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Das Schwarzbuch Kapitalismus ist eine 1999 erschienene Monographie von Robert Kurz, die sich kritisch mit der Geschichte und der Zukunft des Kapitalismus auseinandersetzt.
Kurz analysiert auf ca. 800 Seiten die Geschichte des Kapitalismus von ihrem Beginn im 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Diese sei geprägt durch drei großen industriellen Revolutionen: die Ersetzung der menschlichen Muskel- durch Maschinenkraft in der Ersten, die Rationalisierung der menschlichen Arbeitskraft in der Zweiten und die Automatisierung in der Dritten industriellen Revolution, wodurch die menschliche Arbeitskraft überflüssig gemacht werde.
Überblick
- Inhalt
Im Zentrum des Werkes steht die „Soziale Frage“ der Gegenwart: die „Soziale Frage des 21. Jahrhunderts“. Den Ausgangspunkt bildet die These, dass der Kapitalismus auf eine „ausweglose Situation“ zutreibe. Die Marktwirtschaft werde mit ihren Produktivitätssprüngen – Automatisierung und Globalisierung – nicht mehr fertig, so dass der Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten sinke, die Arbeitslosigkeit zunehme. Der Ausweg in die Dienstleistungsgesellschaft erweise sich dabei als Illusion.
Kurz' Analyse der Geschichte des Kapitalismus von ihrem Beginn im 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein geht von einer Prägung durch drei große industrielle Revolutionen aus: die Ersetzung der menschlichen Muskel- durch Maschinenkraft in der ersten, die Rationalisierung der menschlichen Arbeitskraft in der zweiten und die Automatisierung, wodurch die menschliche Arbeitskraft überflüssig gemacht werde, in der dritten industriellen Revolution.
Eine zentrale These von Kurz ist, dass die großen gesellschaftlichen Konflikte der Neuzeit wie die bürgerlichen Revolutionen und die Arbeiterbewegung im Grunde aus dem selben Geist entsprungen seien wie das, was sie bekämpften: die bedingungslose Übernahme des Prinzips der „abstrakten Arbeit“. Mit diesem von Karl Marx übernommenen Begriff charakterisiert Kurz die Unterwerfung unter eine Form des Produzierens, die letztlich „sinnvergessen“ sei, da es auf ihre Inhalte nicht mehr ankomme. Es gehe um die „Verausgabung von Arbeitskraft schlechthin“, die Auslieferung an den „abstrakten Selbstzweck des Geldes“, um eine „fremdbestimmte, jenseits der eigenen Bedürfnisse und außerhalb der eigenen Kontrolle liegenden Tätigkeit“.
Diese Selbstunterwerfung des Menschen unter den ökonomischen Prozess der Geldvermehrung habe zu dem geführt, was Kurz als „die schöne Maschine“ bezeichnet. Er versteht darunter die „systemische Selbstregulation“, einen „völlig unpersönlichen“ und „blinden“ Mechanismus“, der als quasi „Naturgesetzlichkeit“ unreflektiert vorausgesetzt werde. Das einzige „Ziel“ der „schönen Maschine“ sei die „Verwertung des Werts“, die unaufhörliche Anhäufung von „Geld“ und „Quanten abstrakter Arbeit“. Ihr Mechanismus sei letztlich selbstzerstörerisch und berge die Gefahr einer „Entzivilisierung der Welt“.
Um eine neue, andere Alternative wieder denken zu können, muss seiner Meinung nach zuerst der als Naturfaktum auftretende, „scheinbar ahistorisch gewordene Kapitalismus“ historisiert werden. Ein solche „Rehabilitierung“ der Geschichte zu leisten, ist das Anliegen seines Buches. Hierzu zählt der Autor diejenigen auf, die er als Opfer des Kapitalismus sieht: die Opfer der Kriege, von Hunger, Armutskrankheiten und Umweltzerstörung. Die soziale Marktwirtschaft der Nachkriegszeit sei „nur die Vollendung des Faschismus mit anderen, gemeineren Mitteln“. Auch die Staatswirtschaft der sozialistischen Staaten bezeichnet er als „Kapitalismus“, da sich die dortigen Bürokraten in Wahrheit nach den Richtlinien und Dogmen des kapitalistischen Weltsystems verhielten und nach dessen Kriterien den westlichen Kapitalismus überflügeln wollten – durch höhere Arbeitsproduktivität, mittels Zinswirtschaft und höherer Effizienz.
Er wirft auch dem gegenwärtigen Kapitalismus – der „freien Welt“ und der Marktwirtschaft – vor, durchaus gleiche bzw. weitaus höhere Opferzahlen als der Kommunismus zu produzieren, z.B. innerhalb der „Dritten Welt“ pro Tag über 100.000 Hungertote, jährlich 7 Millionen an Nahrungsmangel gestorbene Kinder, in beiden Weltkriegen etwa 75 Millionen Kriegstote. Dagegen und gegen die Säulen, Verteidiger und Repräsentanten des Kapitalismus gewaltsam vorgegangen zu sein, kann nach Meinung des Autors kein Vorwurf sein.
Robert Kurz schlägt vor, die Reichtümer der Erde, die Bodenschätze, die Landwirtschaft und die Maschinen so einzusetzen, „dass allen Menschen ein gutes, genussvolles Leben frei von Armut und Hunger gewährleistet ist“. Als ersten Schritt rät er, „sich der Gehirnwäsche durch den Kapitalismus/Wirtschaftsliberalismus zu entziehen“.
Kurz’ Werk ist gekennzeichnet durch eine Fülle von historischem Material. Etwa ein Drittel des Buches besteht aus Zitaten geschichtlicher Personen der jeweils betrachteten Epoche.
- Rezeption
Kurz' Buch und seine grundlegende Kritik am Kapitalismus ist provokativ und entsprechend kontrovers und teilweise polemisch fällt die Rezeption insbesondere der Presse aus. Von einigen wird das Schwarzbuch Kapitalismus als bedeutender Beitrag zur Zeitkritik aufgefasst und wegen der historische Detailreichtum sowie gerade aufgrund der umfassend historischen Heransgehensweise gelobt; kritisiert werden dagegen, dass Kurz 'Kapitalismus' unreflektiert verwende sowie dass seine angestrebte Historisierung selektiv, teilweise verfälschend sei oder gar überhaupt der falsche Ansatz sei, insofern Kurz im Rahmen seiner grundlegenden und historischen Abrechnung die bestehenden Defizite des Kapitalismus nicht angehe und letztlich auf problematische Weise ein Rätesystem oder eine Revolution bzw. eine Systemverweigerung propagiere oder auch - je nach Sicht - keine wirklichen praktischen Konsequenzen fordere.
Inhalt
Grundthesen
Den Ausgangspunkt des Werkes bildet die These, dass der Kapitalismus auf eine ausweglose Situation zutreibe. Die Marktwirtschaft werde mit ihren Produktivitätssprüngen – Automatisierung und Globalisierung – nicht mehr fertig. Der Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten sinke, die Arbeitslosigkeit nehme zu und der Ausweg in die Dienstleistungsgesellschaft erweise sich als Illusion.
