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Melusine, auch Melusina (in der französischen Literatur auch Merlusigne u. ä.) ist der Name einer mythischen Sagengestalt des Mittelalters. Im Erzählkern handelt die Sage davon, dass Melusine einen Ritter unter der Bedingung eines speziellen Betrachtungstabus heiratet, wodurch er sie nicht in ihrer wahren Gestalt erblickt: Der einer Wasserfee mit Schlangen- oder Fischunterleib. Sie vermehrt in dieser Zeit sein Glück, bis das Verbot gebrochen wird.
Als historisch-genealogische Sage geht sie zurück auf die Familie Lusignan aus der französischen Region Poitou, welche mittlerweile ausgestorben ist.
Die ältesten Überlieferungen der Geschichte stammen aus dem 12. Jahrhundert. Mögliche Ursprünge finden sich dagegen bereits in den vorchristlichen Sagenwelten sowohl der keltischen, wie vorderasiatischen Kulturen.
Im Laufe der Zeit haben sich die Texte stark verändert. Erschien Melusine in den frühen Texten noch als Dämon, wurde sie dann in den höfischen Romanen des Mittelalters als Ahnfrau einer Familie immer stärker verchristlicht. Seit der Neuzeit verschwanden dann die Elemente der Familiengeschichte, es wurde mehr Wert auf die tragische Liebesbeziehung gelegt. Bis in das 20. Jahrhundert hinein gehörte Melusine so zu den außerordentlich populären Geschichten der europäischen Kulturen. Adaptionen existieren im Russischen, Englischen, Niederländischen, Flämischen, Spanischen und auch Isländischen. Heute hat sie allerdings sehr stark an Präsenz verloren.
Ursprung des Melusinenmythos
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Die Geschichten der Melusine gehören zu den populären, alten, europäischen Mythen, deren tatsächliche Ursprünge weitgehend im Dunkeln liegen. Das liegt einerseits daran, dass Geschichten früh nur mündlich tradiert, also weitergegeben wurden und andererseits das Erzählmotiv in den europäischen Kulturen bis heute weit verbreitet ist: Ein Mensch verbindet sich mit einem überirdischen Wesen. Man spricht hier von der sogenannten „gestörten Mahrtenehe“. Diese Verbindung ist geknüpft an ein Tabu – bei Melusine das Tabu für ihren Mann, sie an einem Tag zu sehen, da sie sich an diesem Tag in jenes Meereswesen verwandelt. Beispielsweise die griechische Sagenwelt kennt einige dieser Geschichten. So die von Amor und Psyche, in der Amor Psyche nur im Dunkeln besucht, bis sie eine Öllampe entzündet, oder der von Semele und Zeus, in der Semele nach einem Hinweis durch die eifersüchtige Hera den Geliebten, der sich in der Gestalt eines Sterblichen verbirgt, unablässig bittet, sich ihr in vollem Glanz zu zeigen, was Zeus dann irgendwann zulässt, sie aber verbrennt. Andere Geschichten, welche dieses Motiv bedienen, sind beispielsweise die des Friedrich von Schwaben, Peter von Staufenberg, Lohengrin (Schwanenritter) und der Undine.[1]
