Lüth-Urteil

Urteil des Bundesverfassungsgerichts
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Das „Lüth-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts (BVG) von 1958 ist ein vielzitiertes Grundsatzurteil des Öffentlichen Rechts, das den Umfang des Grundrechts der Meinungsfreiheit regelt und dessen Bedeutung als "Grundlage jeder Freiheit überhaupt" hervorhebt. (Urteil des Ersten Senats vom 15. Januar 1958, Aktenzeichen 1 BvR 400/51, amtliche Sammlung Band 7, S. 198 ff.).

Bedeutung

Zu einer der "wichtigsten Entscheidungen" des Bundesverfassungsgerichts wurde das Urteil jedoch nicht durch die Regelung der Meinungsfreiheit, sondern durch die darüberhinausgehende Festschreibung der Grundrechte als "objektive Wertordnung" für alle Rechtsbereiche. Diese Dimension verlieh dem Urteil eine "alles überragender Bedeutung" insbesondere hinsichtlich seiner "Langzeitwirkung" (so Dieter Grimm, von 1987 bis 1999 Richter am BVG für Medienfragen). Das Gericht nahm eine "Ausstrahlungswirkung" der Grundrechte als oberste objektive Prinzipien der gesamten Rechtsordnung auf sämtliche Rechtsbereiche an. Grundrechte beziehen sich demnach nicht nur auf die Rechtsbeziehung zwischen Staat und Bürger - als subjektive Abwehrrechte des Individuums gegen den Staat - sondern durchdringen alle Teilgebiete des Rechts, auch das Privatrecht. Damit darf nicht nur keine Vorschrift des Privatrechts (Bürgerliches Recht) gegen ein Grundrecht verstoßen, vielmehr müssen alle privatrechtlichen Normen auch im Geiste der Grundrechte ausgelegt und angewandt werden. Diese Sentenz bedeutete eine massive Aufwertung der Grundrechte. Diese wurden aus der reinen Staatsausrichtung gelöst und auf die gesellschaftlichen Beziehungen ausgeweitet, Grundrechte waren damit nicht mehr nur reine Abwehrhaltung gegen den Staat - was diesem neben Unterlassungspflichten unter Umständen auch Handlungspflichten im Interesse der Freiheitssicherung aufbürdete ("Schutzpflicht") - und ihr Einfluss endete nicht mehr beim Gesetz, sondern erstreckte sich auch auf Rechtsauslegung und -anwendung. Damit waren Grundrechte auch auf individuelle Fälle anwendbar. Damit führte das Urteil, das sei hier am Rande angemerkt, auch zu einer erheblichen Steigerung der Machtposition des Bundesverfassungsgerichts, da sie dem Grundgesetz (GG) einen neuen Regelungsgehalt zubilligte, der von ihm selbst überwacht werden musste (insbesondere bei sog. "Grundrechtskollisionen").

Hintergrund

Hintergrund der Verfassungsbeschwerde des Hamburger Senatsdirektors Erich Lüth war ein von ihm über die Presse verbreiteter Aufruf, den unter der Regie von Veit Harlan entstandenen Film „Unsterbliche Geliebte“ zu boykottieren. Harlan war in der Nazizeit mit seinem antisemitischen Film Jud Süß bekannt geworden.

Vorausgegangen war dem Boykottaufruf eine Ansprache Lüths am 20. September 1950 anlässlich der Eröffnung der "Woche des deutschen Films", bei der er als Vorsitzender des Hamburger Presseklubs erklärte, dass der Verfasser des Films „Jud Süß“ am wenigsten geeignet sei, den unter dem Nationalsozialismus verwirkten moralischen Ruf des deutschen Films wiederherzustellen. Die Firma Domnick-Film-Produktion, die den umstrittenen Regisseur beschäftigte, forderte Lüth zu einer Klarstellung auf, was dieser nutzte, um in einem öffentlichen Brief die Vorwürfe auszuweiten. Er bezeichnete Harlan als „Nazifilm Regisseur Nr. 1", der durch seinen "Jud Süß"-Film einer der wichtigsten Exponenten der mörderischen Judenhetze der Nazis gewesen sei. Es sei aus allen diesen Gründen nicht nur das "Recht anständiger Deutscher", sondern sogar ihre Pflicht, sich im "Kampf gegen diesen unwürdigen Repräsentanten des deutschen Films über den Protest hinaus auch zum Boykott bereitzuhalten."

