Geschichte des Antisemitismus bis 1945

Abneigung und/oder Feindschaft gegenüber den Juden
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Dieser Artikel befasst sich mit einer besonderen Form der Judenfeindlichkeit. Dort findet man eine Übersicht über andere Formen und verwandte Themen.


Antisemitismus bezeichnet eine Judenfeindlichkeit, die sich auf rassistische, nicht religiöse Vorurteile stützt, sich zu einer Ideologie formt und als politische Bewegung judenfeindliche Ziele verfolgt. Der Antisemitismus kam nach 1789 auf und wurde im Lauf des 19. Jahrhunderts öffentlich propagiert. Seinen Höhepunkt erlebte er in der Politik des nationalsozialistischen Deutschlands. Antisemitisches Gedankengut ist in den unterschiedlichsten Ausformungen bis heute wirksam.

Der Antisemitismus betreibt eine Diskriminierung und Verfolgung von Juden nicht wegen ihrer Religionszugehörigkeit, sondern wegen ihrer Abstammung. Das unterscheidet ihn vom Antijudaismus: Diese religiöse Form meint die christliche Judenfeindschaft, die etwa 70 n. Chr. begann. Sie herrschte im Mittelalter vor und trat nach der Aufklärung in Mitteleuropa zurück. Elemente des christlichen Antijudaismus spielten eine gewichtige Rolle bei der Genese des modernen Antisemitismus. Beide Phänomene beeinflußten sich gegenseitig und sind nur schwer voneinander zu trennen.

Im weiteren Sinne bezeichnet Antisemitismus seit dem Holocaust alle möglichen negativen Impulse gegen Juden. Man bezieht diesen Begriff auf ein breites Spektrum judenfeindlicher Tendenzen, die mit bestimmten typischen, stets wiederkehrenden Klischees und Vorurteilen auftreten:

Antisemiten schreiben allen Juden übergroßen Einfluss zu und unterstellen ihnen ein Machtstreben bis hin zur Weltherrschaft. Sie bestätigen und legitimieren das mit sozialen, ökonomischen, nationalen, politischen, ethnischen oder religiösen Argumenten, die sie stets verallgemeinern. Sie lasten kritisierbare Handlungen einzelner Juden oder jüdischer Organisationen "den" Juden an. Kritik oder bessere Information prallt an ihrer Vorurteilsstruktur ab und beweist für sie oft nur, dass man dem Einfluss "der" Juden erlegen ist.

Einige Theoretiker weisen auch auf die Bedeutung der Projektion für den Antisemitismus hin: Negative Begleitumstände komplexer gesellschaftlicher Vorgänge, wie etwa Kapitalismus, Kommunismus, Urbanisierung, Globalisierung etc. werden "den Juden" angelastet. Der Antisemitismus begleitet somit oft "antimoderne" Bewegungen: ein Vorgang, der sich bis zum gegenwärtigen Islamismus beobachten lässt.

Während andere Rassismen eher eine Minderwertigkeit der verachteten Gruppe behaupten, wird "den Juden" oft eher eine Gefährlichkeit und ein Streben nach Macht und Einfluss unterstellt. Diese hermetische Weltsicht unterscheidet Antisemismus, so dass Forscher ihn zunehmend als eigenständiges Phänomen betrachten. Die Mechanismen, durch die das antisemitische Judenbild und Judenhass immer wieder entstehen, gelten als „Paradigma (Beispiel) für Bildung von Vorurteilen und politische Instrumentalisierung daraus konstruierter Feindbilder“. (Wolfgang Benz)

Offener Antisemitismus wurde in der Bundesrepublik Deutschland nach den Erfahrungen des Dritten Reiches als Straftat eingestuft. Antisemitische Äußerungen können als Volksverhetzung gewertet werden und juristische Konsequenzen nach sich ziehen.

Die Entstehung des Begriffs

Das Wort "Semiten" stammt aus der schon historisch orientierten Theologie des späten 18. Jahrhunderts. Er geht zurück auf Sem, den Namen des ältesten der drei Söhne Noahs (Genesis 9, 18). Die sogenannte "Völkertafel" in der Bibel (Genesis 10) erklärt eine Reihe damals bekannter Stämme und Ethnien als Nachfahren dieser Söhne. Sie teilt sie nach Herkunft und geografischen, aber nicht nach sprachlichen und schon gar nicht nach rassischen Merkmalen ein.