Für seine Grundbehauptung, dass der Kapitalismus bezüglich der Wohlfahrtssteigerung eine „verheerende“ Gesamtbilanz aufweise, führt Kurz verschiedene empirische Beispiele an. Zwar beschleunige der Kapitalismus die Entwicklung der Produktivkräfte, eine Steigerung der Wohlfahrt aber sei damit jedoch „merkwürdigerweise immer nur zeitweilig verbunden“ gewesen, begrenzt auf „bestimmte soziale Segmente und Weltregionen“. Der Kapitalismus sei niemals imstande gewesen, die von ihm hervorgebrachten Potenzen für eine Verbesserung des Lebens aller Menschen anzuwenden. In der kapitalistischen Frühgeschichte seit dem 16. Jahrhundert und auch in dem Vierteljahrtausend von 1750 bis heute ginge es der großen Mehrzahl der Menschheit in fast allen Belangen schlechter als im späten Mittelalter. Wichtige Merkmale hierfür sind nach Kurz die Erhöhung der Arbeitszeit seit Beginn der frühen Neuzeit, das anfängliche Absinken des Lebensstandards in Europa bis ins 19. Jahrhundert hinein und das weiterhin gleichbleibend niedrige Lebensniveau in vielen Ländern der Dritten Welt.
Kurz' formuliert am Beginn des Werks als Hauptthese, dass das kapitalistische Gesellschaftssystem sich so absolut gesetzt habe „wie noch kein Gesellschaftssystem in der menschlichen Geschichte“ vor ihm. Dies drücke sich nicht nur durch eine Verfälschung, sondern durch den Versuch einer vollkommenen Auslöschung seiner Geschichte aus. Es wolle so einen homo oeconomicus schaffen, der „in einer ewigen Gegenwart von Markthandlungen“ lebe.
Die Selbstunterwerfung des Menschen unter den ökonomischen Prozess der Geldvermehrung hat für Kurz zu dem geführt, was er als „die schöne Maschine“ bezeichnet. Er versteht darunter die „systemische Selbstregulation“, einen völlig unpersönlichen und blinden Mechanismus, der als Naturgesetzlichkeit verstanden unreflektiert vorausgesetzt werde. Das einzige „Ziel“ der „schönen Maschine“ sei die „Verwertung des Werts“, die unaufhörliche Anhäufung von Geld und „Quanten abstrakter Arbeit“. Ihr Mechanismus sei letztlich selbstzerstörerisch und berge die Gefahr einer „Entzivilisierung der Welt“.
Der zentrale Begriff in Kurz’ Werk ist der von Marx übernommene Begriff der „abstrakten Arbeit“. Damit charakterisiert Kurz die Unterwerfung unter eine Form des Produzierens, die letztlich sinnvergessen sei, da es auf ihre Inhalte nicht mehr ankomme. Zweck des Produzierens sei letztlich die „Verausgabung von Arbeitskraft schlechthin“ und ihre Auslieferung an den „abstrakten Selbstzweck des Geldes“, was Kurz als eine „fremdbestimmte, jenseits der eigenen Bedürfnisse und außerhalb der eigenen Kontrolle liegenden Tätigkeit“ bezeichnet. Auch die großen gesellschaftlichen Emanzipationsbewegungen der Neuzeit – die bürgerlichen Revolutionen und die Arbeiterbewegung – hätten sich von dieser Denkweise letztlich nicht freimachen können. Um eine neue, andere Alternative wieder denken zu können, muss seiner Meinung nach zuerst der als Naturfaktum auftretende, „scheinbar ahistorisch gewordene Kapitalismus“ historisiert werden. Eine solche „Rehabilitierung“ der Geschichte zu leisten, ist das Anliegen seines Buches.
Ursachen des Frühkapitalismus
Im zweiten Kapitel legt Kurz dar, dass sich mit dem Beginn des 17. Jahrhundert ein Gesellschaftmodell der „totalen Konkurrenz“ entwickelt habe. Dessen zugrunde liegendes Welt- und Menschenbild sollte seiner Meinung nach „für das gesamte westliche Denken der Moderne bis zum heutigen Tag hegemonial werden“.
Das aufstrebende marktwirtschaftliche Unternehmertum habe sich eine starke gesellschaftliche Stellung gesichert. Gleichzeitig habe sie sich jedoch „nicht mehr an die traditionelle Struktur der autoritären Hierarchie gebunden“ gefühlt und habe seine eigene „Herrschaftsideologie“ zur Legitimierung seiner spezifischen Interessen enwtickelt.
Der „große Stammvater des Liberalismus“ ist für Kurz Thomas Hobbes. Da jener den Menschen als ein prinzipiell von Natur aus egoistisches Wesen auffasse, der sich natürlichweise in einem „Krieg aller gegen alle“ („bellum omnium contra omnes“) befinde, bedürfe es laut Hobbes einer übergeordneten Macht, des Staates, der den „menschlichen Raubaffen zur negativen Gesellschaftlichkeit zähmen sollte“. Dieser Rechtfertigungsgedanke des „absoluten Staates“ (vgl. Leviathan) finde sich laut Kurz bis heute. „Freiheit“ bestünde für Hobbes vor allem darin, „zu kaufen und zu verkaufen und miteinander Handel zu treiben“, nicht etwa in der Möglichkeit, „sich nach eigenen Bedürfnissen und Vereinbarungen kooperativ zu verhalten“.
Die Wendung des Konkurrenzstrebens zu einer positiven Eigenschaft – was Kurz als „Umwertung aller Werte“ bezeichnet – wurde durch Bernard Mandeville vorgenommen. Durch gegenseitige Konkurrenz könnte der naturgemäß faule, egoistische und geldgierige Mensch eine Gesellschaft im Endresultat zu einer „blühenden Gemeinschaft“ machen. Dabei wird das „Mit-Fühlen und Mit-Leiden bei Unglück und Elend anderer“ zu einem Gefühl der „schwächlichsten Gemüter“ erklärt, dem die „Männer des Marktes“ nicht nachgeben dürften.
Übertroffen, so Kurz, werde dieser Zynismus von Marquis de Sade, der die Ideologie vom „Recht des Stärkeren“ in einer radikalisierten Gestalt bis hin zum Mord vertritt. Jegliches soziale Mitleid werde von De Sade als eine negative „Natureigenschaft“ der Frauen gebrandmarkt. Durch die Reduzierung der Sexualität auf die Verrichtung des Koitus verwandele er sie „gewissermaßen in einen (analog zum kapitalistischen Produktionsprozess) maschinellen Vollzug“.
Nach Kurz stellten die Ansichten Immanuel Kant insofern eine weitere Steigerung dar, als bei diesem die Konkurrenz egoistischer Einzelner als Entwicklungsgesetz der Menschheit schlechthin genommen werde. Kant betrachte den Mechanismus des weltumspannenden Kapitals „als ein Werk der ‚Hand Gottes‘“, als „Resultat eines von göttlicher Vorsehung bestimmten Gesamtzusammenhangs, einer ‚höheren Natur‘ des Systems“.
Dieser Gedanke des „weisen Schöpfers“ führe dann zu der „unsichtbaren Hand“ der Theorie von Adam Smith. Dieses Sinnbild zeige nach Kurz auf, „wie das Weltbild der modernen Ökonomie systematisch auf dem der mechanischen Physik aufbaut“. Smith beteuere, dass „durch den besessenen Aktivismus der kapitalistischen ‚Macher‘ die größtmögliche Verbesserung und die bestmögliche Verteilung“ erzielt werde, so dass sich jede Kritik erübrige. Dabei werde die „unabhängige und für sich seiende ‚Schönheit der Ordnung‘ und den Glanz der ökonomischen ‚Maschine‘, der regelmäßigen und harmonischen Bewegung des Systems‘“ verherrlicht. Smith entwickelte das Weltbild der modernen Ökonomie, das letztlich auf dem der mechanischen Physik aufbaue. Die Tätigkeit dieser neuen „Nationalökonomie“ besteht für Kurz darin, die kapitalistische Ökonomie mit dem Anspruch der Naturwissenschaft zu erforschen und gleichzeitig ihre eigene Existenznotwendigkeit stets aufs neue zu „beweisen“.