Die Domnick-Film-Produktion GmbH und die Herzog-Film GmbH (diese als Verleiherin des Films "Unsterbliche Geliebte" für das Bundesgebiet) erwirkten daraufhin beim Landgericht Hamburg eine einstweilige Verfügung gegen Lüth, durch die ihm verboten wurde, "die deutschen Theaterbesitzer und Filmverleiher aufzufordern, den Film nicht in ihr Programm aufzunehmen und das deutsche Publikum aufzufordern, diesen Film nicht zu besuchen. Das Landgericht sah in den Äußerungen Lüths eine sittenwidrige Aufforderung zum Boykott. Ihr Ziel sei es, ein Wiederauftreten Harlans "als Schöpfer repräsentativer Filme" zu verhindern. Harlan sei schließlich in dem wegen seiner Beteiligung an dem Film "Jud Süß" gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren rechtskräftig freigesprochen worden und unterliege aufgrund der Entscheidung im Entnazifizierungsverfahren in der Ausübung seines Berufes keinen Beschränkungen. Die persönliche Meinung Lüths über Harlan spiele hier keine Rolle. Er habe jedoch die Öffentlichkeit aufgefordert, durch ein bestimmtes Verhalten die Aufführung von Harlan-Filmen und damit das Wiederauftreten Harlans als Filmregisseur unmöglich zu machen. Dies sei eine unerlaubte Handlung nach §826 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) und daher durch eine Unterlassungsverfügung zu unterbinden.

Gegen diese Entscheidung wendete sich Lüth mit seiner Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht. Er machte geltend, in seinem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 5 Absatz 1 GG verletzt worden zu sein.

Die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das Privatrecht

Der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts ging zunächst der Frage nach, inwieweit Grundrechte auch Schutzrechte im Verhältnis von Bürger zu Bürger sein können. Während die Grundrechte im Grundsatz auf den Schutz des Einzelnen gegen den Staat ausgerichtet sind, ging es im vorliegenden Fall um das Privatrecht, nämlich um eine Unterlassungsverfügung (§826 BGB) von Privatpersonen (Filmproduzent und Filmverleiher), gegen die sich ein Privatmann (Lüth) wehrte. Damit war diese Frage der Kern des Verfahrens. Das BVG betonte hier, dass es das Grundgesetz als ein "Wertesystem" betrachte, das seinen Mittelpunkt in der sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit finde. Als ein solches "Wertsystem" müsse es für alle Bereiche des Rechts gelten. Daher beeinflusse es auch das bürgerliche Recht. Keine bürgerlichrechtliche Vorschrift dürfe in Widerspruch zu ihm stehen, jede müsse in seinem Geiste ausgelegt werden. Nach Artikel 1 Absatz 3 des Grundgesetzes sei neben der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt auch die Rechtsprechung an die Grundrechte gebunden. Dadurch entfalteten diese eine "mittelbare Drittwirkung" auf die Parteien in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten.