Es wird angenommen, dass die Figur der Melusine aufgrund ihrer Verwandlung in ein Schlangen-, Fisch- oder Drachenwesen auf einen unbekannten, älteren Mythos zurückgeht. Schlangenfrauen sind beispielsweise aus vorderasiatischen Mythen bekannt.[2] Denkbar ist genauso (beide Thesen schließen sich dabei nicht aus), dass sich die Melusinensage aus einer totemistischen Vorstellung entwickelte. Dabei fungiert eine Sagengestalt (aber auch Tiere, Pflanzen und Unbelebtes) als Ursprungsmythos einer Gemeinschaft, welche dadurch eine Verbundenheit erfährt. Wirklich belegbar ist das allerdings beides nicht. Tatsächlich wird die Geschichte aber bereits im 13./14. Jahrhundert mit dem Geschlecht der Herren von Lusignan in Verbindung gebracht. Diese lebten in der Nähe von Poitiers und führten angeblich ein Wappen mit einem Schlangenweib. Gleichzeitig, seit 1192, waren sie einige Jahrhunderte lang die Herren über die Insel Zypern, nachdem Guy de Lusignan sie von Richard Löwenherz abgekauft hatte. Die Lusignans betrieben eine Mythisierung ihres Geschlechts, Melusine sollte dieses verherrlichen. Volksetymologisch wurde erklärt, dass Melusine aus Mere und Lusignan entstanden sei. Gleichzeitig wurde Historisches und Fiktives vereinigt. So die Geschichte des Grafen Geoffroy I. de Lusignan, der 1232 das Kloster Maillezais[3] niederbrannte, bevor er dann eine Bußfahrt nach Rom unternahm. Denkbar ist beispielsweise, dass der Mythos nicht aus der Region Gallien stammte, wie zum Teil angenommen wird, sondern von Zypern nach Südfrankreich gelangte.[4]
So ist es nicht sehr unwahrscheinlich, dass Guy de Lusignan selbst um Zypern und Jerusalem von z. B. einer Göttin Derketo, einer Hauptgöttin von Askalon, erfuhr, von welcher sich dann der Melusinenmythos abgeleitet haben könnte. Herodot erzählt in seinen Historien (I, 105)[5] davon, dass ihr Fische heilig gewesen sein sollen und die Bewohner Askalons diese darum nicht aßen, eine totemistische Vorstellung, welche auf die Motive Meerwesen und Tabu zu weisen scheinen. Für eine solche Verortung würde auch die Tatsache sprechen, dass in dieser Zeit enorm viele arabische Texte in das Latein übersetzt wurden, wodurch noch heute Europäer und Araber über ein sehr ähnliches Erzählgut verfügen.
Verwandt ist diese Sage aber auch mit de Lais des 12. und 13. Jahrhunderts, welche wieder aus dem keltischen Erzählgut stammen.[6] Eindeutige Belege existieren für keine der Thesen.
Walter Map
Eine sehr frühe Überlieferung stammt von Walter Map (* um 1140; † zwischen 1208 und 1210) aus dem 12. Jahrhundert. In seinem Buch De nugis curialium findet sich neben keltischen Sagen die Geschichte Henno cum dentibus (Henno mit den großen Zähnen).
Henno trifft darin im Wald auf eine schöne Frau, welche er heiratet. Hennos Mutter spioniert ihr allerdings nach und sieht, wie sie sich im Bad bald in einen Drachen verwandelt, worauf sie beide, Sohn und Frau, in das Bett setzt und von einem Priester den Dämon mit Weihwasser vertreiben lässt.[7]
Dass diese Sage sich neben keltischen findet, ist in diesem Fall nicht unbedingt ungewöhnlich. Walter Map stammte zwar aus Wales, hatte aber auch in Paris Theologie studiert, wodurch er möglicherweise von dieser Sage hörte.
Gervasius von Tilbury
Die literarische Fassung des Melusinenstoffes, welche denen der späteren mittelalterlichen Romane aber deutlich näher steht, findet sich in Gervasius von Tilburys Otia imperialia, einer Art mittelalterlicher Beschreibung und Erklärung der Welt. Der Text entstand 1211/14, ist Kaiser Otto IV. gewidmet.
