, dass in der Neuzeit nicht jede Gesellschaft in Not mit Verschwörungstheorien auf ihre Bedrohung von außen reagiert.

ad 2.) Verschwörungstheorien im konspirationistischen Sinne reduzieren Komplexität: Sie lösen unübersichtliche und diffuse Situationen dadurch auf, dass sie sie auf einzelne bekannte Phänomene herunterbrechen und damit bearbeitbar machen. Die Situation mag immer noch bedrohlich sein, unerklärlich ist sie nicht mehr. Der Mythos als Verarbeitungsform von Wirklichkeit besteht nach Hans Blumenberg darin, das Subjekt einer Geschichte zu finden und zu benennen.

Dementsprechend müssten Gesellschaften, die aufgeklärter sind über die zahlreichen und obendrein interdependenten Kausalfaktoren in Geschichte, Wirtschaft und Politik weniger anfällig sein für das konspirationistische Weltbild. Tatsächlich aber lässt sich eine Abnahme der Verschwörungstheorien im Lauf der Zeit nicht in allen Gesellschaften finden. Gerade im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, gab es eine deutliche Hausse von Verschwörungstheorien, weshalb der Historiker Dieter Groh hier eine „Dialektik der Aufklärung“ im Adornoschen Sinne vermutet: Verschwörungstheorien wären dann als „das Andere der Vernunft“ Schattenseite und gleichzeitig Gegenbewegung einer zu schnell sich vollziehenden Rationalisierung aller gesellschaftlichen Beziehungen. Ähnliches ist in den USA zu beobachten, einer Gesellschaft mit einem guten bis sehr guten Bildungssystem: Hier scheint die Popularität von Verschwörungstheorien seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs konstant, wenn nicht sogar zuzunehmen, weswegen 1965 Richard Hofstadter den „paranoiden Stil“ nachgerade als Signum für die politische Kultur seines Landes beschrieb: Einen Rückgang des konspirationistischen Denkens bei vermehrter Bildung scheint es nicht zu geben.

ad 3.) Nach der dritten Hypothese wäre eine notwendige Bedingung für die Popularität des konspirationistischen Weltbilds in einer Gesellschaft die Akzeptanz der Opposition. Wenn es erlaubt ist, gegen die Regierung aufzutreten, schwindet die Versuchung, derartige Bestrebungen als Verschwörung zu delegitimieren: Sie sind dann keine Verschwörung mehr, die sich vielleicht schon aus Furcht vor politischer Verfolgung konspirativer Mittel bedienen muss, sondern eine legitime Oppositionspartei. In der Tat fällt auf, dass in den Staaten Europas jeweils mit dem Aufkommen des Parteienwesens das konspirationistische Weltbild zurückgeht. In England ist dieser Moment 1688 mit der Glorious Revolution gekommen, als sich die Gegner des neuen Königs Wilhelm von Oranien als „die loyale Opposition seiner Majestät“ bezeichneten und damit verschwörerischer Umtriebe nicht mehr verdächtig waren – danach hat es keine Verschwörungstheorie in England mehr zu Massenanhang gebracht. Ähnlich in Frankreich nach der Julirevolution 1830 und in Deutschland nach der von 1848: Mit dem Pluralismus und der damit einhergehenden Institutionalisierung von Parteien verbreitet sich eine moderne, prozeduralistische Vorstellung von Politik, die der traditionalen oder charismatischen Herrschaft eine rationale, deliberative Form der Konsensbildung gegenüberstellt. Mit zunehmender Transparenz und Verfahrenslegitimation, wie sie die dritte Form in Max Webers Typologie kennzeichnen, nämlich die rationale Herrschaft, verlieren konspirationistische Vorstellungen somit ihre Glaubwürdigkeit.

