Judenboykott

Boykott jüdischer Einrichtungen während der NS-Zeit
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Als „Judenboykott“ bezeichneten die Nationalsozialisten den Boykott jüdischer Geschäfte, Warenhäuser, Banken, Arzt-, Rechtsanwalts- und Notarspraxen, den das NS-Regime am 1. April 1933 in ganz Deutschland durchführen ließ. Damit nahm die Regierung die seit dem 25-Punkte-Programm der NSDAP von 1920 geplante Verdrängung der deutschen Juden aus dem Wirtschaftsleben erstmals durch eine reichsweite, gezielt nur gegen sie gerichtete Maßnahme in Angriff.

Vorgeschichte

Kaiserzeit und Weimarer Zeit

Boykotte jüdischer Unternehmen und Geschäfte waren schon seit etwa 1890 ein Kampfmittel der Antisemiten. Der deutsch-jüdische Schriftsteller Arnold Zweig etwa berichtet von einem Erlass des preußischen Kriegsministeriums, der den Festungskommandanten Einkäufe bei jüdischen Kaufleuten untersagte, so dass sein Vater Adolf Zweig sein Sattler-Geschäft in Glogau (Glogów) 1897 aufgeben und nach Kattowitz umziehen musste.

Gewalttaten von SA-Trupps auf Juden, ihre Geschäfte, Wohnungen und Einrichtungen kamen in der Weimarer Republik seit 1925 immer häufiger vor und führten teilweise schon zu einem Rückzug von jüdischen Gewerbebetrieben aus manchen Städten. Auch jüdische Freiberufler, Ärzte und Anwälte, wurden bedroht. Boykotte richteten sich besonders seit der Weltwirtschaftskrise gezielt gegen erfolgreiche mittelständische Warenhäuser in jüdischem Besitz, deren Konkurrenz man fürchtete und ausschalten wollte: so z.B. in Essen, wo der Gauleiter Josef Terboven und seine „National-Zeitung“ seit 1929 zum Boykott jüdischer Geschäfte aufrief.

Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens versuchte solche Boykotte als „Geschäftskrieg“ juristisch zu bekämpfen. Sein Anwalt Hans Lazarus argumentierte in einem solchen Verfahren 1931:[1]

Im Wirtschaftskampf ist der Boykott eine erlaubte Waffe, soweit seine Zielsetzung oder seine Mittel nicht gegen die guten Sitten verstoßen. ... Gemeingut der Rechtsprechung ist es, dass der Boykott nicht die Vernichtung des Gegners bezwecken darf. Letzteres jedoch ist das offen eingestandene Ziel des völkischen Boykotts gegen die Juden. Die Juden werden wegen einer außerhalb des Wirtschaftslebens liegenden Tatsache verfolgt und mit Boykott bedroht. Und diese Tatsache können die Juden niemals ändern.

Judenverfolgung ab 1933

Unmittelbar nach Adolf Hitlers Ernennung zum deutschen Reichskanzler am 30. Januar 1933 begannen neue Angriffe auf Juden. Teile der NSDAP - darunter die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation (NSBO), der Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand und SA-Abteilungen unter Otto Wagener - agitierten nun verstärkt gegen das „Börsenkapital”, über das sich Unternehmer bei der neuen Regierung beschwert hätten. Ende Februar 1933 kam es zu ersten antisemitischen Ausschreitungen von SA-Trupps seit der Machtergreifung: Jüdische Geschäfte wurden geplündert, ihre Inhaber misshandelt, einige verschleppt und totgeschlagen.