Dennoch übernahm die Sprachwissenschaft den Begriff "Semiten" für eine bestimmte Sprachfamilie, die mit den biblischen Nachkommen Sems nicht identisch war. Kurz darauf übernahm auch die Völkerkunde den Begriff, obwohl die Völker "Sems" nach ihren Kriterien keine geschlossene Gruppe bildeten.

Zugleich entstand der Begriff Arier für eine andere Sprachfamilie und wurde in die allgemeine Terminologie der Geisteswissenschaften eingebürgert. „Semiten“ und „Arier“ wurden einander auch als Volksgruppen gegenüber gestellt.

Verschiedenartigkeit wurde bald verschieden gewertet. „Arier“ und „Semiten“ wurden anderen Volksgruppen gegenüber herausgehoben. Aber alle positiv verstandenen Werte wurden „Ariern“ zugeschrieben, „Semiten“ wurden dagegen nur negativ charakterisiert. „Arier“ galten als zur Herrschaft über die Welt berufene Bevölkerungsgruppe, "Semiten" als ihre zur Unterlegenheit bestimmten Konkurrenten.

Das Wort "antisemitisch" als Gegensatz zu "semitisch" tauchte in Deutschland erstmals um 1860 auf. Damals stellte der jüdische Gelehrte Moritz Steinschneider den französischen Historiker und Philologen Ernest Renan wegen seiner „antisemitischen Vorurteile“ zur Rede. Schon 1865 bürgerte sich der Begriff in ein Staatslexikon ein, um eine dem "typisch" Jüdischen entgegengesetzte Haltung zu kennzeichnen.

Die Wortschöpfung "Antisemitismus" wird meist dem politischen Autor Wilhelm Marr zugeschrieben. Er verwendete sie erstmals 1873 als Alternative zu „Judenhass“, um seine Ablehnung der Juden rassistisch zu begründen. Damit übernahm er indirekt die säkular-rassistischen Ideen von Arthur de Gobineau (s.u.).

Öffentlich eingebürgert wurde das Wort ab 1879. Marr kündete ausgerechnet in der „Allgemeine Zeitung des deutschen Judentums“ ein „antisemitisches Wochenblatt“ an und gründete ein Jahr darauf die „Antisemiten-Liga“: die erste deutsche Gruppe, die sich dem Kampf gegen eine angebliche jüdische Bedrohung verschrieb. Ihr erklärtes Ziel war die Vertreibung der Juden aus Deutschland.

Marrs Buch "Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum" aus demselben Jahr wurde sehr populär. Gruppen völkisch-rassischer Judengegner definierten Juden nun als "Semiten", um die "Judenfrage" als Rassenproblem zu propagieren. Bald wurde dieser Begriff immer häufiger unreflektiert für Juden verwendet und - auch von Juden selber - in andere Kreise und Sprachen übernommen.

Obwohl "Semiten" anfangs nicht nur Juden, sondern auch Araber mit verwandten Sprachen umfasste, wurde der Begriff „Antisemitismus“ ausschließlich zur Kennzeichnung einer strikt antijüdischen Grundhaltung verwendet. Er diente dazu, „die Juden“ als eine besondere „Rasse“ zu brandmarken, um sie ideologisch besser ins Visier nehmen zu können.

Vorgeschichte

Die jahrhundertlange kirchliche Unterdrückung und Verfolgung hatte das Judentum in ganz Europa isoliert, in Ghettos gezwängt und häufig an Pogrome ausgeliefert. Die Reformation hatte dies kaum geändert. Erst die Interessengegensätze der Fürsten differenzierten den Umgang mit Juden.

Naturwissenschaftlicher Fortschritt und Humanismus veränderten allmählich die Einstellung zur jüdischen Minderheit. Der religiös motivierte Antijudaismus verlor immer mehr Einfluss. Er erschien den Gebildeten nun als affektiver "Aberglaube" ohne wissenschaftliches Fundament. Das aufstrebende Bürgertum drängte zwar den Einfluss der Kirchen auf die Gesellschaft zurück, übernahm aber dennoch einen Großteil der tradierten antijüdischen Denk- und Verhaltensmuster.

Indem aufgeklärte Philosophen den Einfluss der Kirchen auf die Gesellschaft bekämpften, kritisierten einige nun auch deren Haltung zum Judentum als menschenunwürdiges Unrecht. John Toland (1670-1722), englischer Freidenker, sprach sich als Erster für eine "Emanzipation" der Juden aus.