In diesem Sinne könnte dann die Massenakzeptanz der antisemitischen Verschwörungstheorien des Nationalsozialismus als besonders barbarischen Rückfall in das eigentlich bereits überwundene konspirationistische Weltbild verstanden werden. Warum aber blieb der „conspiracism“ in den Vereinigten Staaten so auffällig konstant, obwohl sie doch eine stabile Demokratie mit eingespieltem Wechsel von Regierungs- und Oppositionspartei sind? Die Antwort mag in den Traditionen der politischen Kultur zu suchen sein, die sich so von denen des alten Kontinents unterscheiden. Die USA stehen nämlich noch heute in der Tradition der Pilgerväter und ihres Puritanismus, der dadurch, dass er durch die Aufklärung (wenigstens teilweise) säkularisiert wurde, nichts von seinem moralischen Rigorismus verloren hat: Seit dem Unabhängigkeitskrieg ist in den USA die Perspektive populär, in politischen Auseinandersetzungen einen Kampf von Gut gegen Böse zu erkennen. Die „Bösen“ sind dabei die anderen, ob das nun kolonialistische Briten sind, sklavenhalterische Südstaatler, militaristische oder gar faschistische Deutsche, kommunistische Sowjets, oder islamistische Afghanen und Araber. Daher besteht die Neigung, eine Systemopposition nicht, wie in Europa üblich, politisch zu verstehen, sondern moralisch, und das heißt: als böse. In diesem Sinne könnte der in USA verbreitete „conspiracism“ als Indiz einer unreifen politischen Kultur verstanden werden, die ihren Gegner die Existenzberechtigung abspricht und sie folgerichtig als Verschwörer herabsetzt.

Konspirationismus und Gewalt

Der historische Überblick über die Konjunkturen des konspiratistischen Weltbild zeigt die immense Gewaltbereitschaft, die mit diesem Denken einhergeht: Vom mittelalterlichen Terror gegen Andersgläubige über die englischen Verfolgungen von Kryptokatholiken und Jesuiten zur „grande terreur“ der Französischen Revolution, schließlich bis zum Grauen in deutschen und sowjetischen Lagern: Stets folgte aus der „Entlarvung“ vermeintlicher Verschwörer und Volksfeinde deren blutige Eliminierung. Und noch in der jüngsten Vergangenheit zeigt der Bombenanschlag von Oklahoma City von 1995 die mörderische Potenz des Konspirationismus.

Der Zusammenhang ist der scheinrationalen Logik des konspirationistischen Weltbilds zwingend inhärent: Wenn die Bedrohung durch die als übermächtig imaginierten Verschwörer so groß ist und wenn es auf Grund der ideologischen Selbstabdichtung keinerlei Mittel gibt, diese Imagination zu falsifizieren, muss buchstäblich jedes Mittel recht sein, sich ihrer zu erwehren. Insofern ist zu vermuten, dass die vergleichende Genozidforschung künftig auf noch mehr Beispiele konspirationistischen Denkens stößt, wie es jüngst erst bei der Erforschung des Völkermords an den Armeniern geschah: Auf Grund der Erfahrungen des griechischen Unabhängigkeitskrieges (1821 – 1829), als eine christliche Minderheit sich gewaltsam mit Hilfe einer europäischen Großmacht aus dem Osmanischen Reich gelöst hatte, fürchtete die jungtürkische Regierung im Jahre 1915 Ähnliches: Sie vermutete, die christlichen Armenier würden insgeheim im Bunde stehen mit dem zaristischen Russland, dessen Aspirationen auf die Meerengen notorisch waren. In der Konsequenz setzten sie mit den Todesmärschen in die mesopotamische Wüste die Vernichtung dieser vermeintlichen „fünften Kolonne“ des Kriegsgegners ins Werk.