Nach den letzten Reichstagswahlen vom 5. März, bei denen die NSDAP die absolute Mehrheit verfehlte, nahmen spontane und unorganisierte Übergriffe auf Juden zu. Im Verlauf des März wurden jüdische Geschäfte, Arzt- und Anwaltspraxen in einigen deutschen Großstädten - darunter Berlin, München, Mannheim - zwangsweise geschlossen, ihre Inhaber zusammengeschlagen und vertrieben, teilweise beraubt und des Landes verwiesen. In Magdeburg wurden am 9. März verschiedene jüdische Geschäfte besetzt, das Kaufhaus EPA terrorisiert und die Gäste des Hotels „Amsterdam” mit Messern und Stühlen angegriffen. Am 12. März wurden die Hamburger Fillialen von Hermann Tietz, Karstadt, EPA und Woolworth von Naziposten zeitweise boykottiert.[2] In Breslau und weiteren Städten wurden die Gerichte gestürmt, jüdische Richter und Anwälte bedroht, um die Justiz, wie es hieß, vom „System jüdischer Rechtsverdreher zu säubern“.[3] In Straubing wurden einige Juden entführt und ermordet. In Göttingen wurden einige jüdische Läden und die örtliche Synagoge angegriffen und beschädigt. Diese Taten lastete Innenminister Wilhelm Frick am 31. März in einem Telegramm an alle Polizeidienststellen angeblichen kommunistischen Provokateuren an, die sich in SA-Uniformen verkleidet hätten.

Reaktionen im Ausland

In der britischen und US-amerikanischen Presse wurden die Gewaltaktionen der Nationalsozialisten frühzeitig aufmerksam registriert. Besonders gegen antijüdische Maßnahmen wurden Proteste laut.

Jüdische Organisationen in den USA, Großbritannien und Palästina rechneten seit Mitte März mit den im „Stürmer“ angedrohten Boykottmaßnahmen der Nationalsozialisten und berieten Gegenmaßnahmen. Dabei wurden auch Boykotte gegen deutsche Wirtschaftsunternehmen öffentlich diskutiert, aber nicht beschlossen. Zwar trug ein Artikel der britischen Boulevardzeitung Daily Express am 24. März 1933 die plakative und irreführende Überschrift Judea declares war on Germany („Judäa erklärt Deutschland den Krieg“), berichtete aber nur über die Beratung einiger Londoner Kaufleute über einen eventuellen Boykott gegen deutsche Waren.[4]

Am 27. März wies die Organisation britischer Juden den Plan ausdrücklich zurück.[5] Man wollte eine Konfrontation mit dem NS-Regime möglichst vermeiden, um deutsche Juden nicht der Vergeltung seitens der Nationalsozialisten auszusetzen. Auch die jüdische Gemeinschaft in Palästina erklärte in einem Telegramm an die Reichskanzlei, dass keine jüdische Organisation in Palästina einen Handelsboykott beabsichtige noch dazu autorisiert sei.

Hermann Göring sandte Mitte März einige namhafte Vertreter der deutschen Juden nach London, wo sie gegen geplante antideutsche Initiativen protestieren sollten. Zudem telegrafierten Kurt Blumenfeld, Präsident der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, und Julius Brodnitz, Präsident des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, am 26. März an das American Jewish Comitee in New York City: Man protestiere gegen antideutsche Demonstrationen und Rundfunksendungen und verlange energische Bemühungen, solche Aktionen zu unterbinden. Damit erhofften sie sich, die Nationalsozialisten zu beschwichtigen und von ihren Plänen abzubringen.

Die meisten jüdischen Organisationen in den USA waren gegen Massendemonstrationen und Wirtschaftssanktionen gegen Deutschland. Sie wollten die US-Regierung damit nicht in Zugzwang bringen. Doch der American Jewish Congress entschied sich unter dem Druck der Jewish War Veterans für landesweite Proteste, die am 27. März in mehreren Großstädten der USA stattfanden. Auch Kirchen- und Gewerkschaftsführer beteiligten sich daran. Auch ohne einen förmlichen Boykottaufruf verbreitete sich eine Kaufverweigerung für deutsche Produkte in der amerikanischen Öffentlichkeit.

Der Boykott

Planung

Seit Mitte März plante das NS-Regime, die Gewaltbereitschaft der SA in staatliche Bahnen zu lenken und ihr ein Betätigungsfeld zur Ausgrenzung und Vertreibung von Juden zu geben. Hitler erlaubte dem fanatischen fränkischen Gauleiter und Herausgeber des Stürmer, Julius Streicher, den Judenboykott ideologisch mit antisemitischen Hetzartikeln vorzubereiten. Dieser gründete ein „Zentralkomitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze“.