Darin wird beschrieben, dass Raymund als Herr von Castrum Russetum, in der Nähe von Aix-en-Provence am Fluß Lar auf eine sehr schöne Frau auf einem reich geschmückten Pferd trifft, welche er grüßt und die darauf den Gruß erwidert und ihm beim Namen nennt. Darauf versucht er sie mit seinen Worten zu erobern, sie aber verweigert sich ihm, da sie außerhalb der Ehe niemandem angehören will. Sollte er sie heiraten, verspricht sie ihm das höchste irdische Glück, jedenfalls solange er sie nicht nackt erblickte. Würde er diese Bedingung nicht einhalten, würde er alles Glück wieder verlieren. Er willigt ein, sie heiraten und tatsächlich mehrt sich das Glück des Ritters, er wird berühmt für seinen Ruhm und seine Tapferkeit. Er ist freigiebig, gebildet und seine Töchter und Söhne sind von höchster Schönheit. Erst einige Jahre später, als er von der Jagd heimkommt und seiner Frau noch badet, überkommt ihm, während gerade das Essen zubereitet wird, der Wunsch, sie nackt zu sehen. Trotz ihrer Bitten, zieht er das Leinentuch vor der Wanne fort und sieht sie nackt, bevor sie sich in eine Schlange verwandelt und im Wasser des Beckens untertaucht und verschwindet für immer. Nur um ihre Kinder von Zeit zu Zeit zu sehen, erscheint sie. Die Wärterinnen hörten sie immer nur, aber konnten sie nie sehen. Der Ritter aber verlor das meiste Glück und Ansehen.[8]
Es gibt verschiedene Deutungen dieser Version der Geschichte. Einerseits wird das mythische Wesen in dieser frommen, christlichen Auffassung, wie sie bei Gervasius und anderen Gelehrten seiner Zeit sehr aktuell ist, dämonisiert. Die Bekehrung wird darum zum wichtigen Teil der Geschichte. Andererseits erzählt sie auch von den mythischen, übermenschlichen Ursprüngen der Adelsgeschlechter, da schon in den klerikalen Texten dieser Zeit betont wird, dass diese Wesen bis in die Erzählzeit weiterlebten. Man findet nicht wenige dieser Familien, die sich auf diesen Mythos berufen. In einer Chronik der Freiherren von Zimmern[9] aus dem 16. Jahrhundert ist davon zu lesen oder in der Sage des Ritter von Staufenberg. Diese Strategien dienten aber auch der Stigmatisierung. Das versuchte beispielsweise Giraldus von Cambrai mit der englischen Königsfamilie der Plantagenet.[10] Die Geschichte ist aber auch eine Allegorie auf das „ritterliche“ Verhalten. Moralische Bedingungen sollen hier unbedingt dem Glück, zu dem ganz klar Ruhm und Tapferkeit gehören, vorausgehen. Eine Verletzung der Prinzipien, die ihre Gültigkeit nie verlieren, führt zum Schlimmsten: Die Liebe verwandelt sich in eine Schlange und auch alles andere Glück verschwindet damit.
Die Lusignan
Die Quellen, die Sage mit dem Geschlecht Lusignan zu verbinden, reichen in das 14. Jahrhundert zu dem Buch Reductorium morale von Petrus Berchorius. Darin ist die Sage überliefert, dass sich die Meerfee Melusine jedes mal zeigen würde, sobald ein neuer Herr in die Burg Lusignan einzieht.
Als Ahnfrau dieses Geschlechts, musste das offensichtliche Stigma des Dämonischen außerdem behoben werden, weshalb dann auch eine christliche Umwertung der Melusine stattfand zur „Mutter und Urbarmacherin“.[11]
Die Melusinenromane des Mittelalters
Erst im Spätmittelalter wird der Melusinenmythos stark verchristlicht. Ein heidnischer Dämon als Ahnfrau einer Familie, das passte nicht mehr in das gesellschaftliche Bild. Dieses musste auch literarisch korrigiert und manifestiert werden. Melusine erscheint hier nun als eine christliche Fürstin, die in diesem Rahmen stark positiviert wird. Sie errichtet Schlösser, vermehrt Besitz und Reichtum, bekämpft Heiden und ruft zu den christlichen Tugenden auf. Durch diese starke Apostrophierung wird deutlich, dass es hier gerade darum geht, einen möglichen, heidnischen Verdacht ganz zu demontieren.[12] Sie soll als diejenige erscheinen, welche den Willen Gottes ausführt. Das haben die Texte der drei Autoren gemein, welche die großen Melusinenromane dieser Zeit verfassten. Gemein haben sie aber auch, dass sie alle eigene Erzählstrategien verfolgen, sie sind also nicht einfach Varianten der gleichen Geschichte.