Das ethische Prinzip des „größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl“ von Jeremy Bentham propagiere eine Gesellschaft, „die jedem Menschen das Recht gibt bzw. geben sollte, ‚sein Glück zu machen‘“ wie es auch in der Formel des pursuit of happiness in der Unabhängigkeitserklärung der USA Eingang gefunden habe. Der objektive Maßstab für Glück sei letztlich das Geld, wobei bei Bentham das Eigentumsrecht in keinster Weise angetastet werden dürfe.
Erste industrielle Revolution
- „Durchsetzung des betriebswirtschaftlichen Kalküls“
Mit der Durchsetzung des Liberalismus gegenüber dem Absolutismus in der Ersten industriellen Revolution begann man nach Kurz die warenproduzierenden System „auszubauen, zu versittlichen und die Einsicht in ihre Notwendigkeit zu verallgemeinern“. Dabei werde die „kapitalistische Selbstzweck-Maschine“ als selbstverständlich vorausgesetzt und das „bürgerliche Denken“ habe „seinen Schwerpunkt zunehmend auf die Organisations- und Naturwissenschaft“ verlegt. Hierdurch sollte - so Kurz - die „Mängel und Fehler“ der besten aller möglichen Welten „durch technokratische Intelligenz“ behoben werden.
Die Konkurrenz der Unternehme habe die Marktteilnehmer nun zu einer permanenten Produktivkraftentwicklung genötigt, um das eigene Angebot marktfähig zu halten. Im Kampf um die Preise wäre es zu einer Art „Standortdebatte“ um die günstigsten Arbeitslöhne gekommen, die beginnende internationale Konkurrenz habe als Mittel der sozialen Erpressung gedient.
Bald sei der Kapitalismus quasi als „gesellschaftliches Naturereignis“ betrachtet worden. Das Paradoxon, dass er einerseits eine „bis dahin niemals für möglich gehaltene Arbeitsersparnis durch das Maschinenwesen“ erreicht, diese aber andererseits „nicht als Steigerung der gesellschaftlichen Wohlfahrt und als Lösung der sozialen Probleme“ habe nutzen können, begegnete man nach Kurz' Ansicht allein mit der Hoffnung auf eine „naturwissenschaftlich-technische Erlösung, die doch irgendwann einmal aus den Maschinenkräften selber kommen sollte“.
Kurz glaubt, dass die kapitalistische Produktionsweise in einen „unlösbaren logischen Selbstwiderspruch“ geriete, da sie einerseits „abstrakte Arbeit“ in Waren verwandele, andererseits aber menschliche Arbeit fortlaufend „durch technisch-wissenschaftliche Agenzien“ ersetzt und so die Substanz der „Wertschöpfung“ selbst aushöhle.
- „Opfer und Revolten“
Die Folgen dieses betriebswirtschaftlichen Kalküls zu Beginn der Ersten industriellen Revolution seien Massenarbeitslosigkeit und die soziale Verödung ganzer Landstriche gewesen. Mit dem Fabrikproletariat sei eine neue Kategorie von „arbeitenden Armen“ entstanden, Kinder und Frauen wären zu Niedriglöhnen in den Fabriken beschäftigt worden. Die Opfer hätten aber Widerstand geleistet, wodurch es zu Sozialrevolten gekommen sei.
Kurz betrachtet die die neue Bewegung der radikalen „Ludditen“, die auch Gewalt ausübten, als Kern der Auflehnung. Sie seien zwar rückwärtsgewandt gewesen, hätten a aber „elementare und universelle Bedingungen menschlicher Freiheit ein[geklagt], die durch das kapitalistische Markt- und Fabriksystem von Grund auf zerstört wurden“. Auf dem Kontinent spielten sich die „Brotunruhen“ vor allem in der Biedermeierzeit ab - ein Begriff, den Kurz ablehnt, da er die soziale Ignoranz der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland ausdrücke, „in der die Realexistenz des sozialen Kriegs- und Belagerungszustands zum Randphänomen der ‚notwendigen’ Modernisierungsopfer degradiert“ worden sei. Bis heute sei die Mentalität der „beinharten Besitzstandswahrung“ einhergehend mit „sentimentaler Verniedlichung und Verdrängung“ beim deutschen Mittelstand zu finden.
Das sogenannte Bevölkerungsgesetz des Pfarrers Thomas Robert Malthus stellt für Kurz den Beginn der „Biologisierung der gesellschaftlichen Krise“ dar. Durch dessen Übertragung der Behauptung, alle Lebewesen vermehrten sich stets stärker als die zur Verfügung stehenden Nahrungsressourcen, auf den Menschen, habe dieser eine Art „Endlösung“ für die Erklärung der Massenarmut und Massenarbeitslosigkeit gefunden. Damit seien die eigentlich selbstgeschaffenen Probleme des Kapitalismus zu unabänderlichen Naturgesetzen erhoben worden.
- Märzrevolution und Sozialdemokratie
Die aus dem Geist des Nationalismus - der Suche nach einer „identitätsstiftenden Konstruktion“ - resultierende Revolution von 1848 hatte Kurz zufolge im Ziel des Liberalismus, die beiden „Pole“ Staat und Markt selbst zu besetzen, ihre Ursache. Das liberale Bürgertum kämpfte dabei auch gegen eine drohende Sozialrevolte. Soziale Verantwortung sei keine Zielrichtung der Studentenschaft gewesen.
Die Niederlage des Liberalismus in der März-Revolution war für Kurz der maßgebliche Grund, der dazu beitrug,
- „die entstehende Linke (bzw. den späteren Sozialismus) für immer an die Probleme des Liberalismus zu fesseln und in eine lange historische Sackgasse hineinlaufen zu lassen“.
Der moderne Sozialismus entstand nach Kurz aus Reformgruppen (u.a. Arbeitervereinen), die vornehmlich die Sozialrevolte zu verhindern oder zu dämpfen, die Widersprüche und Restriktionen des Kapitalismus auf äußere Einflüsse zurückzuführen versucht hätten. Nur wenige Intellektuelle - allen voran Karl Marx und Friedrich Engels seien durch persönliche Erfahrungen „umgedreht“ worden. Historische Folgen seien jedoch ausgeblieben. Marx habe zwar stets Sympathie für die sozialen Aufstände geäußert, deren Impuls aber „im wesentlichen als eine Verirrung gegen ‚die Produktivkräfte’ betrachtet“. Kurz wirft dem Marxismus die Übernahme des „positivistischen, technisch-naturwissenschaftlich verkürzten Fortschrittsbegriff des Liberalismus“ vor. Ein radikale Kritik an der Modernisierungsgeschichte und ihres gewandelten Arbeitsbegriffs sei auch in der „Linken“ bis heute ausgeblieben.
Soziale Folgen im Nationalstaat
- Gründerzeit und Gründerkrach
Die Folge der Welle von Aktienspekulationen im Deutschen Reich nach 1850 war der große „Gründerkrach“ nach der Gründerzeit im Jahr 1873. Damit trat die galoppierende Industrialisierung für nahezu zwei Jahrzehnte bis Anfang der 90er Jahre in eine schleichende Stagnation ein.
In der Rückkehr zum Schutzzoll-System und einer zunehmenden Staatstätigkeit (auch bekannt als Wagnersches Gesetz) steckt für Kurz eine immanente Logik des „industriellen Kapitalismus’“, der logistische Strukturen fordere, die „nicht selbst wieder kapitalistisch nach den Gesetzen rein betriebswirtschaftlicher Rationalität betrieben werden können“. Da allerdings der Staat im liberalkonservativen Verständnis selber kein gewinnproduzierender ‚Unternehmer‘ mehr hätte sein können, sei „ein ‚Finanzierungsproblem’ seiner wachsenden Aufgaben in der industriellen Marktwirtschaft“ entstanden. Die Lösung habe allein in der moderaten Besteuerung von „Markteinkommen“ und zunehmender Verschuldung gelegen.