Am 24. März wurde die Kritik ausländischer Medien im Kabinett ausführlich erörtert und zum Vorwand für den geplanten Boykott genommen. Dessen Datum und weitere Details beschloss Hitler bei einem Treffen von NS-Führern auf seinem Berghof in Obersalzberg bei Berchtesgaden am 26. März. Als seine Beweggründe zitierte Joseph Goebbels in seinem Tagebuch:[6]

Wir werden gegen die Auslandshetze nur ankommen, wenn wir ihre Urheber oder doch wenigstens Nutznießer, nämlich die in Deutschland lebenden Juden, die bisher unbehelligt blieben, zu packen bekommen. Wir müssen also zu einem groß angelegten Boykott aller jüdischen Geschäfte in Deutschland schreiten.

Binnen vier Tagen organisierte Goebbels mit seinem Referentenstab die Durchführung. Er formulierte den Boykottaufruf, der am 29. März im Völkischen Beobachters Nr. 88 und der übrigen staatlich gelenkten Presse erschien: Mit dem Boykott jüdischer Geschäfte sollten „sich die ausländischen Juden eines Besseren besinnen, wenn es ihren Rassegenossen in Deutschland an den Kragen geht.“[7] „Im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung” werde der Verkauf jüdischer Waren am 1. April ganz verboten. [8] Dies sei eine Antwort auf vorgebliche jüdische „Weltgreuelhetze“ gegen das „neue Deutschland”. Er hielt in seinem Tagebuch Bedenken in der Partei fest, die er überging:[9]

Viele lassen die Köpfe hängen und sehen Gespenster. Sie meinen, der Boykott werde zum Krieg führen. [...] Wir halten in kleinem Kreise eine letzte Besprechung ab und beschließen, daß der Boykott morgen in aller Schärfe beginnen soll.

Die Boykottdauer blieb offen. Wegen der unbefristeten Ankündigung kaufte die Bevölkerung in den letzten Märztagen in Städten wie München umso mehr in Geschäften ein, die für den Boykott vorgesehen waren.

Am selben Tag informierte Hitler das Kabinett über den Plan: Er rechtfertigte die SA-Gewalt als „Abwehraktion“ gegen Gewalt aus dem Volk heraus. Er selbst habe den organisierten Boykott als Alternative dazu gefordert, um gefährliche Unruhe zu vermeiden. Dies stieß zwar auf Vorbehalte des Koalitionspartners DNVP; doch da der Geschäftsboykott mit konservativen und deutschnationalen Parteizielen übereinstimmte, erhob keiner der Minister Einspruch. Nur Reichspräsident Paul von Hindenburg versuchte vorübergehend, Hitler zur Rücknahme des Plans zu bewegen.

Am 31. März stellte dieser der britischen und US-amerikanischen Regierung ein Ultimatum, sich gegen antideutsche Proteste in ihren Ländern zu stellen. Falls das Ausland seine „Greuelhetze“ nicht einstelle, werde der Boykott am Folgetag beginnen und nach einer Wartefrist von drei Tagen am 4. April fortgesetzt werden. Vor einer Massenversammlung der NSDAP verkündete auch Goebbels dieses Vorgehen am Abend. So wurde die Fiktion einer „Verteidigung“ gegen das „internationale Finanzjudentum“ aufrecht erhalten und zugleich zur Erpressung des Auslands eingesetzt.

Tatsächlich erklärten Großbritannien und die USA sich am selben Abend bereit, die geforderte Erklärung abzugeben. Doch Konstantin Freiherr von Neurath gab bekannt, dass Hitlers Entscheidung feststehe: Der Judenboykott werde am 1. April stattfinden.[10]

Durchführung

 
Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933

Am 1. April 1933 um 10 Uhr - an einigen Orten schon am Abend vorher - standen überall in deutschen Städten uniformierte, teils auch bewaffnete SA-, HJ- und Stahlhelm-Posten vor jüdischen Geschäften, Arzt- und Anwaltspraxen und hinderten etwaige Kunden den ganzen Tag lang daran, diese zu betreten. Schilder und Plakate forderten: Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei(m) Juden! Diese Parole verbreiteten andere Uniformierte derselben Gruppen auch mit Sprechchören und über Lautsprecherwagen in den Straßen.