Jean d'Arras
Jean d'Arras schrieb die erste Geschichte Melusines in der Form des Romans. Er erhielt den Auftrag hierzu vom Herzog von Berry, dem Bruder des Königs von Frankreich, Karl V. Dieser Herzog ist durchaus bekannt für solcherart Aufträge, so geht auf ihn beispielsweise das Très Riches Heures zurück. Auf einem der Monatsbilder darin ist auch das Schloss zu sehen, welches Melusine der Sage nach erbaut haben soll. Als Drache schwebt sie dazu über dem Dach des Turms. (Siehe Abb.)
Marie[13], die Schwester des Herzogs von Berry hatte ihren Bruder, angeblich um die Erforschung der „Wahrheit“ bemüht, um die Geschichte gebeten, wie d'Arras erwähnt. Sowohl ihr Großvater Johann von Luxemburg, wie ihr Mann Robert I., einem Herzog von Bar, beriefen sich auf die Abstammung von Melusine. Der Auftraggeber, Jean de Berry selbst, war Graf von Poitou, dem Gebiet, von dem der Aufstieg des Hauses Lusignan ausging. Er hatte Lusignan während des Hundertjährigen Krieges, als die Engländer das Schloss besetzt hatten, belagert. Es heißt, als er es eroberte, soll ihm, wie die Legende vorgab, Melusine begegnet sein.
D'Arras erzählt, wie Elynas, der König von Albany (Schottland) bei der Jagd auf Presine trifft, die Mutter der Melusine. Er überzeugt sie, ihn zu heiraten, doch sie nimmt ihm das Versprechen ab, niemals ihr Zimmer zu betreten, während sie ihre Kinder gebiert oder badet. Sie schenkt ihm Drillinge. Als er das Tabu bricht, verlässt sie ihn und geht mit ihren Töchtern Melusine, Melior und Palestine nach Avalon. Fünfzehn Jahre später nehmen die Töchter Rache – sie begraben Elynas lebendig in einem Berg. Zur Strafe werden die Schwestern durch ihre Mutter verflucht, Melior wird ein Sperber auf Zypern, Palestine ein Drache, um auf dem Mont Canigou (den Pyrenäen) den Schatz des Vaters zu hüten. Melusine dagegen muss sich jeden Sonnabend[14] von der Taille abwärts in eine Schlange verwandeln, bis sie einen Mann findet, der sie heiratet und verspricht, sie an diesem Tag nicht zu sehen. Raymond von Poitou begegnet ihr schließlich in einem Wald in Frankreich, und die Geschichte wiederholt sich: Melusine heiratet Raymond unter der Bedingung, dass er niemals an einem Samstag ihr Badezimmer betritt. Melusine errichtet darauf die Burg Lusignan, Raymond erhält Mut und Ansehen und sie bekommen zehn Söhne, welche sich ritterlichen Ruhm und Ehre erwerben, zum Teil werden sie zu Königen. Alle haben sie aber Male ihrer Abstammung. Als Raymond das Tabu bricht, weil sein eifersüchtiger Bruder ihm einredet, sie würde ihn in dieser Zeit betrügen, findet er sie als ein Wesen halb Mensch, halb Schlange. Zunächst verzeiht sie ihm, seinen Bruder jagt Raymond davon, doch als er sie vor seinem Hofstaat eine „Schlange“ nennt, ist sie verflucht, sie verwandelt sich in einen Drachen und fliegt fort.