- Sozialstaat
Der Liberalkonservatismus sei zur Abwendung sozialer Revolten geneigt gewesen, „dem Staat eine gewisse soziale Verantwortung zu übertragen – selbstverständlich [...] untrennbar vermengt und verbunden mit seiner Repressionsfunktion“. Kurz bezeichnet dies als „Wiederverheiratung“ des Liberalismus mit dem „absolutistischen Apparat“, der in allen wichtigen Ländern Europas stattgefunden habe.
Laut Kurz habe Bismarcks bei seiner Sozialgesetzgebung eine durch machtpolitischem Kalkül geleitete Doppelstrategie gefahren: die „blanke Naturgesetzlichkeit des Marktes“ habe durch „staatlich gemanagtes Sozialwesen“ ergänzt werden sollen:
- „Parallel zum Verbotsdruck nach alter leviathanischer Manier machte seine Regierung in einer ‚klassisch’ gewordenen Weise mit den paternalistischen sozialstaatlichen Überlegungen des Liberalkonservatismus ernst und brachte eine Art ‚weiße Revolution’ von oben in der Sozialgesetzgebung hervor, die zum Prototyp des modernen Wohlfahrtsstaates im 20. Jahrhundert werden sollte“.
Kurz bezweifelt eine tatsächliche Verbesserung der sozialen Situation durch die Bismarckschen Sozialgesetzgebung, die für ihn nur die Massenarmut ‚normalisiert’ und eine Solidarisierung der Lohnarbeiter untereinander verhindert habe. In gerade dieser Situation sei die - seiner Meinung nach aus dem Liberalismus herkünftige - Sozialdemokratie zu einer gesellschaftlichen Kraft angewachsen. Da die Arbeiter der nächsten Generation keine Erinnerung mehr vorindustrielle Zustände gehabt hätten, habe sich das Fernziel des sozialistischen Staates in eine „eine ferne und unwirkliche Zukunft“ verrückt.
Biologistischer Unterbau
- Der „Kampf ums Dasein“
Eine zentrale Entwicklung im 19. Jahrhundert ist für Kurz der Darwinismus, der einen für die moderne Naturwissenschaft typischen Charakter aufweise:
- „Eine wirkliche große Entdeckung verschmolz vollständig mit einem irrationalen ideologischen Impuls und unreflektierten Interessen des kapitalistischen Fetisch-Systems, um sich schließlich mit einer enormen Zerstörungskraft aufzuladen“.
Kurz sieht Darwin in der Tradition der Aufklärung und ihrem Programm der „Vernaturwissenschaftlichung“ der Welt. Die Freigeister hätten jedoch keine echte Aufklärung im Sinne gehabt: die scheinbare Aufhebung der Religion durch die Naturwissenschaften sei nur der intellektuellen Elite vorbehalten gewesen bzw. habe doch nur einer raffinierterer Form der Gängelung und Selbst-Disziplinierung der Massen gedient.
Darwin habe geglaubt, den Mechanismus für die Evolution, d.h. die allmähliche Veränderung und Höherentwicklung der Lebewesen, im ‚Kampf ums Dasein’, d.h. in der Selektion gefunden zu haben. Die Rückprojektion dieser Lehre auf die Gesellschaft sei eine willkommene ‚naturwissenschaftliche’ Rechtfertigung für das kapitalistische Konkurrenzkonzept gewesen. Der sogenannte „Sozialdarwinismus“ sei dann schon bald von „imperialistischen Ideologen wie Friedrich Naumann, Walter Rathenau oder Max Weber“ zur Formulierung deutscher Weltmachtansprüche verwendet worden.
Für Kurz verbinden sich Darwinismus und Kapitalismus in den „Eugenik“-Bewegungen, die eine „wissenschaftlich“ basierte menschliche „Zuchtwahl“ hätten entwickeln wollen. Der Sozialdarwinismus habe die „negative Selektion“ zur Ausschaltung der ‚biologisch Minderwertigen’ der Gesellschaft eingeführt, die besonders Kriminelle und alle, die im „kapitalistischen Sinne“ arbeitsuntauglich gewesen seien. betroffen habe. Diese Ideologie des Sozialdarwinismus sei zunächst als eine Art „Fortpflanzungshygiene“ realisiert worden:
- „Während die ‚Minderwertigen’ und ‚Entarteten’ notfalls gesetzlich und mit Polizeigewalt daran gehindert werden sollten, sich fortzupflanzen, galt es andererseits als gesellschaftspolitisches Ziel, ‚erbgesundes’ Menschenmaterial nach landwirtschaftlichen Gesichtspunkten zusammenzuführen“.
- „Rassenkampf“, „Weltverschwörung“ und Sozialismus
Mit dem Darwinismus habe sich auch der moderne Rassismus verbunden, der von Kant („Race“) über Hegel bis zu Auguste Comte („Stadientheorie“) gereicht hätte und Joseph Arthur Graf de Gobineau den „Mythos der ‚arischen Edelrasse’“ erfinden habe lassen.
Die mit dem Darwinismus verschmolzene Rassentheorie habe - so Kurz - unmittelbar biologistischen Charakter angenommen. Houston Stewart Chamberlain sei dabei der Lieferant einer Interpretation der „gesamten Geschichte einschließlich der Kunstformen nach ‚rassischen’ Gesichtspunkten“ gewesen. Diese Verbindung von Darwinismus und Rassenwahn im Kapitalismus habe zu einer dualistische Rangordnung zwischen „Herrenmenschen“ und biologisch inferiorem „Menschenmaterial“ geführt. Der gesellschaftliche Wahn habe eine Projektionsfläche für die „Verkörperung seiner eigenen Negativität“ und einen ‚negativen Übermenschen’ „in Gestalt der Juden“ gefunden; eine Entwicklung, in der sich für Kurz die europäische Tradition des Antisemitismus in die kapitalistsiche Moderne transformiert habe: vor allem in der Idee einer ‚jüdischen Weltverschwörung’. Kurz glaubt, dass die kapitalistischen Logik der Marktgesetze letzten Endes nur die physische Vernichtung des „Mitkonkurrenten“ zugelassen hätten.
Kurz sieht auch in der Tradition des Sozialismus antisemitische Tendenzen, die er bereits bei Charles Fourier ausgemacht haben will, dessen 1808 erschienenen Schrift Theorie des quatre mouvements ein antisemitisches Weltbild vertreten habe. Auch Pierre-Joseph Proudhon habe den Begriff des „Kapitalismus“ auf das zinstragende Kapital der reinen Geldverleiher reduziert, seine Kapitalismuskritik sei daher nur eine antisemitische Umdeutung dieser Gesellschaftsform gewesen. Auch Marx habe in Ansätzen „immer wieder in Richtung einer Identifikation von ‚Geld überhaupt’ oder ‚Schacher’ und ‚Wucher’ mit dem ‚jüdischen Wesen’“ tendiert.
Zweite industrielle Revolution
- Beginn
Kurz charakterisiert den Beginn des 20. Jahrhunderts als eine
- „eigentümliche schizophrene Mischung aus Fortschrittsgläubigkeit und Untergangsphantasie, technokratischem Machbarkeitsdenken und biologistischer ‚Veterinärphilosophie’, Staatsräson und Marktkonkurrenz, individuellen Ansprüchen und wahnhafter Kollektivsubjektivität von ‚Nation’ und ‚Rasse’“.
Die aus der Agrargesellschaft überkommenen traditionellen Bindekräfte der Gesellschaft hätten sich immer schneller aufgelöst, die Ideen und Programme der sozialistischen Arbeiterbewegung wären zugleich „hohl und als vermeintliche historische Alternative unglaubwürdig“ geworden, da sie von Grund auf „mit den kapitalistischen Denkformen, Handlungsmustern und Interessenkategorien kontaminiert“ gewesen seien.