Doch das Regime hatte übersehen, dass dieser Tag auf einen Samstag und damit auf den jüdischen Sabbat fiel, an dem gläubige Juden möglichst nicht arbeiten. Daher blieben viele jüdische Geschäfte ohnehin geschlossen oder schlossen früh. So blockierten die SA-Trupps oft verriegelte Räume und Schaufenster. In unbelebten Seitenstraßen und ländlichen Gegenden wurden diese - wie schon in den Wochen zuvor - oft zertrümmert, die Auslagen geplündert und die Inhaber misshandelt. Die Übergriffe betrafen trotz offiziellen Verbots auch Geschäfte ausländischer Juden, besonders osteuropäischer Herkunft. Die Justizminister Preußens und Bayerns hatten jüdische Juristen im Staatsdienst vielfach am Vortag „beurlaubt“, um sie vor erwarteten Übergriffen zu schützen. In einigen Städten brachen bewaffnete SA-Trupps in Gerichtsgebäude ein und vertrieben noch anwesende jüdische Personen, manchmal auch irrtümlich solche, die für sie „jüdisch“ aussahen.[11]

Es bildeten sich vielerorts schweigende Menschenmengen auf den Straßen, die das Geschehen passiv beobachteten. Entgegen den Erwartungen der Machthaber zeigten sie selten Feindseligkeit gegen die boykottierten Geschäftsinhaber. Ein Beispiel hier für sind die Erinnerungen eines Zeitzeugen an den 1. April 1933:

"Durch die Menge der Zuschauer drängten wir uns nach vorn. Einige sehen uns stirnrunzelnd an, andere gelassen oder verstört. Aber es sind auch manche dabei, die grinsen, als bereite ihnen das Schauspiel Vergnügen. [...] Hochgeschossene Jungen, ein gutes Stück größer als ich, rufen die Parolen aus, ältere Leute in muffigen, abgetragenen Kleidern murmeln zustimmend oder kopfschüttelnd." [12]

Dies hing mit der innerhalb weniger Tage improvisierten Durchführung zusammen. Welche Geschäfte als „jüdisch“ gelten sollten - die mit jüdischen Namen, Inhabern und/oder größeren jüdischen Kapitalanteilen? -, blieb vielfach unklar. Auch die möglichen Folgen von Geschäftsschädigungen für „arische“ Mitinhaber und Angestellte und für die deutsche Wirtschaft allgemein trugen dazu bei, dass die deutsche Bevölkerung den Boykott kaum aktiv unterstützte, bisweilen Unmut darüber äußerte und in manchen Orten ignorierte. Auch deshalb wurde die Boykottaktion nach einem Tag abgebrochen und nicht wie geplant nach einer Dreitagespause fortgesetzt.

Folgen und Reaktionen

Direkt und indirekt Betroffene

Die Aktion traf potentiell etwa 60 Prozent aller deutschen Juden, die im Bereich Handel und Verkehr, weit überwiegend im Wareneinzelhandel, tätig waren. Im Ergebnis schädigte sie jedoch vor allem Kleingewerbebetriebe, während sie Großunternehmen und Bankhäuser kaum in Mitleidenschaft zog. Der Warenhauskette Tietz mit ca. 14.000 Angestellten z.B. gewährte Hitler sogar einen Kredit, um verursachte Boykottschäden auszugleichen und Entlassungen zu vermeiden. Das Verlagshaus Ullstein war vom Ein-Tages-Boykott ausgenommen, wurde aber danach heimlich boykottiert und musste Mitarbeiter entlassen, die vielfach in der NSDAP Mitglieder waren und sich bei Hitler beschwerten.