Der Text stellt eine Verbindung dar zwischen der klassischen Heldensage des Mittelalters und dem höfischen Roman. Die Mutter der Melusine, nach d'Arras eine Schwester der Fee Morgan, entstammt daher der Feenwelt des Berges Avalon (dieser befindet sich nach der Geschichte in Frankreich, ist aber identisch mit der mythischen Insel), einer der beliebtesten Erzählwelten dieser Zeit. Es wird so die Verbindung hergestellt, zwischen den Geschlechtern, welche sich auf die Melusine berufen und der Sagenwelt des König Arthus. Wichtiger Teil der Handlung und populäres Thema der französischen Heldenepik, sind außerdem die Heidenkämpfe der Söhne der Melusine. D'Arras bringt also verschiedenste literarische Motive zusammen: die heldenhaften Abenteuer der Ritter, die Politik der Dynastien und deren höfisches Leben, wie auch die bekannten Zauberwelten.[15]
Couldrette
Couldrette, der die Sage, für die allein er heute noch bekannt ist, um 1400 in der Form des französischen Versromans schrieb, ist deutlich historischer. Einerseits stammte Couldrette selbst aus dem Poitou und war sicherlich darauf aus, die Genealogie der Familie wiederzugeben, die ihn unterstützte und andererseits gibt er auch an sich auf verschiedene Quellen zu stützen. Das sind eine ältere Reimfassung der Sage, zwei lateinische Bücher in französischer Übersetzung und ein Buch eines Grafen von Salisbury (es ist nicht auszuschließen, dass es sich bei diesem auch um Gervasius von Tilbury handelte). Auch Couldrette schrieb das Buch im Auftrag, nämlich der Familie Parthenay[16], die sich wie viele andere auf Melusine berief. Guillaume VII., der Coudrette dazu beauftragte, starb vorzeitig im Jahr 1401, sein Sohn Jean II., Seigneur de Mathefelon († 1427) wollte aber, dass die Arbeit beendet würde. Dass muss wahrscheinlich vor 1405 geschehen sein, da in diesem Jahr die Herrschaft Parthenay an den Herzog von Berry verkauft wurde, was in dem Text Couldrettes nicht mehr erwähnt ist.
Was in dieser Ausgabe der Melusine immer wieder betont wird, ist die rechtmäßige Herrschaft der Familie. Ebenso aber werden nun entsprechend der adligen Kriegergesellschaft auch die fantastischen Elemente stärker als noch bei d'Arras, zurückgedrängt, zugunsten der geschilderten Taten der Söhne, die keine heidnische Zauberei benötigen für den ritterlichen Erwerb von Frau und Land.
Hierdurch erhält das Buch die Form eines höfischen Herrendienstes: Die spätmittelalterliche, Adelswelt von Frankreich und Burgund feiert sich selbst und erkennen sich selbst in den Geschichten wieder. Obgleich auch hier die heidnischen Ursprünge christliche Korrekturen erfahren, ist durchaus fraglich, dass diese Sage der Melusine insbesondere für die Auftraggeber tatsächlich noch authentisch gewesen ist, also nicht nur als reine Fiktion gelesen wurde. Das rückt letztlich auch die scheinbar beabsichtigte Historizität in ein anderes Licht.
Thüring von Ringoltingen
Eine deutsche Fassung musste sich in diesem Kontext von der Vorlage deutlich abheben. Sie stammt von dem Berner Patrizier Thüring von Ringoltingen (1415–1483). Dieser stammte selbst aus adeligen Kreisen, seine Familie war in den Stadtadel Berns aufgestiegen.[17] Sein Text stellt eine Übersetzung dar der Fassung von Couldrette, sie ist aber gleichzeitig auch eine sehr stark bearbeitete Fassung. So handelt es sich hier nicht mehr um einen Versroman, sondern bereits eine Prosaform und auch inhaltlich wurde von ihm einiges verändert. [18] Er widmet den Text dem Markgrafen Rudolf von Hochberg, Graf von Neuchâtel (womöglich wurde Thüring die Fassung von Couldrette auch von diesem Rudolf von Hochberg vermittelt). Dieser hatte enge Verbindungen zum Hof Herzog Philipps des Guten von Burgund. Burgund war damals das Zentrum der ritterlich höfischen Kultur überhaupt. So dokumentiert die Widmung einerseits die politischen Allianzen und Beziehungen der hohen Berner Gesellschaft mit den angesehenen Höfen Europas und derem exklusiven Leben. Andererseits deren Zugehörigkeitsbedürfnis: Bern war kein Ort europäischen Hochadels, aber Thüring hält die höfischen Normen in viel stärkerer Weise fest, als Couldrette. Etikette, Dialoge als Muster der vornehmen Rede, Normen wie Herkunft, Ehre, Erziehung. Bei Thüring wird so Melusine zum Ursprung einer ganzen, bis in seine Gegenwart fortdauernden Adelswelt, welche nun den niedrigen Adel, ihn selbst also, mit einschließt.