Doch Gewalt ist nicht nur die Folge staatlicher Verschwörungstheorien „von oben“: In den beiden großen Freiheitskämpfen des 18. Jahrhunderts spielen Verschwörungstheorien „von unten“ für die Motivation der Revolutionäre eine nicht zu unterschätzende Rolle. Von George Washington etwa ist bekannt, dass er hinter dem konfliktträchtigen Handeln der britischen Regierung, das zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg führte, eine Verschwörung witterte: Die Besteuerung der Kolonisten ohne ihre Repräsentation im Parlament erschien ihm nicht als rationale Verfolgung britischer Interessen, die nur eben den seinen widersprachen und die politisch, das heißt durch Verhandlung und Kompromiss, zu regeln wäre, sondern als absichtliche und vor den Amerikanern lange geheim gehaltene Böswilligkeit, die es zu bekämpfen gelte – eine Interpretation, die den Kämpfern für die Unabhängigkeit gewiss mehr Anhänger zuführte, als hätte er sie rein rational dargestellt.

Noch deutlicher wird der Zusammenhang von revolutionärer Gewalt und Verschwörungstheorie im vorrevolutionären Frankreich, wo unter der Landbevölkerung immer wieder Gerüchte von Hungerverschwörungen aufflackerten. Die berühmteste und wohl auch folgendreichste war das im Frühjahr 1789 massenhaft kolportierte Gerücht, Adel und König würden absichtlich die Getreideversorgung verknappen, um in der folgenden Hungerkrise den beim Volk beliebten Finanzminister Jacques Necker entlassen und die von ihm empfohlene Einberufung der Generalstände aussetzen zu können. Diese Verschwörungstheorie trug nicht unwesentlich zur Delegitimierung des Ancien regime und zur Bereitschaft der von einer Hungersnot bedrohten Massen bei, auch Gewalt einzusetzen.

Die Gerüchte um Hungerverschwörungen ließen in der Folgezeit aber nicht nach. Tatsächlich waren ähnliche Sorgen der Pariser Sansculotten im Zusammenhang mit der inflationsbedrohten Revolutionswährung der Assignaten einer der Auslöser für den massenhaften Terror des Wohlfahrtsausschusses. Die Verschwörungstheorie, die revolutionäre Gewalt „von unten“ motiviert hatte, war zur Rechtfertigung staatlichen Terrors „von oben“ geworden.

Verbreitung von Verschwörungstheorien (Internet)

Konspirationistische Verschwörungstheorien finden in deutschsprachigen Printmedien, in Rundfunk und Fernsehen nur geringe Verbreitung, von einigen Verlagen wie dem „Kopp Verlag“ [1] abgesehen, die ihr Schrifttum über den Postversand und in Spezialbuchläden vertreiben. Das liegt unter anderem daran, dass die Verbreitung einiger derzeit wieder populärer Verschwörungstheorien wie der „Protokolle der Weisen von Zion“ oder der auf ihnen basierenden Mythen Jan Udo Holeys, der unter dem Pseudonym Jan van Helsing publiziert, als Volksverhetzung strafbar ist.

Als Ersatz hat sich das Internet als dasjenige Medium etabliert, in dem nicht nur die genannten Hetzschriften leicht greifbar sind, sondern auch harmlose Verschwörungstheorien jeglicher Art: Eine Google-Suchanfrage zum Thema „Verschwörung“ liefert in 0,22 Sekunden immerhin 892.000 Treffer. Grund dafür ist – neben der erschwerten Strafverfolgung – die leichte, kostengünstige und bei Bedarf auch anonyme Veröffentlichungsweise: Einen kontroversen Inhalt in den Printmedien oder gar im Fernsehen unterzubringen, ist aus finanziellen und verlagsorganisatorischen Gründen erheblich schwieriger, als wenn man ihn auf der eigenen Homepage oder in entsprechenden Internetforen veröffentlicht. Dabei ist zu beachten, dass nur ein geringer Teil der User derartiger Foren ideologisch gefestigte Anhänger des konspiratistischen Weltbilds sind. Wie die Diskussionen etwa unter www.weltverschwoerung.de zeigen, wird hier durchaus rational, bisweilen sogar skeptisch diskutiert. Gemeinsam ist den Usern nur eine gewisse Faszination für alles Geheimnisvolle und die Alltagswelt Transzendierende, was auch der Aspekt zu sein scheint, den sie an der Beschäftigung mit Verschwörungstheorien am meisten genießen. Daher ist es kein Zufall, dass in solchen Foren sehr häufig religiöse Fragen behandelt werden.