Voltaire, Diderot u.a. dagegen hassten die Juden, weil sie das Christentum auf seinen jüdischen Ursprung zurückführten und von Grund auf bekämpften. Gotthold Ephraim Lessing, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant forderten zwar eine neue Toleranz auch Juden gegenüber, glaubten aber an die Aufhebung jedes religiösen Aberglaubens durch humanen Fortschritt und die pädagogische "Erziehung des Menschengeschlechts" durch Bildung. Sogar Kant, der mit Juden befreundet war und in seinem Sittengesetz biblische Grundgedanken vernünftig entfaltete, meinte 1798: "Die unter uns lebenden Palästinenser sind durch ihren Wuchergeist seit ihrem Exil in den nicht unbegründeten Ruf des Betruges... gekommen." Er nannte Juden "Vampyre der Gesellschaft". Von den wichtigen Theoretikern der Aufklärung war nur Montesquieu bereit, das Judentum in seiner Eigenart anzuerkennen.

1781 erließ Kaiser Joseph II. ein "Judenpatent", um die Juden zu "nützlichen Staatsbürgern" zu machen. 1791 folgte die französische Nationalversammlung. Diese rechtliche Gleichstellung galt aber nur den Juden als Bürgern, nicht als Angehörigen des Judentums. Auch das preußische Judenedikt von 1812 erkannte nur ihre Bürgerrechte, nicht ihre Religionsausübung als gleichberechtigt an.

Für die Pariser Revolutionäre von 1789 galt die Masse des Volkes, der „Dritte Stand“ im Unterschied zu Adel, Klerus und Königtum als Nation. Diese demokratische Sicht wurde außerhalb Frankreichs, besonders in Deutschland, bald von einer völkischen Definition überlagert: „Nation“ bezeichnete nicht den Rechtsstatus einer Mehrheit, sondern eine gemeinsame "Abstammung" aller. Der Begriff grenzte sich nicht gegen die eigenen oberen Stände, sondern gegen Napoleons Eroberungen und die französischen Besatzer ab.

Das richtete sich in vielen Ländern Europas dann gegen die Angehörigen aller als fremd oder feindselig empfundenen Völker. Nationalisten verbanden eine Reihe besonderer positiver und negativer Eigenschaften mit diesen und behaupteten damit einen angeblichen Nationalcharakter.

Da Napoleons Herrschaft die Lage der Juden unbestreitbar verbessert hatte, entstand nun ein neues Klischee: Die Juden galten als Urheber, Drahtzieher und Gewinner der französischen Revolution. Eng damit verbunden war das Stereotyp der jüdischen Weltverschwörung und der heimatlosen "Parasiten".

Diese Klischees vertraten besonders deutsche Intellektuelle, die dem Idealismus und der Romantik nahestanden: so z.B. Johann Gottfried Herder, Friedrich von Schlegel, Friedrich Schleiermacher, Johann Gottlieb Fichte. Letzterer äußerte in seinem später viel zitierten Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution (1793):

Juden Bürgerrecht zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen alle die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei. Im uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein ander Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern und sie alle dahin zu schicken.

Selbst der umfassend gebildete Georg Wilhelm Friedrich Hegel widersprach zwar der volkstümelnden Romantik, sah Juden aber auch nur als Verkörperung der Entzweiung und materiellen Knechtschaft im Gegensatz zur griechisch-platonischen Freiheit des Geistes. Von ihm stammt der Satz: "Der Löwe hat nicht Raum in einer Nuss, der unendliche Geist nicht Raum in dem Kerker einer Judenseele".

1811 brachte Clemens Brentano seine antijudaistische Haltung u.a. durch den Beitrag "Der Philister vor, in und nach der Geschichte" für die Berliner Christlich-deutsche Tischgesellschaft zum Ausdruck:

Die Juden, als von welchen noch viele Exemplare in persona vorrätig, die von jeder ihren zwölf Stämmen für die Kreuzigung des Herrrn anhängenden Schmach Zeugnis geben können, will ich gar nicht berühren, da jeder der sich ein Kabinett zu sammeln begierig, nicht weit nach ihnen zu botanisieren braucht; er kann diese von den ägyptischen Plagen übriggebliebenen Fliegen in seiner Kammer mit alten Kleidern, an seinem Teetische mit Theaterzetteln, und ästhetischem Geschwätz, auf der Börse mit Pfandbriefen und überall mit Ekel und Humanität und Aufklärung, Hasenpelzen und Weißfischen genugsam einfangen.