Schon im Vorfeld entließen manche Firmen Juden, um so dem Boykott zu entgehen. Die Karstadt AG z.B. entließ zum 1. April 1933 sämtliche jüdischen Angestellten fristlos, weil sie „keine vollwertigen und gleichberechtigten Staatsbürger“ seien und daher auch „keine vollwertigen Mitarbeiter“ mehr sein könnten. Sechs jüdische Aufsichtsratsmitglieder traten zurück, um die Entlassungen nicht billigen zu müssen. Die Arbeitsgemeinschaft deutsch-arischer Fabrikanten der Bekleidungsindustrie e.V. (ADEFA) warb ab April 1933 für die Produkte der ihr angeschlossenen Firmen mit dem „Gütesiegel“ Garantiert arisch. Auch eine neugebildete Arbeitsgemeinschaft deutscher Unternehmer der Spinnstoff-, Bekleidungs- und Lederwirtschaft („Adebe“) versuchte, das antijüdische Gesellschaftsklima für eigene ökonomische Interessen auszunutzen.

Christen und Kirchen

Der Boykott jüdischer Geschäfte war ein erster großer Testfall für die Haltung der Christen im nationalsozialistischen Deutschland zu den Juden und zur Regierung. Kirchenhistoriker Klaus Scholder resumiert:[13]

Kein Bischof, keine Kirchenleitung, keine Synode wandte sich in den entscheidenden Tagen um den 1. April gegen die Verfolgung der Juden in Deutschland.

Stattdessen rechtfertigte der Brandenburger Bischof Otto Dibelius in einer am 4. April in den USA ausgestrahlten Rundfunkansprache die Aktionen als notwendige staatliche „Verteidigung“, die in „Ruhe und Ordnung“ verlaufen sei. In einem Brief an alle Brandenburger Pastoren bekannte er sich wenige Tage darauf als Antisemit und warb um „volle Sympathie“ für die Terrormaßnahmen der Nationalsozialisten:[14]

Man kann nicht verkennen, dass bei allen zersetzenden Erscheinungen der modernen Zivilisation das Judentum eine führende Rolle spielt.

Allenfalls konvertierte Juden galten als schützenswert. Die Deutschen Christen wollten jedoch auch diese Judenchristen aus der Kirche ausschließen. Der eigene Antisemitismus und die lange Duldung rassistischer Gruppen im eigenen Bereich ließ die Kirchenleitungen der DEK versagen, als öffentlicher Protest gegen die Judenverfolgung notwendig gewesen wäre.

Die deutschen katholischen Bischöfe schwiegen ebenfalls. Dabei hatte Oskar Wassermann, Direktor der Deutschen Bank, auf Initiative des Berliner Domprobstes Bernhard Lichtenberg ihren Vorsitzenden Kardinal Adolf Bertram am 31. März um kirchlichen Protest gegen den Boykott gebeten. Bertram lehnte diesen in einem Rundbrief an die Metropoliten von Köln, München, Freiburg, Paderborn und Bamberg vom 31. März 1933 ab, da er als Einzelperson keinen Auftrag dazu habe und die Begründung des Boykotts nicht beurteilen könne, und ergänzte:[15]

Meine Bedenken beziehen sich 1. darauf, daß es sich um einen wirtschaftlichen Kampf in einem uns nicht nahestehenden Interessenkreise handelt; 2. daß der Schritt als Einmischung in eine Angelegenheit erscheint, der das Aufgabengebiet des Episkopates weniger berührt...Daß die überwiegend in jüdischen Händen befindliche Presse gegenüber den Katholikenverfolgungen in verschiedenen Ländern durchweg Schweigen beobachtet hat, sei nur nebenbei berührt.

Kardinal Michael von Faulhaber schrieb an den damaligen vatikanischen Staatssekretär Eugenio Pacelli, den späteren Papst, warum die Kirche nicht für die Juden eintrete:[16]

Das ist zur Zeit nicht möglich, weil der Kampf gegen die Juden zugleich ein Kampf gegen die Katholiken werden würde und weil sich die Juden selber helfen können, wie der schnelle Abbruch des Boykotts zeigt.