Mit dem Ersten Weltkriegs begann für Kurz – in Anlehnung an George F. Kennan – die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“. Er bewirkte nach Kurz ein Aufblühen des „Sozialdemokratismus“: weil die Sozialdemokraten ihren „Blutzoll treu entrichtet“ hätten, sei ihnen nun „der lang ersehnte Eintritt in die Zentren der Macht“ gewährt worden; die ausgegrenzten Sozialistenführer sei zu staatsmännischen Juniorpartnern mutiert und zum Teil der „‚schönen’ Maschine“ geworden.
- Weltwirtschaftskrise und Inflation
In den 20er Jahren (Roaring Twenties) schien eine „neue Epoche eines weltweiten Kapitalismus von Massenproduktion und Massenkonsum“ anzubrechen, doch der strukturelle Umbruch der Zweiten industriellen Revolution sei von der bis dahin größten „sozialökonomischen Transformationskrise“ überlagert worden. Trotz einer neuen Qualität und Quantität des Massenkonsums durch das „investive Konsumtionsmittel“ Automobil war der Fordismus nicht in der Lage, nahtlos an die Erste industrielle Revolution anschließen, es habe vor allem an der benötigten Infrastruktur, den dafür notwendigen Investitionen, einem intakter Weltmarkt mit weltweiten Absatzmärkten.
Der durch die inflationsbedingte Geldentwertung finanziell ruinierte Staat habe versuchte, die Schulden durch das verstärke In-Umluaf-Bringen von Geld zu kompensieren, was die Warenpreise immer schneller in die Höhe getrieben habe: von der Krise der Inflation sei nahezu ganz Europa erfasst gewesen, bis das Geldsystem völlige zerüttet gewesen sei. Kurz sieht hier die seiner Meinung nach „tiefe Irrationalität“ des Kapitalismus herausbrechen und den „Fetischismus“ dieses Gesellschaftssystems sichtbar werden. Den verlendenden Massen habe nun eine entstehene kleine Schicht von spekulativen Krisengewinnlern gegenübergestanden.
Besonders in Deutschland habe „die Mischung aus Krisenangst, phantasmagorischen Projektionen und Spekulantenhatz den alten, tiefsitzenden Dämon des Antisemitismus“ erneut geweckt, insbesondere in Gestalt der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei’ (NSDAP), einer rechtsradikalen Massenbewegung mit fundamental antisemitischer Selbstlegitimation.
- Spekulation und die Krise der Deflation
Den Regierungen sei es in dieser Situation gelungen, durch drastische Maßnahmen die Inflation zurückzudrängen, indem sich die Staaten bei ihren Bürgern als Gläubigern gewaltsam entschuldet, und damit einen gewaltigen Verarmungsschub ausgelös hätten. Der sich anschließende Aufschwung habe vor allem im Reich der Spekulation stattgefunden, mit der Folge einer beispiellose Spekulationswelle auf den Aktien- und Immobilienmärkten, wo sich zahlreiche „Aktienkünstler“ zusammengeschlossen hätten, „um den Preis für eine bestimmte Aktie hochzutreiben“ [1]. Daneben sammelte sich ein wachsendes Heer von Kleinspekulanten.
Die Blase dieses „fiktiven Kapitals“ sei am berühmten „Schwarze Freitag“ geplatzt, wobei der Börsenkrach nur den Auftakt zur bislang größten Depression der kapitalistischen Geschichte dargestellt habe. DRückzug der Geldanlagen der US-Banken aus dem Ausland habe zum Zerreisen det internationalen Kreditketten geführt: ein Prozess der Abwärtsspirale sei in Gang gekommen, von dem besonders die Investionen in Deutschland betroffen gewesen seien In den USA stieg die Arbeitslosenquote auf 25 Prozent, in Deutschland auf über 40 Prozent. Die Krise der industrialisierten kapitalistischen Welt habe durch den drastischen globalen Rückgang von Produktion und Kaufkraft alle Länder in den Strudel mitgerissen.
Das Ergebnis dieser zweiten der Weltwirtschaftskrise war nach Kurz ein „globaler deflationärer Schock“:
- „In den USA irrten nahezu mittellose Massen in ihren Ford-Autos, dem einzigen noch verbliebenen Besitz, hilflos durch das Land auf der Suche nach Gelegenheitsjobs, um ein wenig Essen und Benzin zu verdienen […]. Außer diesen bizarren mobilen Slums entstanden in den Vorstädten auch riesige neue Elendsviertel, die nie mehr ganz verschwinden sollten“.
Kurz zieht das Fazit, dass die Wirtsschaftskrise binnen kürzester Zeit die sozialen Standards wieder auf das Niveau des 18. und frühen 19. Jahrhunderts habe zurückfallen lassen.
- Diktatur und Kapitalismus
Kurz bezeichnet es als „Selbstbetrug“ und „Geschichtsklitterung“, wenn die Diktaturen des 20. Jahrhunderts in der „bürgerlichen Erklärungsweise“ als das schlechthin „Andere“ und „Fremde“ behandelt würden, „das aus den Tiefen der Geschichte emporgestiegen ist und die dunkle, antizivilisatorische Seite des Menschen überhaupt repräsentiert“. Bei einer Betrachtung der gesamten Modernisierungsgeschichte liege es Kurz zufolge nahe, „Kapitalismus, Liberalismus und Marktwirtschaftsdemokratie nicht als übergreifendes Positivum zu verstehen“, sondern als „negative und repressive Zwangsvergesellschaftung durch die monströse ‚schöne Maschine’ der ‚Verwertung des Werts’“.
Die Diktaturen des 20. Jahrhunderts wurzeln für Kurz in der kapitalistischen Produktionsweise und seien Erscheinungsform des liberalen Kapitalismus. Er behauptet weiter:
- „Aus dieser negativen, kritischen Perspektive kann besonders Auschwitz nur als die nicht mehr zu überbietende äußerste Konsequenz der liberalen Ideologie in der Tradition von Hobbes, Mandeville, de Sade, Bentham, Malthus u. Co. verstanden werden“,
deren „Naturalisierung und Biologisierung des Sozialen“ eine „historische Schicht von Auschwitz“ darstelle.
In den Diktaturen des 20. Jahrhunderts habe sich „nur der liberale Terror des Frühkapitalismus auf höherer Stufenleiter der Entwicklung und mit verschobenen ideologischen Legitimationsmustern“ wiederholt. Schon in der Doktrin von Hobbes sei „die Identität von Liberalismus und Diktatur enthalten“ gewesen.
- „Staatskapitalismus“ der Sowjetunion
Kurz betrachtet die Geschichte der „staatskapitalistischen Sowjetunion“ als „Prototyp der staatsökonomischen ‚nachholenden Modernisierung’ im 20. Jahrhundert“. Die Sowjetunion habe seiner Ansicht nach in einer doppelten „historischen Zwangslage“ gesteckt:
- konfrontiert mit der „Präsenz des kapitalistisch vorausgeeilten Westens“ habe sie keinen grundsätzlich anderen Entwicklungspfad mehr einschlagen können; vielmehr sei auch das ‚Weltbewußtsein’ bereits ein kapitalistisch geformtes gewesen
- sie sei in einer von den Standards der vom zeitgenössischen Kapitalismus bestimmten Welt gezwungen gewesen, direkt auf dem Niveau des 20. Jahrhunderts einsteigen.