Auch der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi, der "Turnvater" Friedrich Ludwig Jahn und der Ethnologe Ernst Moritz Arndt waren bekennende Judenfeinde. Arndt schrieb z.B.:

...Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt und in diese Staaten hinein, und darum will ich nicht, daß sie auf eine ungebührliche Weise in Deutschland vermehrt werden. Ich will es aber auch deswegen nicht, weil sie ein durchaus fremdes Volk sind und weil ich den germanischen Stamm so sehr als möglich von fremdartigen Bestandteilen rein zu erhalten wünsche. [...] Ein gütiger und gerechter Herrscher fürchtet das Fremde und Entartete, welches durch unaufhörlichen Zufluß und Beimischung die reinen und herrlichen Keime seines edlen Volkes vergiften und verderben kann. Da nun aus allen Gegenden Europas die bedrängten Juden zu dem Mittelpunkt desselben, zu Deutschland, hinströmen und es mit ihrem Schmutz und ihrer Pest zu überschwemmen drohen, da diese verderbliche Überschwemmung vorzüglich von Osten her nämlich aus Polen droht, so ergeht das unwiderrufliche Gesetz, daß unter keinem Vorwande und mit keiner Ausnahme fremde Juden je in Deutschland aufgenommen werden dürfen, und wenn sie beweisen können, daß sie Millionenschätze bringen. (zitiert nach "Weltgeschichte im Aufriß", Bd. 2, Verlag Diesterweg, Frankfurt/Main 1978, S. 191)

Geschichte

Antijüdische Krawalle nach 1800

Die Reaktionen im Volk auf bürgerliche Emanzipation und intellektuelle Juden-Aversion ließen nicht lange auf sich warten. Besonders unter den Burschenschaften grassierten nationalistische und antijüdische Reflexe.

1817 hetzte Jakob Friedrich Fries, Philosophieprofessor in Jena, seine Studenten auf. Auf dem Wartburgfest kam es zu einer Bücherverbrennung. Jüdische oder als jüdisch geltende Schriften wurden mit dem Ruf "Wehe über die Juden!" ins Feuer geworfen.

1819 begann eine Serie von Krawallen in deutschen Großstädten, die sich bis Kopenhagen und Amsterdam ausbreiteten. Politisch und ökonomisch unzufriedene Handwerker, Bauern und Studenten gaben die Schuld an den Problemen der frühkapitalistischen Industrialisierung den Juden. Sie plünderten und zerstörten deren Häuser mit dem Kampfruf:

"Nun auf zur Rache! Unser Kampfgeschrei sei Hepp, Hepp, Hepp! Allen Juden Tod und Verderben, ihr müsst fliehen oder sterben!"

Hier kam auch die langanhaltende kirchliche Indoktrination zum Vorschein. Denn "Hep" stand für "Hierosolyma est perdita" (Latein: Jerusalem ist hinüber): eine Anspielung auf das Ende der Tempelstadt im Jahr 70. In den Flugblättern und Parolen der Krawallanten wurden Juden häufig als "Gottesmörder" angegriffen. Die Aufklärung hatte also nur eine schmale Schicht von Gebildeten erreicht und auch dort nur wenige zur Akzeptanz des Judentums gebracht.

Die Tradition antijüdischer Hetzschriften setzte sich auch im kirchenfernen Bürgertum fort: 1821 veröffentlichte Hartwig von Hundt-Radowsky den "Judenspiegel". Darin propagierte er u.a. den Verkauf jüdischer Kinder als Sklaven an die Engländer, um weitere jüdische Nachkommen zu verhindern, und schließlich unverhohlen die Vertilgung und Vertreibung aller Juden.

Diese eindeutigen Ziele waren also schon Jahrzehnte im öffentlichen Gespräch, bevor der "Rasse"-Begriff für das Judentum aufkam. Darum kann man Antisemitismus nicht mit Rassismus gleichsetzen. Nicht die Begründungen, sondern die - offenen oder heimlichen - Ziele machen einen Antisemiten aus.

Beeinflusst vom völkischen Nationalismus und der modernen Genetik, wandelte das Bürgertum seine antijüdischen Vorurteile ab etwa 1860 zum eigentlichen Antisemitismus.

1853 veröffentlichte Arthur de Gobineau den Aufsatz „Die Ungleichheit der Rassen“, der die Theorie des Rassismus begründete. Mit Berufung auf ihn wurden Semiten und Arier dann als biologische Abstammungseinheit („Rasse“) bezeichnet.

