Die Bewegung des Religiösen Sozialismus entstand mit der erstarkenden Arbeiterbewegung in Mitteleuropa seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Besonders seit der Erfahrung des Ersten Weltkriegs gewann auch unter Christen und Juden die Überzeugung an Boden, dass dauerhafter Frieden entsprechend dem Gebot der Nächstenliebe nur verwirklicht werden kann, wenn das auf Egoismus, Konkurrenz und Ausbeutung gegründete kapitalistische System überwunden wird. Sie wollten vor allem die nationalistische, militaristische und demokratiefeindliche Mehrheit in den Kirchen verändern.
Die Verbindung von Christentum und Sozialismus geht auf die Anfänge des Christentums zurück. Schon die Urchristen übten eine Art kommunistische Gütergemeinschaft und Besitzverteilung (Apg. 2, 44f), die sie als Nachfolge Jesu zu Gunsten der Armen verstanden. Nachdem die Kirche zur alleinherrschenden Staatsreligion geworden war, gab es im Mittelalter immer wieder Anläufe zu Kirchenreformen, die zugleich eine Gesellschaftsveränderung zu Gunsten der Besitz- und Rechtlosen anstrebten und sich dabei auf biblische Tradition bezogen.
Doch erst im 19. Jahrhundert wuchs mit der Arbeiterbewegung eine neue soziale Kraft heran, die diese Gesellschaftsveränderung ihrerseits aktiv verfolgte, sich dabei aber weitgehend von Christentum und Kirche abwandte und ihre Ziele zunehmend wissenschaftlich und rational zu begründen versuchte. Eine erste Reaktion darauf war der Pietismus, der neben der persönlichen Glaubensentscheidung des Einzelnen auch die soziale Verantwortung der Gemeinschaft betonte und die Diakonie begründete. Manche Christen gingen weiter: Schon Wilhelm Weitling vertrat im 19. Jahrhundert einen utopischen Sozialismus aus christlichen Motiven, gegen den sich dann besonders Karl Marx abgrenzte. Dennoch konnten Christen auch Elemente der Marxschen Religionskritik und Gesellschaftsanalyse aufgreifen und als Anstoß zu stärkerem Engagement in Teile des christlich geprägten Bürgertums hineintragen.
Mit den sich verschärfenden sozialen Gegensätzen wuchs das Industrieproletariat in vielen europäischen Staaten. Zugleich entdeckte die historische Bibelforschung bestimmte Traditionen in der Bibel neu, besonders
- die Sozialkritik der jüdischen Propheten
- die Apokalyptik, also die radikal transzendente und weltverändernde Dimension der Reich Gottes-Verkündigung im "Alten" sowie
- die Bergpredigt Jesu im Neuen Testament, die sich an die Armen wendet und ihnen Gottes Gerechtigkeit auf Erden zusagt.
Nun lehrten einige deutschsprachige evangelische Theologen den Sozialismus als Folge oder Verwirklichung des Christentums. Als erster Vertreter und Gründer der religiös-sozialen Bewegung gilt gemeinhin Christoph Blumhardt, ein wortgewaltiger evangelischer Pfarrer in Württemberg aus der dortigen Tradition des Pietismus. In der Schweiz vertraten unabhängig von ihm Leonard Ragaz und Hermann Kutter einen teils eher politisch, teils eher christlich geprägten Sozialismus.
Prominentester Schüler aller drei Vorbilder wurde der Schweizer reformierte Theologe Karl Barth: Er brach mit seinen deutschen Lehrern, nachdem diese im August 1914 mit großer Mehrheit für den Krieg eingetreten waren, wurde 1917 Sozialdemokrat und begrüßte die Versuche Lenins, mit den "Zimmerwalder Konferenzen" eine neue Antikriegs-Internationale zu gründen. 1919 löste er mit seinem berühmten Kommentar zum Römerbrief eine theologische "Revolution" aus: Dabei trennte er Theologie und politische Ideologie streng voneinander, um gerade so ein neues positives Verhältnis von Kirche und Arbeiterbewegung anzubahnen. Eine anderen theologischen Ansatz vertrat Paul Tillich, der im Sozialismus eine zeitgeschichtliche Gestalt des "Kairos", der innergeschichtlichen Offenbarung Gottes fand.