Hinzu kommt, das der Umgang mit Verschwörungstheorien im Internet häufig in spielerischer, halb ironischer Weise geschieht: Selten wird fanatisch doziert, zumeist werden die kurrenten Hypothesen über die Merowinger als biologische Nachfahren Christi, über Nazi-Flugscheiben aus der Antarktis oder eben über die Weltherrschaft der Illuminaten schmunzelnd-amüsiert zur Kenntnis genommen: Das vorherrschende postmoderne Bewusstein sieht selbst abseitige Verschwörungstheorien als eine der unendlich vielen Möglichkeiten, die Welt zu betrachten, und als Korrektiv und Relativierung der gängigen Sichtweise.

Verschwörungstheorien in der Literatur

Seit mehreren Jahren werden Verschwörungstheorien vor allem in der amerikanischen Literatur thematisiert. Hier lassen sich drei Aspekte ausmachen, die sie für Autor und Leserschaft interessant machen: Spannung, Satire und Postmoderne; bei vielen Büchern kommen mehrere dieser Aspekte zum Tragen:

  • (Welt-) Verschwörungstheorien eignen sich hervorragend dazu, Spannung zu erzeugen: Der Held dringt mit dem Leser immer tiefer in die Geheimnisse einer ungeheuerlichen Konspiration ein, gerät eben dadurch mehrfach in größte Gefahr und entkommt den finsteren Geheimbündlern nur knapp, wenn überhaupt. Dieser Dramaturgie gehorchen z.B. die Romane von Dan Brown, aber auch Umberto Ecos Das Foucaultsche Pendel.
  • Satirisch werden Verschwörungstheorien zum Beispiel in William S. Burroughs berühmter Kurzgeschichte „23 Skiddoo“ behandelt, die in schnoddrigem Insider-Jargon schildert, wie einem obskuren Geheimdienst seine telepathisch kontrollierten Mörder aus dem Ruder laufen. Auch die Illuminatus-Trilogie von Robert Anton Wilson benutzt vielfach satirische Momente, etwa wenn gleich zu Beginn des ersten Bandes der Konspirationismus als Ideologie entlarvt mit dem das Kommunistische Manifest parodierenden Motto: „Alle Geschichte ist die Geschichte des Krieges zwischen Geheimgesellschaften“.
  • In der postmodernen Literatur tritt das Motiv der Verschwörungstheorie besonders häufig auf. Hier dienst es dazu zu belegen, dass alles, was gemeinhin für Wirklichkeit gehalten wird, letztlich eine Konstruktion und bloße Vereinbarung ist: Als so offenkundig konstruiert wie eine Verschwörungstheorie ist demnach überhaupt jede Vorstellung der Realität.