1858 erschien die Evolutionstheorie von Charles Darwin deutsch übersetzt ("Über die Entstehung der Arten"). Nun beriefen sich Antisemiten zunehmend auf pseudo-biologische Argumentationsketten, um ihren Rassismus zu untermauern und als Legitimation für ihren Judenhass zu benutzen. Sie definierten das Judentum nicht mehr als Religionsgemeinschaft, sondern als eigenständiges "Volk" mit eigener „Rasse“. Diesem wurden bestimmte negative Eigenschaften zugeordnet, so dass es als nicht-integrierbarer Fremdkörper in den europäischen Nationen erschien. Darwin selbst distanzierte sich 1880 davon.

Der rassistische Antisemitismus verschloss Juden jede Möglichkeit, sich durch Übertritt zum Christentum ihrer sozialen Umgebung anzupassen. Die freiwillige Taufe schützte sie früher einigermaßen vor weiterer Verfolgung. Bei Zwangstaufen jedoch behielten andere Christen Vorbehalte gegen sie. - Doch nun definierte man jeden als Juden, der von Juden - Vorfahren mit jüdischer Religion - abstammte: egal ob und wie lange er oder seine Vorfahren schon Christen waren. Damit war die Religionszugehörigkeit für Antisemiten nur noch indirekt wichtig: als pseudobiologisches Merkmal, das Judesein zum unentrinnbaren Schicksal machte.

Der Rassismus verschärfte auch sonst die allgemeine Fremdenfeindlichkeit: Er untermauerte die Ablehnung anderer Völker nach außen und ethnischer oder anderer Minderheiten nach innen. Er lieferte auch dafür pseudowissenschaftliche Gründe und ermöglichte, völkisch definierte "Fremde" rassistisch als "Artfremde" einzustufen. So wuchs parallel zum Antisemitismus in Deutschland der gegen Sinti und Roma gerichtete Antiziganismus oder der im Rahmen des Antislawismus gegen die Sorben gerichtete Antisorbismus.

Politisierung und Verbreitung im Kaiserreich

In den Umbrüchen im Reich von 1871 sollte Patriotismus die zerrissene bürgerlich-liberale Gesellschaft zusammenhalten: Die Widersprüche bei ihrer Herausbildung wurden den Juden angelastet. Ihnen wurde als "Semiten" oft ein Mangel an „wahrem Deutschtum“ unterstellt.

Auf den Börsenkrach 1870 folgte 1873 ein Gründerkrach: Diese Pleitewelle lasteten abstiegsbedrohte Kaufleute, Bauern und Bürger erneut den Juden an. Sie setzten deren "Materialismus" mit den bürgerlichen Ideen der französischen Revolution und dem Kapitalismus gleich. Dabei unterstützte sie eine vermehrte publizistische Propaganda der Antisemiten-Liga. So gewann diese im Kontext der ökonomischen Krise an Zulauf.

Ab 1881 erschienen regelmäßig "Zwanglose Antisemitische Hefte", und 1885 tauchte erstmals der Gegenbegriff des "Semitismus" auf. Diesen zu bekämpfen wurde nun zum Ausdruck für eine fundamentale Ablehnung aller bürgerlich-liberalen Prinzipien und Erscheinungsformen. Wer "national" war, war damit gegen Juden und zugleich gegen alles "Moderne": Aufklärung, Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Kulturaustausch, individuelles Glücksstreben.

Die "Antisemiten-Petition" von 1880/81, die Marrs Gruppe veröffentlichte, wurde bereits von 250.000 Bürgern unterzeichnet. Sie enthielt antisemitische Standardforderungen z.B. nach Ausschluss der Juden von öffentlichen Ämtern, und half, das Schlagwort "Antisemitismus" im ganzen Deutschen Reich zu verbreiten. Dieser wurde wie sein Gegenbegriff zum Sammelbegriff für alle Arten und Ausprägungen judenfeindlicher politischer Haltungen und Handlungen.

Auf diesem Hintergrund kam es zum "Berliner Antisemitismusstreit". Zu dessen Protagonisten gehörte der konservative, preußische Historiker Heinrich von Treitschke. Er prägte den verhängnisvollen, später von den Nationalsozialisten übernommenen Satz: "Die Juden sind unser Unglück." Ihm trat vor allem der Historiker Theodor Mommsen entgegen, der sich scharf gegen die allgemeine Judenfeindschaft wandte.

Bis 1890 erschienen im Kaiserreich an die 500 Schriften zur „Judenfrage“. Ab 1890 wurde der Begriff der „Rasse“ immer stärker zur einheitsstiftenden Idee: So forderte z.B. Paul de Lagarde die Einheit von „Rasse und Volk“, natürlich unter Ausschluss des Judentums.