Kurz ist daher der Meinung, dass die „Verbrechen des Kommunismus“ nichts anderes gewesen seien als „die zeitlich komprimierte Wiederholung der frühkapitalistischen Schrecken“. Die Millionen Hungertoten der frühen 30er Jahre seien die Folge einer rigiden Industrialisierungspolitik zum gewaltsamen Aufbau von (staats)kapitalistischen Industriesystemen geschuldet gewesen, in der Hoffnung, sich mit frühkapitalistischen Methoden an die Spitze der Weltentwicklung setzen zu können.
Kurz konstatiert allerdings in der „sowjetischen ‚nachholenden Modernisierung’“, wie auch in der Ideologie der „Arbeiterbewegung und der Linken überhaupt“ ein bis heute „uneingelöstes Moment“: den „Traum“ von der „freien und bewussten Selbstorganisation“, der sich - wenn auch nur kurzzeitig - insbesondere im Begriff des „Sowjet“ manifestiert gehabt hätte, bevor diese zu „bloßen Attrappen“ degeneriert seien.
- Keynes
Nach der Weltwirtschaftskrise war nach Kurz der Glaube an die „Doktrin der ‚unsichtbaren Hand’“ verloren gegangen, was sich im Übergang „zu einer allgemeinen staatsökonomischen Regulation, zum Staat als wesentlichem Wirtschaftssubjekt“ ausgedrückt habe. Für die USA habe der New Deal von „Roosevelts den tiefsten Einschnitt in ihrer Wirtschaftsgeschichte dargestellt. Die staatsökonomischen Ansätze der Krisenbewältigung seien dabei Hand in Hand mit der Schaffung der bislang unzureichenden logistischen Rahmenbedingungen für die Zweite industrielle Revolution gegangen. In Nazi-Deutschland seien die staatsökonomischen Eingriffe „weitaus stärker als im New Deal vorangetrieben“ worden. Der eigentlich „fordistische Durchbruch“ wurde so für Kurz mit den „Finanzmethoden der Kriegswirtschaft“ erreicht, in dem die absolute Schranke des „kapitalistischen Selbstwiderspruch“ noch einmal hinausgeschoben hätte werden können.
Parallel zu diesen Entwicklungen habe der britische Ökonom John Maynard Keynes „die dazugehörige Theorie des ‚Deficit spending’“ entwickelt. Keynes hielt das bis dahin gültige Saysche Theorem für im Grundatz falsch Kurz bemerkt kritisch, dass Keynes selbst zugegeben habe, dass es sich bei dessen Theorie „im Grunde nur um einen ‚Aufschub‘ der absoluten Grenze kapitalistischer Produktion handeln kann. Ebenso unfreiwillig enthüllt er die Absurdität der dem Kapitalverhältnis inhärenten Logik“. Die erste Runde des ‚Keynesianismus‘ sei in einen neuen Rüstungswettlauf gemündet: wieder einmal sei der Krieg der Vater aller Dinge gewesen, Hitler gewissermaßen der Exekutor dieser mörderischen ‚List‘ des Aufschubs gewesen.
Als Ergebnis dieser Entwicklung sieht Kurz den Zweiten Weltkrieg, über den er das folgende Resümee zieht:
- „Dieser neuerliche Triumph der ‚schönen Maschine‘ kostete insgesamt 55 Millionen Menschen das Leben, große Teile Europas und Asiens wurden verwüstet. Aber merkwürdig: Die abermaligen und ungeheuerlichen ‚Kosten der Modernisierung‘, die quantitativ wie qualitativ allen bisherigen Terror und Horror des Kapitalismus übertrafen, riefen kein geistiges Echo der tiefen Erschütterung mehr hervor [...] Es war, als liefe das bis ins Mark demoralisierte Menschenmaterial geradezu gleichgültig und bereits roboterhaft kalt durch eine Feuerwand in den kommerziellen, endgültig entgeistigten Stumpfsinn des kommenden trostlosen Konsumparadieses hinein.“.
In der Nachkriegszeit sei es dann darum gegangen, „die kriegswirtschaftlichen Strukturen [...] in ‚zivilökonomische’ Regulationsformen zu überführen und zu einem dauerhaften System auszubauen“.
Kapitalismus der Nachkriegszeit
- Strukturveränderungen
Nach dem Zweiten Weltkrieg schien – so Kurz – der Kapitalismus wie „ein Phönix aus der Asche“ emporzusteigen. Es habe den Anschein gehabt, dass tatsächlich ein ‚goldenes Zeitalter’ heranbrechen werde. Diese Nachkriegsprosperität sei eine mehr oder weniger globale Erscheinung gewesen. In Deutschland sei sogar das „Zauberwort“ des Wirtschaftswunders geprägt worden - wobei der Begriff nach Kurz' Ansicht bereits das Exzeptionelle dieser Entwicklung ausdrücke.
Bis ca. 1950 sei der Markt kein einheitlich kapitalistischer gewesen. Erst der „Nachkriegs-Fordismus“ habe eine „flächendeckende Erzeugung und Distribution aller Gebrauchsgüter durch das fordistische Industriekapital und seinen ‚Arbeitsstaat’“ geschaffen und brachte die „traditionellen Sektoren“ (Subsistenzproduktion, Familienproduktion, Landwirtschaft) fast völlig zum Verschwinden. Dies bedeute, dass die Bevölkerung insgesamt „in einem höheren Maße der kapitalistischen Gesellschaftsmaschine ausgeliefert“ gewesen sei.
- „Kapitalistischer Totalitarismus“ und „Mobilmachung“
Kurz sieht die Zweite industriellen Revolution wesentlich durch den Begriff des „Totalitären“ gekennzeichnet. Er wirft den gängigen Totalitarismus-Theorien vor, dass in ihnen der Begriff „totalitär“ nur im „staatlich-politischen“ Sinne definiert werde, „während der ökonomische völlig ausgeblendet“ bliebe, obwohl der politische Totalitarismus seine Grundlage in einem ökonomischen habe. So seien „sowohl die stalinistische als auch die Nazi-Diktatur ebenso wie der italienische Faschismus auf dem Boden des warenproduzierenden Systems entstanden“.
In den Nachkriegsdemokratien würde sich eine „totale Mobilmachung“ in der Aufforderung zu sich „ständig steigernden, immer unsinnigeren Warenkonsum“, „Leistung“ und „Konkurrenz“ zeigen, von der vor allem die Frauen durch die „Industrialisierung der Hausarbeit“ betroffen seien, die durch den nötigen Beruf zur Deckung der Kosten für die Haushaltselektronik die Doppelbelastung der Frau verursacht habe. Weiterhin empfindet Kurz den massenhaften Autoverkehr als „totale Automobilmachung“, als kriegsähnlichen Zustand, der im Laufe des 20. Jahrhunderts etwa 17 Millionen Tote gefordert habe. Diese „Menschenopfer“ würden als normal, notwendig und schicksalhaft dargestellt.
Kurz glaubt, dass die Vorstellung, dass mit dem Kapitalismus immer mehr Freizeit und Spaß für den Menschen einhergehen werde, im Hinblick auf den Zusammenhang mit einer „Arbeitszeitverkürzung“ zu relativieren sei. Diese beschränke sich zum ersten nur auf wenige reiche kapitalistische Zentren, vor allem die Länder des kontinentalen Westeuropas. Zum zweiten sei die Arbeitszeitverkürzung nur eine temporäre Erscheinung in der Phase schnellen Wirtschaftswachtums gewesen. Zum dritten würde die Zeitverkürzung durch eine übermäßige Steigerung der Arbeitsbelastung für den einzelnen überkompensiert. Auf der anderen Seite sei Freizeit nur „scheinbar frei disponible Zeit“, denn im „Freizeitkonsum“ - im Massentourismus etwa würde die „Mobilmachung“ auch auf die frei Zeit ausgedehnt - setze sich die „kapitalistische Konditionierung“ fort, so dass es schlußendlich keinen sozialen Raum mehr außerhalb dieser mehr gebe.