Ein wichtiges Leitmotiv der Geschichten, insbesondere bei Thüring, ist die Schuld. Reymund, der Protagonist des Romans, macht sich schon zu Beginn des Totschlags an seinem Ziehvater schuldig, auch wenn es sich dabei nur um einen Jagdunfall handelte. Alles folgende Geschehen muss sich (für ihn!) als logisches Erklärungsmuster daraus ergeben. Nur darum verbindet sich der Dämon mit ihm, zeugt einen Sohn wie Geffroy, der ein Kloster mitsamt Mönchen und Abt niederbrennt. Nur darum kommt es zur Tragödie. Eine Form individueller Verantwortung erscheint erst denkbar durch einen Erklärungskonflikt in der Geschichte zwischen göttlicher Lenkung und fantastisch-mythologischen Ursachen. Obwohl Thüring die Taten der nun frommen Christin und eher weisen Beraterin (denn als Fee) Melusine enorm einschränkt, wird auch die personifizierte Glücksgöttin Fortuna genannt, welche erklärt, dass das Unglück dem Glück folgen muss.[19]
Geschichten der Melusine in der Neuzeit
Schon bei Goethe, der 1807 das Märchen Die neue Melusine als Teil von Wilhelm Meisters Wanderjahren veröffentlichte, haben wir es nicht mehr mit dem Melusinenstoff des Mittelalters zu tun. Der stärkste Hinweis darauf ist noch der Titel der Geschichte. Ein Schlangenweib kommt nicht vor, dafür eine Frau, welche sich in einen Zwerg verwandelt und für diese Zeit in einem Kästchen lebt. Sie besteht darauf, dass das Kästchen von dem Mann, der in sie verliebt ist, nicht geöffnet wird. Als er sie durch einen Spalt sieht, verzeiht sie ihm aber, besteht aber darauf, dass er vor niemandem davon spricht. Nachdem er sie betrunken in einer Gesellschaft Zwerg nennt, verzeiht sie ihm aber letztlich wieder, als er sich entscheidet, mit in ihre Zwergenwelt zu kommen. Als er sie dort heiraten soll, läuft er fort.
Das Tabu des Mittelalters hat bei Goethe keine Kraft mehr. Darüber hinaus ist die Bedingung der Ehe, die ganz am Anfang stand, erst am Ende der Grund für seine Flucht. Dadurch scheint die kleine Geschichte den historischen Stoff einerseits zu parodieren, steht aber andererseits auch für den freien Willen, der sich durch keine Tabus, keine Schranken binden lässt. Bezeichnend ist außerdem, dass schon hier die Geschichte allein auf die persönliche Beziehung beschränkt wird.
Franz Grillparzer brachte Goethes Märchen auf die Bühne, 1833 schrieb Conradin Kreutzer Melusina – Romantische Oper in drei Akten nach Grillparzers Text und auch Felix Mendelssohn nannte eine Ouvertüre Das Märchen von der schönen Melusine (Opus 32).
Seit der Romantik wurde das Melusinenmotiv immer mehr zersetzt. 1899 schrieb dann Theodor Fontane den Roman Der Stechlin, in dem er eine Figur lediglich Melusine nannte. Ähnlich ist es heute: Seit 1995 erscheint bei Depuis Publishing eine französische Comicreihe unter dem Titel Mélusine[20], in der es auch nur noch der Name ist, der mit dem eigentlichen Sagenkreis nicht mehr gemein hat.