„Ungerecht und schmerzlich“ fand er, dass auch seit mehreren Generationen als „gute Katholiken“ geltende getaufte Juden vom Staat als Juden behandelt wurden und ihre Berufe aufgeben mussten. Auf die Anfrage eines katholischen Zeitungsredakteurs, warum die Kirche nicht offen erkläre, dass Menschen nicht wegen ihrer Rasse verfolgt werden dürften, antwortete er:

Für die Kirche bestehen weit wichtigere Gegenwartsfragen, denn Schule, der Weiterbestand der katholischen Vereine, Sterilisierung sind für das Christentum in unserer Heimat noch wichtiger.

Man dürfe der Regierung keinen Anlass bieten, „die Judenhetze in eine Jesuitenhetze umzubiegen.“[17]

Hauptgründe für diese Weigerung, dem eigenen Glauben gemäß für die Juden einzutreten, war der traditionelle christliche Antijudaismus beider Konfessionen und die Anerkennung des Obrigkeitsstaates als göttliche Setzung, dessen Politik man als Christ nicht widersprechen dürfe.[18]

Ernsthafter Widerspruch gegen den Boykott kam meist nur von einzelnen, wie dem katholischen Pfarrer Josef Knichel, der unter anderem wegen Verurteilung des Boykotts in einer Predigt verhaftet wurde. Kirchel habe

"... in der Kirche Angelegenheiten des Staates in einer öffentlichen Frieden gefährdenden Weise zum Gegenstand einer Verkündigung und Erörterung gemacht, indem er von der Kanzel herab der Gemeinde den Judenboykott als eine verwerfliche Maßnahme der Regierung hinstellte und äußerte, jeder, der an dem Judenboykott teilgenommen habe, könne nicht mehr gültig beichten, bis die ganze Schuld wiedergutgemacht sei". [19]

Weiteres Vorgehen des Regimes

Für die Nationalsozialisten war der Boykott ein erster Testlauf für ein später von ihnen oft wiederholtes Vorgehen: Aus der Partei wurden „radikale“ Schritte gegen Juden gefordert und gewaltsam unkoordiniert umgesetzt. Diese übernahm das Regime dann relativ kurzfristig und ordnete sie als reichsweit koordinierte Aktionen an, angeblich um Volksunruhe aufzufangen und in kontrollierte Bahnen zu lenken. Bei der mehr oder weniger improvisierten Durchführung des offiziellen Schein-„Kompromisses“ hielt sich Hitler zurück, so dass etwaige Exzesse, Scheitern und Auslandsproteste nicht ihm, sondern „Volkes Stimme“ angelastet werden konnten. Daraus wurden wiederum gesetzliche Schritte zur Judenverfolgung gefolgert.

Diesem Muster gemäß erließ das Regime am 7. April das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, wonach „nichtarische Beamte“ - nach staatlicher Definition vor allem Juden - entlassen werden mussten.[20] Dieses erste rassistisch begründete Gesetz der NS-Zeit enthielt auch den Arierparagraphen, den in den Folgemonaten zahlreiche Berufsverbände sowie ein Teil der DEK für ihren Bereich übernahmen.

Die innerparteiliche „Boykottbewegung“ setzte die Behinderung jüdischen Geschäftslebens teilweise monatelang heimlich fort. Daraufhin ordnete Rudolf Heß, den Hitler am 21. April 1933 zum „Stellvertreter des Führers“ ernannte, die Vorlage ihrer Veröffentlichungen an, damit das Regime alle weiteren Schritte kontrollieren konnte. Damit wurde der „Aktionismus“ unterer Parteiebenen gestoppt. Im Juli 1933 erklärte Hitler die Phase der Revolution für beendet.

Nach vorübergehendem Abflauen wurde die Judenverfolgung 1935 erneut intensiviert: Erst wurden Boykotte angedroht und von Gewaltübergriffen zur Einschüchterung der Betroffenen und der übrigen Deutschen flankiert, dann von Julius Streicher organisiert. Zeitnah wurden Juden durch die Nürnberger Gesetze - das „Reichsbürgergesetz“ und das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ - am 16. September 1935 vollständig entrechtet. Dies schuf wiederum die gesetzliche Ausgangsbasis für ihre weitere Ausgrenzung und Verfolgung.