1889 gründete der ehemalige Offizier Max Liebermann von Sonnenberg die antisemitische "Deutschsoziale Partei". 1890 kam die "Antisemitische Volkspartei" dazu. Deren Gründer Otto Böckel ließ sich als erster Reichstags-Abgeordneter als "Antisemit" eintragen. 1914 entstand aus diesen Parteien die "Deutschvölkische Partei".

Sie verhöhnten liberale Gleichstellungsparteien als „Judenschutztruppe“ und errangen bei den Reichstagswahlen 1890 knapp 3% der Stimmen (16 Mandate). Obwohl ihr Anteil danach rückläufig war, blieben viele Vereine und Verbände fortan antisemitisch eingestellt, u.a. Landwirte, Angestellte, Studenten, Burschenschaften, der Alldeutsche Verband, der Reichskammerbund, das angesehene Offizierskorps.

1899 forderte der Brite Houston Stewart Chamberlain als Erster die „Reinheit der arischen Rasse“ gegen „Vermischung“. Das Hamburger Programm der Vereinigten Antisemitenparteien forderte dann die „völlige Absonderung“ und zuletzt die unabwendbare „Vernichtung“ der Juden als „Weltfrage“ des 20. Jahrhunderts.

Jüdische Reaktionen

1879 erklärte der jüdische Historiker Harry Breßlau, dass "Juden" und "Semiten" nicht identisch seien. Er werde das Wort "Jude" weiterhin verwenden, aber nur für die Herkunft, nicht die Religionszugehörigkeit von Juden: „Um jedes Missverständnis auszuschließen, bemerke ich, dass ich diejenigen im Sinne dieser Erörterungen als Juden betrachte, deren beide Eltern als Juden geboren sind.“ Damit reduzierte er Judesein seinerseits auf die Abstammung und trennte diese von der Religionszugehörigkeit.

Diese Säkularisierung der Begriffe begünstigte die Gleichsetzung von Juden mit einer angeblichen "Rasse" von "Semiten" nur umso mehr. 1895 definierte der Brockhaus „Semitismus“ als „Bezeichnung für das ausschließlich vom ethnologischen Standpunkt aus betrachtete Judentum“.

Der jüdische Arzt Leon Pinsker versuchte, das Umsichgreifen des Rassenwahns aufzuhalten. Er sprach in seinem Aufsatz „Autoemanzipation“ 1882 von „Judäophobie“ wie von einer Geisteskrankheit. Ihm war das Erscheinungsbild vertraut, wonach sich gegenseitig verstärkende „Gewissheiten“ eine mentale Störung anzeigten.

Auf die vermehrte Propaganda und Parteienbildung der Antisemiten reagierten religiöse Juden und judenfreundliche Christen 1891 mit der Gegengründung des "Vereins zur Abwehr des Antisemitismus". 1893 bildeten Kreise des liberalen Bürgertums in Berlin den "Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens". Doch diese hatten auf die generelle Entwicklung kaum Einfluss und suggerierten ihren Mitgliedern nur, doch irgendwie zur bürgerlichen Gesellschaft zu hören.

Unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre in Frankreich schrieb Theodor Herzl 1896 sein Buch "Der Judenstaat", das den Zionismus begründete. Ein Jahr darauf berief er den 1. Zionistenkongress nach Basel ein.

Doch die meisten Juden rangen weiterhin um Anerkennung und Gleichberechtigung im Kaiserreich. Folglich meldeten sich viele freiwillig zur Front, als der 1. Weltkrieg ausbrach. Sie wurden oft für besondere Tapferkeit ausgezeichnet und glaubten, dass ihre Eisernen Kreuze sie vor weiteren Verfolgungen schützen könnten.

Vom Antisemitismus zum Nationalsozialismus

 
Antisemitismus, 1. April 1933

1880 belegte der Begriff "Antisemitismus" vor allem eine parteipolitische Zielsetzung gegen einen vermeintlich übergroßen jüdischen Einfluss.

Nach Darwins Tod 1882 wurden dessen Theorien jedoch immer stärker rassistisch umgedeutet. Man redete nicht mehr von negativen sozialen, sondern verderblichen rassischen Einflüssen: von der "Zersetzungskraft jüdischen Blutes". Man argumentierte nun also gegen die "Vermischung" der "Rassen" und legte damit gedanklich eine "Radikallösung" nahe. Nun wurden auch „Halb“- oder „Viertel“-Juden zum Judentum gezählt. Diese Zuspitzung bereitete dem Nationalsozialismus den Boden.