Rezeptionsgeschichte
Die Handschriften des 15. Jahrhunderts waren vor allem den herausgehobenen, gesellschaftlichen Kreisen vorbehalten: dem Adel, Patriziern und hohen Amtsträgern. Ebenso wie die frühen, aufwendigen Drucke aus Augsburg, Basel und Straßburg. Erst mit den einfacheren Frankfurter Drucken aus der Mitte des 16. Jahrhunderts erreichte die Geschichte der Melusine die bürgerlichen Kreise. Im 18. Jahrhundert wird sie dann als billiges „Volksbuch“ gedruckt. Erst in dieser Form erreicht sie beispielsweise auch Goethe. Die Texte reflektieren die Rezeption sehr genau. Die frühen Texte haben als Thema die Geschichte des Adels selbst, die dann in Laufe der Zeit immer mehr verschwindet hinter den Liebes- und Märchengeschichten der Romantiker.
Worauf man letztlich heute auch trifft, sind feministische Rezeptionsweisen des Stoffes, welche in dem Text beispielsweise Aspekt der Angst des Mannes vor der Frau im Spätmittelaltes, sowie der Dämonisierung der Frau, ihrer Degradierung zur sympathischen Romangestalt sehen[21], aber auch Hinweise auf ein frühes Matriarchat. Es kann davon ausgegangen werden, auch die Autoren des Mittelalters bemerkten, dass die weibliche Position in der Geschichte unverhältnismäßig dominiert und sie nicht zuletzt darum den Heldentaten der Männer mehr erzählerischen Raum gaben. Die
Trivia
- In seinem Film Pappa ante Portas rezitiert Loriot in seiner Rolle als Lothar Frohwein dieses Gedicht:
„Melusine!
Krawehl, Krawehl!
Taubtrüber Ginst am Musenhain!
Trübtauber Hain am Musenginst!
Krawehl, Krawehl!“
- Die schöne Melusine ist auch die Bezeichnung eines Gerichts aus überbackenem Blumenkohl, welches Clemens Wilmenrod zugeschrieben wird.[23]
Fußnoten
- ↑ Vgl.: Lecouteux, Claude: Melusine. In: Enzyklopädie des Märchens. Band 9, Spalte 556.
- ↑ Vgl.: Jan-Dirk Müller (Hrsg.): Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, S. 1023.
- ↑ Siehe auch: Liste der Bischöfe von Maillezais
- ↑ Vgl.: Hans-Gert Roloff: Melusine, S. 158 ff.
- ↑ Siehe: wikisource:de:Historien
- ↑ Vgl.: Lecouteux: Melusine, Spalte 556.
- ↑ Vgl.: Müller: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, S.1023.
- ↑ Vgl.: Karl Heisig: Melusinensage , S. 171 f.
- ↑ Siehe auch: Zimmern (Adelsfamilie) und die Chronik in Wikisource
- ↑ Vgl.: Müller: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, S. 1023 ff.
- ↑ Vgl.: Müller: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, S. 1025.
- ↑ Vgl.: Müller: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, S. 1025.
- ↑ Marie (* 12. September 1344; † 1404) - verheiratet mit Robert I., Herzog von Bar. Siehe auch: Johann II. (Frankreich)
- ↑ Der Sonnabend plausibilisiert als Tag des Sabbat das Tabu noch zusätzlich.
- ↑ Vgl.: Müller: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, S. 1025 ff.)
- ↑ Siehe auch: Seigneurs de Parthenay (frz.)
- ↑ Vgl. z. B.: Müller, Jan-Dirk: Thüring von Ringoltingen. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters: Verfasserlexikon, S. 908–914.
- ↑ Vgl.: Müller: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, S. 1021 f.
- ↑ Vgl.: Müller: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, S. 1035.