Historische Einordnung

Ursachen und Ziele des Judenboykotts bewerten Historiker verschieden. Peter Longerich sah darin den Höhepunkt von planmäßig seit Anfang März 1933 geschürten antijüdischen Übergriffen, die in der Bevölkerung eine antisemitische Stimmung erzeugen sollten, damit diese eine erste Serie antijüdischer Gesetze vorbehaltlos akzeptieren würde. Der Boykott sei für die Nationalsozialisten ein „vielseitig einsetzbares Instrument im Kampf um die Eroberung und Festigung der Macht“ gewesen: Er habe antikapitalistische Aktionen aus der Parteibasis ausschließlich auf jüdische Betriebe gelenkt, die internationale Kritik daran verstummen lassen, weitere antijüdische Gesetze vorbereitet und von wirtschaftlichen Problemen abgelenkt, an denen man Juden die Schuld geben konnte.[21]

Das Ziel, eine spontane antisemitische Bewegung nach dem Vorbild früherer Pogrome in Osteuropa auszulösen, erreichte der Boykott laut Hans Mommsen und Dieter Obst jedoch nicht: In dieser Beziehung war die Boykottaktion ein eklatanter Misserfolg.[22]

Andere Darstellungen betonen eher die innenpolitische Funktion des Boykotts als „Ventil“ für Unzufriedenheit in der NSDAP-Mitgliedschaft. Die vorherigen Übergriffe waren demnach vielfach ungeplante Einzelaktionen oder „wilde“ Aktionen regionaler Gliederungen, die das Regime unter einen gewissen Zugzwang brachten, deren Erwartungen zu erfüllen. Ein solches ungesteuertes Zusammenwirken von Parteibasis und Führung war auch bei den Nürnberger Gesetzen und weiteren antijüdischen Maßnahmen erkennbar. Dem widersprachen 1995 neben Longerich auch Eberhard Jäckel und Julius Schoeps und stellten heraus, dass der Boykott solche lokalen Einzelaktionen gerade reichsweit legitimierte und damit als „Startschuss“ des Regimes für die Verfolgung und Unterdrückung der deutschen Juden gedacht gewesen sei. Er habe auf ihre ökonomische Ausgenzung und Unterdrückung in voller Übereinstimmung mit dem NSDAP-Gründungsprogramm gezielt.[23]

Der Jenaer Historiker Dirk van Laak fand im Judenboykott des NS-Regimes eine mehrfache Signalwirkung für dessen weitere Judenpolitik. Er habe

  • den tragfähigen Konsens zwischen NSDAP und DNVP in dieser Frage bewiesen,
  • den Handlungswillen zur „Entjudung“ gegenüber der eigenen Parteibasis demonstriert,
  • die radikalsten Antisemiten in der NSDAP unter Kontrolle gebracht,
  • die Juden innerhalb der deutschen Wirtschaft zunächst isoliert und ihren Markt „ausgetrocknet“, um später zu ihrer Enteignung durch „Arisierung“ überzugehen,
  • ihnen die Möglichkeiten des Regimes vor Augen geführt, um sie einzuschüchtern und später vollends zu entrechten:
Unter nur vordergründiger Missbilligung von Ausschreitungen durch die Regierung wurde das gesamte Repertoire an Druckmitteln präsentiert, das in den folgenden Jahren - ständig verfeinert - immer wieder zur Anwendung gelangen sollte: Aufmärsche, Sprechchöre, Flugblätter, Kundenkontrollen und Denunziationsandrohungen, denen u.U. mit Photoapparaten Nachdruck verliehen wurde, Sperrung von Geschäftseingängen, zwangsweise Schließungen, „Schutzhaft“, Misshandlungen oder Bedrohungen jüdischer Geschäftsinhaber und ihrer Angestellten, Post- und Telefonkontrollen, schließlich die Aufhetzung und ideologische „Wühlarbeit“ durch NS-„Vertrauensleute“ in den Unternehmen mit dem Zweck, „den Chef mürbe zu machen“.[24]