Dies wird in Wilsons Illuminatus-Trilogie mit dem von Timothy Leary entlehnten Begriff des Realitätstunnels sogar explizit erklärt: Aus der gegen unendlich strebenden Zahl der möglichen Interpretationen von Welt einigt sich eine Gesellschaft auf eine, die dann als verbindlich indoktriniert wird. Erleuchtung erfahren die Protagonisten der Romantrilogie durch einen sog. Mindfuck, der ihren Realitätstunnel zerstört und sie so in Stand setzt, einen eigenen zu konstruieren. Negativ werden Verschwörungstheorien dagegen im Werk Don DeLillos gesehen: In dem Roman „Sieben Sekunden“, in dessen Mittelpunkt der Kennedy-Attentäter Lee Harvey Oswald steht, wird anschaulich und plausibel geschildert, wie er von CIA-Agenten dahin manipuliert wird, sich selbst für einen Mord verantwortlich zu zeigen, den er (jedenfalls in der Version der Ereignisse, die DeLillo erzählt) nicht begannen hat: Verschwörungstheorie als Metapher der Fremdbestimmung und Manipulation des Individuums. Eine große Rolle spielen Verschwörungstheorien auch beim Großmeister des postnmodernen Romans, Thomas Pynchons: In der „Die Versteigerung von Nr. 49“ stößt die Protagonistin Oedipa Maass auf immer mehr Indizien für die Existenz einer geheimnisvollen Post-Verschwörung, bis sie schließlich vor der grausamen Alternative steht, entweder dem zu glauben, was sie sieht, sich damit aber außerhalb dessen zu stellen, was alle anderen Menschen für Realität halten, oder innerhalb des gesellschaftlichen Konsens zu bleiben, was aber bedeutet, dass sie ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen kann – sie muss sich dann selbst für verrückt erklären. Eine positivere Konnotation haben die Verschwörungstheorien in Pynchons großem Roman „Die Enden der Parabel“: Hier dienen sie, ähnlich wie bei Wilson, als selbstkonstruierte Fluchtmöglichkeiten, als Wege aus der von dem gigantischen Todes-, Indoktrinations- und Verwertungszusammenhang, als den Pynchon die Welt schildert.

Distinktionsprobleme

Theoretisch zu unterscheiden zwischen Verschwörungstheorien als Zentralsteuerungshypothesen, und dem Konspirationismus, also zwischen diskutablen Annahmen, dass ein Ereignis auch eine Verschwörung als (mit-) verursacht wurde, und dem inadäquaten Weltbild, wonach die bösen Absichten böser Verschwörer die Primärursache nahezu aller Erscheinungen wären, fällt nicht schwer. In der Praxis dagegen kann diese Distinktion erhebliche Probleme aufwerfen. Darüber, dass etwa David Ickes Theorien über die Unterwanderung der Menschheit durch reptiloide Außerirdische wahnhaft ist, wird sich wohl ein breiter Konsens finden lassen. Auch halten die meisten den Verdacht, wonach es beim Attentat auf John F. Kennedy nicht ganz so zugegangen sein kann, wie der Warren-Report glauben machen will, für diskutabel und damit für eine nicht-konspirationistische Zentralsteuerungshypothese. Bei vielen anderen Verschwörungstheorien, die im Umlauf sind, ist eine solche eindeutige Zuordnung indes nicht möglich:

Ist zum Beispiel die These, Präsident Roosevelt habe Informationen über den bevorstehenden Angriff der Japaner auf Pearl Harbor absichtlich zurückgehalten, um so den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg in der Öffentlichkeit durchsetzen zu könne (diese Denkfigur könnte man als „passive Verschwörungstheorie“ bezeichnen), eine rationale Hypothese oder entspringt sie einem paranoiden Weltbild? Muss der Verdacht, dass Papst Johannes Paul I. nach nur 33 Tagen auf dem Stuhl Petri ermordet wurde, weil er die Betrügereien des Banco Ambrosiano habe aufdecken wollen, von vornherein als wahnhaft zurückgewiesen werden, oder verdient er eine seriöse Diskussion? Ist schließlich die sog. „Phoebus-Verschwörung“, wonach die Lampenindustrie die längst technisch mögliche Produktion dauerhafter Glühbirnen absichtlich nicht betreibt, weil sie an rasch durchbrennenden Birnen mehr verdient, eine diskussionswürdige Hypothese oder entspringt sie konspirationistischen Stereotypen?