- ↑ Siehe: www.depuis.com
- ↑ Vgl.: Classen, Albrecht: Geschlechts- und Ehebeziehungen im 15. Jahrhunderts: Der Fall „Melusine“ von Thuring von Ringoltingen. Eine sozial- und literarhistorische Studie aus mentalitatsgeschichtlicher Sicht. In: German Studies Review, Vol. 17, No. 2 (May, 1994), pp. 233-268. (Siehe auch: jstor.org)
- ↑ Siehe: Filmausschnitt aus Pappa ante Protas auf www.youtube.com
- ↑ Vgl.: www.artfond.de
Literatur
Quellentexte
- D'Arras, Jean: Mélusine. Roman du XIVe siècle par Jean d'Arras, publié […] par Luis Stouff, Dijon und Paris 1932.
- D'Arras, Jean: L'Histoire de la Belle Mélusine de Jean d'Arras. Reproduction en fac-similé de l'edition de Genève, imprimée par A. Steinschaber en 1478 […], éditée avec une préface par W.-J. Meyer, Bern 1923/24.
- Couldrette: Le Roman de Mélusine ou Histoire de Lusignan par Coudrette, éd. par Eleanor Roach, Paris 1982.
- Fontane, Theodor: Der Stechlin [1897].
(Text in Wikisource)
- Gervasius von Tilbury: Otia Imperialia.
(Transkription des lateinischen Textes auf: www.fh-augsburg.de und 12koerbe.de)
- Goethe, Johann Wolfgang: Die neue Melusine. Erzählung aus Wilhelm Meisters Wanderjahre [1807/08].
(Text im Projekt Gutenberg)
- Herodot: Historien. Bücher I - IX. Herausgegeben und übersetzt von Josef Feix. Zweisprachige Ausgabe Griechisch - Deutsch in zwei Bänden. Artemis & Winkler und Patmos Verlag, Tusculum-Reihe, Düsseldorf 2001.
(Text in Wikisource)
- Schwab, Gustav: Die schöne Melusine.
(Text im Projekt Gutenberg)
- Thüring von Ringoltingen: Melusine [Nach Überlieferungen ab 1467]. In: Jan-Dirk Müller (Hrsg.): Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. In: Bibliothek der frühen Neuzeit. Vierundzwanzig Bände. Mit Illustrationen. Herausgegeben von Wolfgang Harms, Conrad Wiedemann und Franz-Josef Worstbrock. Erste Abteilung. Literatur im Zeitalter des Humanismus und der Reformation. Zwölf Bände. Herausgegeben von Wolfgang Harms und Franz-Josef Worstbrock. Band 1. Deutscher Klassiker Verlag: Frankfurt am Main 1990. ISBN 3618663102 (Leinenbezug), ISBN 3618663153 (Lederbezug).
- Thüring von Ringoltingen: Melusine. [In der Fassung des Buches der Liebe von 1587]. Herausgegeben von Hans-Gert Roloff. Stuttgart: Philipp Reclam Jun, 2000. ISBN 3150014840.
- Thüring von Ringoltingen. Melusine [1456]. Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/74. Herausgegeben von André Schnyder in Verbindung mit Ursula Rautenberg. 2 Bd. (Edition, Übersetzung und Faksimile der Bildseiten; Kommentar und Aufsätze). Wiesbaden: Reichert 2006, ISBN 3895005088.
Forschungstexte
- Heisig, Karl: Über den Ursprung der Melusinensage. In: Fabula 3 [1960], S. 170-181.
- Le Goff, Jaques: Melusine – Mutter und Urbarmacherin. In: Jaques Le Goff: Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und Kultur im Europa des 5.-15. Jahrhunderts. Ausgewählt von Dieter Groth, eingeleitet von Juliane Kümmell. Frankfurt, Berlin, Wien 1984, S. 147-474.
- Lecouteux, Claude: Melusine. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, begründet von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich u.a. Berlin 1975 (ff.), Band 9 (1999), Spalte 555-562. ISBN 3-11-005805-7.
- Müller, Jan-Dirk: Melusine. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters: Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler. Fortgeführt von Karl Langosch. Herausgegeben von Burghart Wachinger. Zusammen mit Gundolf Keil … Red. Christine Stöllinger-Löser. Berlin, New York: de Gruyter 1995. Band 9, S. 908 ff. ISBN 3-11-014024-1.