Einzelbelege

  1. Struan Robertson, The „Judenboykott“ of 1st April 1933
  2. dokumentiert bei Struan Robertson, The „Judenboykott“ of 1st April 1933
  3. Susan Stanelle u.a.: Die nationalsozialistische Judenverfolgung - Die Verfolgung in der Zeit von 1933 - 1938
  4. Artikeltext (englisch)
  5. Holocaustreferenz: „Jüdische Kriegserklärungen“ Rechtsextreme Legenden und Mythen: Jüdische Kriegserklärungen an Nazi-Deutschland
  6. Ralf Georg Reuth: Joseph Goebbels Tagebücher, München 2003, ISBN 3-492-21412-6, Band 2, S. 868 (26. März 1933)
  7. Bundeszentrale für politische Bildung: Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, Teil 2
  8. DTV-Atlas Weltgeschichte, Band 2, München 1999, Seite 483
  9. Ralf Georg Reuth: Joseph Goebbels Tagebücher, München 2003, Band 2, S. 789 (31. März 1933
  10. Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden, Band I: Die Jahre der Verfolgung 1933-1939, dtv; München 2000, ISBN 3-423-30765-X, S. 30-38
  11. Israel Gutman (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust, Piper, München-Zürich 1998, ISBN 3-492-22700-7, S. 687f
  12. Auf www.lernen-aus-der-geschichte.de: Gerhard Durlacher erlebte den 1. April 1933 als fünfjähriger Junge in Baden-Baden. In einer autobiographischen Erzählung schreibt er:
  13. Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich Band I, Frankfurt 1977, S. 338
  14. zitiert nach Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden Band I, S. 55
  15. Josef und Ruth Becker: Hitlers Machtergreifung. Dokumente ..., dtv 2938, München 1983, ISBN 3-423-02938-2 (Dokumenent Nr. 148, Seite 195): Rundbrief von Bertram 31. März 1933
  16. Lettera del card. di Monaco Faulhaber al Card. Pacelli, 10 aprile 1933; auf http://www.vaticanfiles.net
  17. Saul Friedländer, a.a.O. S. 56
  18. Saul Friedländer, a.a.O. S. 60ff
  19. Michael Kinnen: Ein Trierer Priester zwischen den Fronten. Zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus: Erinnerung an den in Wallhausen begrabenen Pfarrer Josef Knichel. Auf www.bistumsblatt.paulinus.de
  20. Saul Friedländer, a.a.O. S. 38-46
  21. Peter Longerich: Politik der Vernichtung. München 1998, ISBN 3-492-03755-0, S. 30ff
  22. Hans Mommsen, Dieter Obst: Die Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die Verfolgung der Juden 1933-1943, ISBN 3-491-33205-2, S. 374
  23. Israel Gutman (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust S. 689
  24. Dirk van Laak: „Arisierung“ und Judenpolitik im 'Dritten Reich'. Zur wirtschaftlichen Ausschaltung der jüdischen Bevölkerung in der rheinischwestfälischen Industrieregion (pdf)

Literatur

  • Avraham Barkai: Vom Boykott zur Entjudung. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933-1943, Fischer-TB, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3596243688
  • Helmut Genschel: Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich, Duehrkohp & Radick, 2001, ISBN 3897440865
  • Johannes Ludwig: Boykott. Enteignung. Mord. Die "Entjudung" der deutschen Wirtschaft, Piper Verlag GmbH, 1992, ISBN 3492115802
  • Martin Münzel: Die jüdischen Mitglieder der deutschen Wirtschaftselite 1927-1955. Verdrängung - Emigration - Rückkehr, Schöningh, 2006, ISBN 3506756257
  • Monika Richarz (Hrsg.): Jüdisches Leben in Deutschland III. 1918 - 1945. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte, Deutsche Verlags-Anstalt, 1982, ISBN 3421060940
  • Frank Sparing: Boykott - Enteignung - Zwangsarbeit. Die "Arisierung" jüdischen Eigentums in Düsseldorf während des Nationalsozialismus, Stadt Düsseldorf, 2000, ISBN 3980596389

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