- „totalitäre Demokratie“
Kurz ist der Ansicht, dass auch die Demokratie ein totalitäres Element enthalte. So habe bereits Ludendorff erkannt, dass „das Menschenmaterial des Verwertungsprozesses in keiner anderen Staatsform so widerspruchslos und kostengünstig an der Leine geführt werden kann wie in der Demokratie“[2]. Den Grund dafür sieht Kurz auch darin, dass das gesellschaftliche Leben letzten Endes gar nicht durch bewusste gemeinsame Entscheidung der demokratischen Gesellschaftsmitglieder gesteuert werde, da die demokratischen Prozeduren von freier Meinungsäußerung, politischer Willensbildung und freien Wahlen den Wirkungen der ‚Gesellschaftsphysik’ von anonymen Märkten nur nachgeschaltet seien: alle demokratischen Entscheidungen seien immer schon im Voraus durch die Automatik des ökonomischen, naturgesetzhaft verstandenen Systems festgelegt.
Hinter den drei staatlichen Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative stehe nach Kurz also immer auch die strukturelle (vierte) Gewalt eines totalitären Marktsystems, welches seit Rousseau unter dem Namen des abstrakten „Gemeinwohls“ firmiere, und auf die sich die postulierte ‚Volkssouveränität’ nicht erstrecke. Ein letzter totalitärer Charakter zeige sich ebenfalls in der totalen Bürokratie der Menschenverwaltung in den Demokratien.
- Weltzerstörung und Bewusstseinskrise
Am Wendepunkt der wirtschaftlichen Prosperität Anfang der 70er Jahren wurden laut Kurz deren Folgen sichtbar: die umfassende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Kurz führt diese Entwicklung auf die Logik der ‚abstrakten Arbeit’ zurück, die ihre Kosten auf die Gesamtgesellschaft, die Zukunft und eben auch auf die Natur abwälze. Letzteres sei bereits dem jungen Friedrich Engels in seiner Analyse Lage der arbeitenden Klasse aufgefallen. Jedoch erst mit der kapitalistischen „Totalmobilmachung“ sei die Natur nun der abstrakten betriebswirtschaftlichen Vernutzungslogik vollständig ausgeliefert gewesen.
Im Jahr 1972 seien erstmalig die Grenzen des Wachstums nach einer gleichnamigen Studie des Club of Rome weltweit debattiert worden, in der nun endlich das Verhältnis von Wachstumszwang und natürlichen Rohstoffen zur Sprache gekommen sei. Kurz kritisiert an dieser Studie, dass darin „der destruktive Charakter betriebswirtschaftlicher Rationalität bestenfalls indirekt“, als „bedauerliche Nebenwirkung der ‚Industriegesellschaft’“ vorkomme. Kurz meint zu erkennen, dass die offizielle Gesellschaft die Debatte über die Grenzen und destruktiven ökologischen Folgen des Wachstums nur aufnahm, um das Problem besser verdrängen zu können: die eigentliche Ursache der ökologischen Katastrophe sei folgenlos zerredet, oder in die unverbindliche Propaganda einer „Versöhnung von Ökonomie und Ökologie“ überführt worden.
Erst die revoltierende Studentenbewegung habe wieder von einer Welt träumen können, die vom kapitalistischen Selbstzweck der ‚schönen Maschine’ erlöst sei und die Produktionstätigkeit auf vielleicht zwei oder drei Stunden am Tag reduzieren würde.
- „Erstmals seit vielen Jahrzehnten gab es wieder so etwas wie den Versuch, eine authentische Reformulierung der Marxschen fundamentalen Kapitalismuskritik zu wagen. Der Pariser Mai schien das System in seinen Grundfesten zu erschüttern“.
Kurz zieht allerdings die Bilanz, dass die „Bewegung von 1968 im Sinne der sozialen Emanzipation restlos gescheitert“ sei. Die radikale Kritik an Warenform und ‚abstrakter Arbeit’ sei schließlich nicht weiter verfolgt worden, stattdessen seien die Studenten wie schon zuvor die Arbeiterbewegung „auf die schiefe Bahn der ‚Politik’“ geraten.
Dritte industriellen Revolution
Analyse
Die Dritte industrielle Revolution hat für Kurz ihre technologische Basis in der Elektronik und den Informationswissenschaften. Die mit ihr verbundene Automatisierung führt seiner Ansicht nach „zu einer qualitativ neuen Stufe der Massenarbeitslosigkeit und damit der Systemkrise“. Die logisch einzig mögliche Verlaufsform der Automatisierung im Kapitalismus sei Massenarbeitslosigkeit. Das Hauptproblem bestehe darin, dass jene Menschen, die nun „überflüssig“ seien, aus dem System des Geldverdienens und der Konkurrenz ausgestoßen würden, obwohl dieses weiterhin ihre unausweichliche Existenzgrundlage bilde. Das „Ende der Arbeitsgesellschaft“ droht Kurz zufolge in einen „wirklichen historischen Systemzusammenbruch“ zu münden, da mit der Arbeit die „Substanz des Kapitals selbst“ auszugehen drohe.
Für die Dritten industriellen Revolution waren nach Kurz im Wesentlichen zwei Innovationen maßgebend: die Kybernetik und die elektronische Rechenmaschine. Parallel zum Aufstieg der mikroelektronischen Revolution nach dem zweiten Weltkrieg - besonders seit den 80ern - habe sich die „als ‚strukturell’ bezeichnete Massenarbeitslosigkeit“ entwickelt:
- „Die Arbeitslosigkeit war insofern eine strukturelle geworden, als sie nicht mehr in Korrespondenz mit dem konjunkturellen Zyklus an- oder abschwoll, sondern unabhängig davon kontinuierlich wuchs“.
Lösungsversuche des zeitgenössischen Liberalismus zu dieser Problematik hält Kurz für grotesk. Die Argumentation Dahrendorf, eine radikale Absenkung des Niveaus von Reallöhnen und Sozialleistungen vorzunehmen hält er nicht nur für einen nicht funktionierenden Ausweg, sondern empfindet selbst das Ansinnen solcher Zumutungen für die Lohnarbeiter als absurd. Die „einzig vernünftige Konsequenz“ bestünde für Kurz darin, im Einklang mit dem technischen Fortschritt „mehr Muße für alle einzuklagen, bei voller Beteiligung aller an den Früchten der ungeheuer angewachsenen Produktivität.“
Kurz zieht das Fazit, dass die Dritte industrielle Revolution in nur knapp 20 Jahren die größte Weltkrise seit 1929 heraufbeschworen habe, die nicht nur die überwunden geglaubte Massenarbeitslosigkeit zurückgebracht, sondern auch auch die Geldwirtschaft in vielen Ländern bereits zusammenbrechen habe lassen. Hier trete der immanente Selbstwiderspruch des Kapitalismus final zutage.
Soziale Folgen
Für Kurz haben die ökonomischen Krisen der beiden letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, einhergehend mit dem staatlichen Rückzug aus der sozialen Verantwortung und dem Erstarken des Neoliberalismus zur größten Welle von Massenverarmung seit dem frühen 19. Jahrhundert geführt. Dabei sei der größte Teil der Dritten Welt vollständig ruiniert worden, inklusive der aufstrebenden südostasiatischen Länder, ebenso die Staaten der ehemaligen Sowjetunion und in ganz Osteuropa. Aber auch im Westen würden jährlich größere Regionen und Bevölkerungsgruppen der Massenverarmung anheimfallen. Er zieht daraus den Schluss, dass das globale kapitalistische System vollkommen versagt habe.