Wechselwirkung zwischen Freiheitsrecht und seinen Schranken

Ein weiteres Grundsatzproblem der Entscheidung war die Frage, wie sich die grundgesetzlich garantierte Meinungsäußerungsfreiheit (Artikel 5 Absatz 1 GG) zu den Schranken des Freiheitsrechts (Artikel 5 Absatz 2 GG) verhalte. Denn die Meinungsfreiheit ist beschränkt durch die Vorschriften der allgemeinen Gesetze, der gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und durch das Recht der persönlichen Ehre. Die "Sittenwidrige vorsätzliche Schädigung" (§826 BGB), eine Vorschrift der "allgemeinen Gesetze", konnte somit als Schranke für die Meinungsfreiheit betrachtet werden und wurde es auch. Der erste Senat des BVG ging einen anderen Weg. Er betonte, das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung sei als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt. Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung sei das Recht konstituierend, denn es ermögliche erst die ständige geistige Auseinandersetzung. Die Meinungsäußerungsfreiheit sei in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt. Deshalb sei es nicht richtig, die sachliche Reichweite des Artikel 5 Absatz 1 GG schon durch jedes einfache Gesetz ohne weiteres Hinterfragen einzuschränken. Die allgemeinen Gesetze müssten vielmehr in ihrer das Grundrecht beschränkenden Wirkung ihrerseits im Lichte der Bedeutung dieses Grundrechts gesehen und interpretiert werden. Der besondere Wertgehalt dieses Rechts, nämlich die grundsätzliche Vermutung für die Freiheit der Rede in allen Bereichen müsse gewahrt bleiben. Es finde daher eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die "allgemeinen Gesetze" zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.

Fallprüfung durch das Bundesverfassungsgericht

Ausgehend von dieser Festlegung prüfte das Bundesverfassungsgericht die Unterlassungsverfügung gegen Lüth im Lichte der geforderten "Wechselwirkung zwischen Grundrecht und allgemeinem Gesetz". Hierbei nahm es Lüths Motive in den Blick, also den verfolgten Zweck. Es sei zu prüfen, ob Lüth bei der Verfolgung seiner Ziele verhältnismäßig vorgegangen sei. In dem Zusammenhang stellte das BVG fest, dass die Äußerungen Lüths im Rahmen seiner allgemeinen politischen und kulturpolitischen Bestrebungen gesehen werden müssten. Er habe die Sorge geäußert, dass das Wiederauftreten Harlans - vor allem im Ausland - so gedeutet werden könne, als habe sich im deutschen Kulturleben gegenüber der Nazi-Zeit nichts geändert. Dem deutschen Ansehen habe nichts so geschadet wie die grausame Verfolgung der Juden durch den Nationalsozialismus. Es sei also von großer Wichtigkeit, dass sich die Erkenntnis durchsetze, das deutsche Volk habe sich von der nationalsozialistischen Geisteshaltung abgewandt und verurteile sie nicht aus politischen Opportunitätsgründen, sondern aus der durch eigene innere Umkehr gewonnenen Einsicht in ihre Verwerflichkeit. Lüth sei für seine Bestrebungen um Wiederherstellung eines wahren Friedens mit dem jüdischen Volke bekannt. Es sei begreiflich, dass er befürchtete, alle diese Bestrebungen könnten durch das Wiederauftreten Harlans gestört und durchkreuzt werden. Er habe davon ausgehen dürfen, dass man in der Öffentlichkeit gerade von ihm eine Äußerung dazu erwarte. Zudem hätten Lüth keinerlei Zwangsmittel zu Gebote gestanden, um seiner Aufforderung Nachdruck zu verleihen; er konnte nur an das Verantwortungsbewusstsein und die sittliche Haltung der von ihm Angesprochenen appellieren und musste es ihrer freien Willensentschließung überlassen, ob sie ihm folgen wollten.

Das Bundesverfassungsgericht kam zu dem Schluss, dass die vorinstanzliche Entscheidung diese Aspekte nicht berücksichtigt habe und gab daher Lüths Verfassungsbeschwerde statt.

Die während der mündlichen Verhandlung aufgeworfene Frage, nach der eigenständigen Beweiserhebung des Bundesverfassungsgerichts nach §26 BVerfGG wurde mangels Entscheidungserheblichkeit nicht beantwortet.