Der Erste Weltkrieg überlagerte die innenpolitischen Fronten und band alle Deutschen zeitweise in vermeintlich patriotische Pflichten ein. Doch er verschärfte die sozialökonomische Lage, so dass die antisemitische Ideologie neuen Aufschwung bekam. Nach seinem Sturz lastete Kaiser Wilhelm II. die Kriegsniederlage den "jüdischen" Führern der Arbeiterbewegung an und forderte die "Ausrottung" der Juden.

Ein österreichischer Weltkriegsgefreiter hatte zugehört und setzte dies 20 Jahre später in die Tat um. Adolf Hitler übernahm den Antisemitismus nach eigener Aussage vom Wiener Bürgermeister und Publizisten Karl Lueger. Sein "Schlüsselerlebnis" war die Novemberrevolution 1918 , die er wie die meisten Nationalisten "den Juden" anlastete und als "Dolchstoß" von "Verrätern" empfand.

Sein Putschversuch in München war eine explizite Reaktion auf den Versuch der Räterepublik dort. 1924 schrieb er in der Festungshaft seine Autobiografie "Mein Kampf": Darin bekannte er sich offen zum Programm des Antisemitismus und kündete seine Strategie an, es politisch und militärisch durchzusetzen, um die Vernichtung aller Juden zu erreichen.

Dieses Ziel verfolgten die Nationalsozialisten unter ihrem Regime mit nie zuvor gekannter Schärfe und Konsequenz: Ihre Maßnahmen führten über die Nürnberger Gesetze, die "Reichskristallnacht", Berufsverbote, Enteignung, Ghettoisierung bis zur Planung und Durchführung der so genannten "Endlösung der Judenfrage" (Holocaust). Diese industriell organisierte Vernichtung des europäischen Judentums - im jüdischen Selbstverständnis "Shoa" (Brandopfer) genannt - forderte über 6 Millionen Opfer.

Zwar wandten sich die Nationalsozialisten im Mai 1943 per Dekret offiziell vom Begriff "Antisemitismus" ab. Der Nazi-Ideologe Rosenberg gab eine neue Sprachregelung vor, um den neugewonnenen arabischen Verbündeten gegenüber nicht den Eindruck zu erwecken, man "werfe Araber mit den Juden in einen Topf".

Doch das spielte keine Rolle mehr für die geschaffenen Tatsachen: Der Judenmord ging unvermindert weiter und wurde sogar noch intensiviert, als die Kriegsniederlage feststand. Die nationalsozialistische Ideologie und Politik zielte von Anfang bis Ende auf die völlige Ausrottung des Judentums. Damit war eine rassistische Abwertung "semitischer" und "slawischer" Völker verbunden, auch wenn diese nicht primäres Objekt der Vernichtungsstrategie waren. Das deutsche Nazi-Regime steht daher für die unerreicht mörderische Umsetzung einer von Beginn an menschenverachtenden Ideologie.

Angesichts dieser historischen Entwicklung besteht keine Möglichkeit mehr, Antisemitismus zu verharmlosen. Jede seiner Spielarten muss als konstituierendes Element des Nationalsozialismus betrachtet und daher unbedingt bekämpft werden.

Gegenwart (ausführlich in: Judenfeindlichkeit heute)

Seit 1945 traten rassistische Begründungen für eine prinzipielle Ablehnung der Juden zurück, Antisemitismus als sich selbst tragende pseudowissenschaftliche Theorie tritt nur noch vereinzelt hervor.

Dennoch gibt es auch heute Denk- und Handlungsmuster, die man als "antisemitisch" einstufen muss: sei es indirekt durch die Verminderung geschichtlicher Bewusstseinsbildung oder die Verbreitung von Vorurteilsstrukturen oder direkt in Form von Gewaltakten gegen Juden und jüdische Einrichtungen oder in Versuchen der Geschichtsklitterung.