All diese Fragen müssen unbeantwortet bleiben, weil in ihnen Werturteile stecken, und Werturteile können allenfalls durch kommunikatives Handeln in intersubjektive Einigungen von begrenzter Gültigkeit überführt, nicht aber objektiv und allgemeinverbindlich entschieden werden. Als Kriterium für die Distinktion zwischen diskutablen Hypothesen und unseriösen konspirationistischen Weltbildern können zwei Aspekte dienen:

  1. Der Grad der Abschottung von oder der Offenheit für alternative Erklärungsmodelle,
  2. Ihre Funktion im politischen Diskurs. Wenn eine Verschwörungstheorie eine offenkundig politische Funktion hat, wenn aus ihr die Forderung nach (womöglich gar) gewaltsamem Handeln abgeleitet wird, ist der Verdacht naheliegend, dass es sich um "conspiracism" handelt, da die Funktion ihrer Verwendung nicht ist, Transparenz zu schaffen, sondern Mehrheiten zu organisieren. Korrekturfähigkeit in rationaler Diskussion besteht damit nicht mehr, oder nur sehr eingeschränkt.

Weitere Beispiele für Verschwörungstheorien

Siehe auch

Literatur

  • Bröckers, Mathias: Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9., Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2002. ISBN 3-861-50456-1
  • Ute Caumanns/Mathias Niendorf (Hrsg.): Verschwörungstheorien. Anthropologische Konstanten - historische Varianten. fibre Verlag, Osnabrück 2001, ISBN 3929759470
  • Norman Cohen: Warrant for Genocide, London 1967.
  • E.Gugenberger/F.Petri/R.Schweidlenka: Weltverschwörungstheorien. Die neue Gefahr von rechts. Deuticke, Wien-München 1998, ISBN 3216303780
  • Harder, Bernd (1999): X-Akten gelöst - Die Enträtselung der `unheimlichen´ Fälle, Alibri Verlag, ISBN 3932710177
  • Tobias Jaecker: Antisemitische Verschwörungstheorien nach dem 11. September. Neue Varianten eines alten Deutungsmusters. LIT Verlag, Münster 2004, ISBN 3825879178
  • Kursbuch 124: Verschwörungstheorien, hg. v. Karl Markus Michel und Tilman Spengler, . Rowohlt, Berlin 1996. ISBN 3-87134-124-X
  • Fenster, Mark: Conspiracy Theories. Secrecy and Power in American Culture, Minneapolis 1999, ISBN 0-8166-3242-1
  • Graumann, Carl F. und Moscovici, Serge (Hg.): Changing Conceptions of Conspiracy, New York u.a. 1987 (Springer Series in Social Psychology), ISBN 0-387-96223-9
  • Hofstadter, Richard: The Paranoid Style in American Politics and Other Essays, London 1966
  • Lutter, Marc: Sie kontrollieren alles! – Verschwörungstheorien als Phänomen der Postmoderne und ihre Verbreitung über das Internet, CD-Edition, München 2001 (Moderne-Postmoderne; Bd. 2), ISBN 3-935147-09-0
  • Frank P. Mintz: The Liberty Lobby and the American Right. Race, conspiracy and culture, Greenwood Press Westport, Connecticut, 1985.
  • Parish, Jane und Parker, Martin (Hg.): The Age of Anxiety. Conspiracy Theory and the Human Sciences, Oxford/UK; Malden/USA 2001, ISBN 0-631-23168-4
  • Daniel Pipes: Verschwörung. Faszination und Macht des Geheimen. Gerling Akademie Verlag, München 1998, ISBN 3932425081
  • Helmut Reinalter (Hrsg.): Verschwörungstheorien. Theorie - Geschichte - Wirkung. Studienverlag, Innsbruck 2002, ISBN 3706515105
  • J.M. Roberts: The Mythology of the Secret Societies, London 1972
  • Johannes Rogalla von Bieberstein: Die These von der Verschwörung 1776 - 1945. Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die soziale Ordnung, Bern 1976
  • Schauprozesse unter Stalin 1932 – 1952. Zustandekommen, Hintergründe, Opfer, mit einem Vorwort von Horst Schützler, Dietz Verlag Berlin 1990.
  • Robert A. Wilson, Miriam J. Hill: Das Lexikon der Verschwörungstheorien; Piper Verlag. ISBN 3492240240