Erste Gruppen verschiedener Christen und Juden mit ähnlichen politischen Zielen entstanden Ende 1919 in Berlin, Anfang 1920 in Köln und bald in vielen anderen Städten. Sie schlossen sich seit 1926 im Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands (BRSD) zusammen. Diesem Bund gehörten bis 1933 über 20.000 Mitglieder an, darunter eigene Untergruppen katholischer und jüdischer Sozialistinnen und Sozialisten. Von Anfang an warnten die Mitglieder des BRSD immer wieder vor der Gefahr durch Nationalismus und Antisemitismus.
Daher gehörten sie schon im Frühjahr 1933 zu den ersten von den Nazis Verfolgten. Als erste Pfarrer wurden die Religiösen Sozialisten Kleinschmidt und Francke verhaftet. Paul Tillich verlor als erster nichtjüdischer Professor seinen Lehrstuhl in Frankfurt und emigrierte in die USA. Unter diesen Bedingungen konnte der BRSD zur Zeit des Nationalsozialismus nicht offen weiterarbeiten, viele seiner Mitglieder schlossen sich unterschiedlichen Widerstandsgruppen an. Karl Barth blieb zunächst in Deutschland und unterstützte maßgeblich den Kampf der Bekennenden Kirche, musste aber nach dem verweigerten Beamteneid auf Adolf Hitler Deutschland ebenfalls verlassen und emigirierte 1937 in die Schweiz, von wo aus er weiter in das deutsche Geschehen einzugreifen versuchte.
Nach 1945 wurde der BRSD in den Westzonen neu gegründet. Doch im Kalten Krieg gelang es ihm nie, zur früheren Stärke zu finden: Religiöse Sozialisten blieben zwischen dem Antikommunismus des Westens und dem Stalinismus des Ostens eine verschwindende Minderheit. Erst durch die Studentenbewegung bekam der BRSD seit 1970 neuen Zuwachs und wuchs auf einige Hundert Mitglieder. Ende der 1980er Jahre gingen diese teilweise altersbedingt zurück; doch gelang es dem BRSD in den letzten Jahren, diesen Trend aufzuhalten und neue Mitglieder zu gewinnen. Heute gehören ihm Mitglieder verschiedener Linksparteien, aber auch parteilose Linke an, die sich in keiner Partei mehr aufgehoben fühlen. Der BRSD ist seinerseits Mitglied im Internationalen Bund Religiöser SozialistInnen (ILRS), in der Initiative Kirche von unten (IKvu) und im Attac-Netzwerk.
Die Basis der religiös-sozialen Bewegung ist jedoch weitaus größer, als ihre Organisationsversuche in Deutschland vermuten lassen. In der Ökumenischen Bewegung, in vielen traditionellen Freikirchen der Quäker, Methodisten, Mennoniten und Baptisten der USA, aber auch in den katholischen Orden wie den Franziskanern, vor allem aber den Basisgemeinden Südafrikas, Asiens und Lateinamerikas sowie zahllosen religiös geprägten Nichtregierungsorganisationen sind religiös-soziale Elemente wirksam. Diese verfolgen selten ein einheitliches sozialistisches Programm, bereiten aber oft politische Veränderungen vor und begleiten diese.
Bekannte Religiöse Sozialisten
- Karl Barth (zeitweise)
- Christoph Blumhardt
- Martin Buber
- Erwin Eckert
- Georg Fritze
- Emil Fuchs
- Helmut Gollwitzer
- Adolf Grimme
- Ernst von Harnack
- Aurel von Jüchen
- Harald Poelchau
- Leonhard Ragaz
- Dorothee Sölle
- Paul Tillich
Nicht alle diese Personen waren Mitglieder des BRSD, sie verstanden sich aber als religiöse Sozialistinnen und Sozialisten.
Literatur
- Ulrich Peter: Der Bund der Religiösen Sozialisten Deutschlands (BRSD). Versuch einer Geschichte im Überblick. In: Christ und Sozialist / Christin und Sozialistin. 1-2/2001. S. 6-23, ISSN 0945-828-X (auch online)
- Ulrich Peter: Der Bund der religiösen Sozialisten in Berlin von 1919 bis 1933. Peter Lang Verlag, Frankfurt/M. 1995, ISBN 3-631-48604-9, ISSN 0721-3409 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 23, Bd. 532)
- Ulrich Peter: Christuskreuz und Rote Fahne. Der Bund der religiösen Sozialisten in Westfalen und Lippe während der Weimarer Republik, Luther-Verlag, Bielefeld 2002, ISBN 3-7858-0445-8 (Beiträge zur westfälischen Kirchengeschichte, Bd. 24)
- Arnold Pfeiffer: Religiöse Sozialisten. Frankfurt/M. 1976