  • rechtsextreme Parteien, in deren gewaltbereitem Umfeld (Neonazis) Antisemitismus zum "guten Ton" gehört, drängen zurück auf die landes- und bundespolitische Ebene und sind in mehreren Landesparlamenten vertreten.
  • Der sekundäre Antisemitismus unterstellt "den Juden" bzw. jüdischen Verbänden (Zentralrat, Jewish Claims Conference) ein Interesse, sich am Holocaust bereichern zu wollen, etwa durch Entschädigungsforderungen. Auch wirft er jüdischen Wissenschaftlern in diesem Zusammenhang vor, die deutsche Schuld verlängern zu wollen. Der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex brachte dieses Phänomen so auf den Punkt: Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen. Nach einer Forsa-Umfrage (2003) möchten 61% aller Deutschen heute nicht mehr an die damaligen Verbrechen erinnert werden (sog. "Schluss-Strich-Debatte").
  • der anti-israelische Islamismus gewinnt auch in Europa an Boden und entwickelt sich zur realen Gefahr für hier lebende Juden.

All diese Tendenzen werfen die Frage auf, ob die "Berliner Republik" die mit dem Verblassen der Erinnerung an den Judenmord einhergehende Neubelebung antisemitischer Strömungen in der Gesellschaft und die Ausbreitung neuer Aggressionen gegen Juden hinzunehmen bereit ist oder nicht.

(siehe Hajo Funke: "Gefahr erkannt - Gefahr gebannt?")

Literatur

  • Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung, in: Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947.
  • Bein, Alex: Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems, 2 Bände, Stuttgart 1980.
  • Wolfgang Benz /Angelika Königseder (Hrsg.), Judenfeindschaft als Paradigma: Studien zur Vorurteilsforschung, Berlin 2002.
  • Bergmann, Werner: Geschichte des Antisemitismus, München 2002.
  • Bronner, Eric Stephen: Ein Gerücht über die Juden: die >>Protokolle der Weisen von Zion<<, Berlin 1999.
  • Walter Boehlich (Hrsg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt a. M. 1965.
  • Detlev Claussen: Grenzen der Aufklärung. Zur gesellschaftlichen Geschichte des modernen Antisemitismus, Frankfurt a.M. 1987.
  • Detlev Claussen (Hrsg.), Vom Judenhaß zum Antisemitismus. Materialien einer verleugneten Geschichte, Darmstadt 1988.
  • Greive, Hermann: Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland, Darmstadt 1983.
  • Hitzig,Ferdinand: Art. Semitische Völker und semitisches Recht, Bluntschli / Brater, Band. 9 (1865.
  • Kampe, Norbert: Studenten und "Judenfrage" im Deutschen Kaiserreich. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1988 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 76).
  • Ley,Michael: Kleine Geschichte des Antisemitismus, München 2003.
  • Nipperdey, Thomas / Rürup, Reinhard: Antisemitismus, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band 1, Stuttgart 1972.
  • Pulzer, Peter G. J.: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867-1914,Gütersloh 1966.
  • Weil,Gustav: Art. Semitische Völker, Rotteck/Welcker, 3. Aufl., Band. 13 (1865).
  • Moishe Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus - Ein theoretischer Versuch. In: Diner, Dan (Hrsg.): Zivilisationsbruch : Denken nach Auschwitz. Frankfurt am Main, 1988, S.242-254.
  • Abraham Leon: Die jüdische Frage. Eine marxistische Darstellung. Essen, 1995
  • Jean Paul Sartre: Überlegungen zur Judenfrage (1944). Reinbek bei Hamburg, 1994.
  • Klaus Hödl: Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle. Wien, 1997.
  • Volkov, Shulamit: Antisemitismus als kultureller Code, Verlag C. H. Beck, München 2000 (zweite Auflage)
  • Zumbini, Massimo Ferrari: Die Wurzeln des Bösen, Frankfurt a. M. 2003
  • adorno und horkheimer - Elemente des Antisemitismus

Nach 1945

  • Joachim Perels: Antisemitismus in der Justiz nach 1945?. In: "Beseitigung des jüdischen Einflusses ..." / Fritz-Bauer-Institut (Hg.) - Frankfurt [u.a.]. - S. 241 - 252. - (Jahrbuch ... zur Geschichte und Wirkung des Holocaust ; 1998/99
  • S. Jäger/M. Jäger: Medienbild Israel. Zwischen Solidarität und Antisemitismus. LIT Verlag, Münster 2003.
  • Tobias Jaecker: Antisemitische Verschwörungstheorien nach dem 11. September. Neue Varianten eines alten Deutungsmusters. LIT Verlag, Münster 2004.

Siehe auch

  • www.dhm.de/ Antisemitismus im Kaiserreich - deutsches historisches Museum
  • www.memri.org The Middle East Media Research Institute: Antisemitismus in arabischen Medien heute
  • [1] Die Wurzel des Antisemitismus

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