- Einkommen
Gemäß dem Weltbank-Bericht von 1999 sei „die Zahl der Menschen, die mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen muss, kontinuierlich“ gestiegen. Der marktwirtschaftliche Verarmungsprozess in den industrialisierten Ländern habe dabei „ein relativ höheres Tempo angenommen [..] als in der ohnehin schon vom Massenelend gezeichneten Dritten Welt“. Dies gelte „vor allem für die ehemaligen staatskapitalistischen Länder des Ostens, aber inzwischen eben auch für die westlichen Kernländer selbst. In Europa lebten nach Angaben der EU schon 1996 mindestens 150 Millionen Menschen in Armut“.
Mit der „Verschiebung der noch vorhandenen ‚Beschäftigungsverhältnisse’ in Richtung Billiglohn, wie sie die USA vorexerzierten“, habe sich eine „Erwerbsarmut“ herausgebildet. Zu den „Erwerbsarmen“ kommen die Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger und „verdeckten Armen“, die ihre Berechtigung zur Sozialhilfe nicht in Anspruch nehmen. Die „am meisten verelendete Kategorie bilden dabei all diejenigen, deren ‚Arbeitskraft’ nicht einmal mehr potentiell oder nur in eingeschränktem Maße vernutzbar ist: Kinder, Alte, Behinderte, psychisch Kranke, Gefangene“.
- Kinder
Die Kinderarbeit in der Dritten Welt habe rapide zugenommen. Auch in der BRD müssen „nach Angaben des Deutschen Kinderschutzbundes 700000 Kinder unter 15 Jahren arbeiten.
In den USA stirbt alle fünf Tage „ein arbeitendes Kind, wie aus einer amtlichen Statistik hervorgeht. Rund 200000 Minderjährige werden jedes Jahr an ihrem Arbeitsplatz verletzt“ [3].
Das Phänomen der Straßenkinder habe sich „ebenfalls von der Dritten in die Erste Welt ausgedehnt. In Russland leben heute mindestens zwei Millionen Kinder auf der Straße. Nicht besser steht es in den USA und Großbritannien, wo neben der offen sichtbaren Bildung von neuen Slums auch die Straßenkinder immer stärker das Bild der Städte prägen. In der BRD sind die bereits sprichwörtlichen Berliner Straßenkinder zum Massenphänomen geworden“.
- Hunger
Die 90er Jahren haben „zusammen mit der exorbitanten Steigerung der Produktivkräfte“ auch zu einem weltweiten Anschwellen des Hungers geführt. Kurz kritisiert dabei die Vielzahl von Hungerhilfs-Organisationen, die niemals Kritik „an jenem globalen warenproduzierenden System“ üben würden, deshalb „blieben all die vielen Hilfsmaßnahmen auch ohne jeden nachhaltigen Nutzen und wurden von der Logik des Weltmarkts überrollt. 1996 musste die Welternährungskonferenz feststellen, dass auf der ganzen Erde 840 Millionen Menschen hungern. [...] Inzwischen dürften es nach den neuen Armutsschüben in Osteuropa, Asien, Lateinamerika und im Westen selbst über eine Milliarde Menschen sein, die nicht mehr genug zu essen bekommen“.[4]
In den USA seien nach offiziellen Angaben des Landwirtschaftsministeriums „Millionen von Menschen unterernährt, vor allem Kinder“. In Großbritannien kehrten „bei den Kindern der neuen Unterschicht die alten Mangelkrankheiten des 19. Jahrhunderts“ zurück“, während sich der Staat bei der Nahrungsmittelhilfe zunehmend verhärtet.
- Medizinische Versorgung
Ähnliche Tendenzen gebe es bei der medizinischen Versorgung. „In den USA, wo es keinerlei gesetzliche Krankenversicherung gibt, ist ein Großteil der Bevölkerung medizinisch völlig ungesichert. Aber auch in Ländern mit gesetzlicher Krankenversicherung könne „der ‚Kostenfaktor’ immer weniger in marktwirtschaftlichen Kategorien abgebildet werden. Die Schere geht auch in dieser Hinsicht auseinander: während die medizinischen Kosten steigen, fallen die Einkommen der Versicherten. Im Zuge der allseitigen neoliberalen Privatisierung konzentrieren sich die privaten Kassen auf die Besserverdienenden“. Die gesetzliche Krankenversicherung werde dagegen überall zur „Armenkasse“.
Dieser Trend in den westlichen Ländern werde „vom Rest der marktwirtschaftlichen Welt nur insofern übertroffen, als es in den meisten östlichen und südlichen Ländern (Ausnahme: Kuba) medizinische Hilfe sowieso nur noch gegen Cash gibt. Die „Zweiklassenmedizin“ sei in der BRD „längst alltägliche Praxis; und in anderen westlichen Ländern sowieso“. Obwohl alle medizinischen Ressourcen überreichlich vorhanden sind, gelangen sie immer weniger zu den herausgefallenen Menschenmassen, weil sie wie alle anderen Dingen des Lebens in irgendeiner Form durch das Nadelöhr der kapitalistischen Ökonomie hindurchmüssen. Gerade in dieser Hinsicht wird buchstäblich der menschliche Körper und sein Leben unter ‚Finanzierungsvorbehalt’ gestellt“.
In einer „zunehmenden Zahl von Fällen“ würde „die Geldarmut sogar dazu ausgenutzt, die Armen als regelrechte Organbanken für die Besserverdienenden auszuschlachten“. Als „medizinisches Menschenschlachthaus“ biete sich dabei die „vom Weltmarkt ruinierte Dritte Welt“ geradezu an, wohin „in den 90er Jahren ein sogenannter ‚Nierentourismus’ eingerissen“ sei [5] – für Kurz das wohl „letzte noch denkbare Stadium der Angebotsökonomie“.
- Altenpflege
Die allgemeine „Dehumanisierung des kapitalistischen Medizin- und Gesundheitswesens“ setze sich auch „in der Art und Weise fort, wie mit geistig oder körperlich Behinderten und vor allem mit pflegebedürftigen Alten umgegangen wird“. Allein schon die Existenz von Alten- und Pflege-„Heimen“ zeige, dass „die Verwertungsmaschine im Laufe ihrer Entwicklung den Menschen immer weniger Zeit gelassen hat, [...] so dass selbst nächste Angehörige nicht von vertrauten Personen gepflegt werden können“. „Für viele in der marktwirtschaftlichen Tretmühle vor sich hin strampelnde Einzelkämpfer hat selbst die eigene Mutter, ist sie erst einmal hinter den Mauern irgendeiner Anstalt verschwunden, nur noch den Status einer Art entfernten Verwandten, die man allmählich aus den Augen verliert“.
Dass das alles auch ganz anders geregelt werden könnte, komme niemandem mehr in den Sinn. „Human wäre es einzig und allein, dass Pflegebedürftige im Kreis vertrauter Menschen ihr Leben zu Ende leben können – und dass die Gesellschaft die Mittel und den Zeitfonds dafür bereitstellt, dass das geschehen kann“.
Aber selbst „auf dem Weg in die Dehumanisierung“ mache sich „das soziale Auseinanderbrechen der Gesellschaft noch in drastischer Weise bemerkbar“. „Während die Besserverdienenden ihre zu entsorgenden Angehörigen in Luxus-Altenverwahranstalten abschieben können, nehmen die Altenheime für die verarmten Massen unter dem zunehmenden ‚Kostendruck’ KZ-ähnlichen Charakter an“.
- Zukunftsperspektiven
Kurz sieht mit „der fortschreitenden Dehumanisierung des Kapitalismus“ einen „demokratischen Gulag“ heraufziehen. Dieser Gulag gliedere sich in drei Abteilungen.
- Die erste Abteilung bestehe „aus den Anstalten der Menschenverwahrung und Einschließung, in denen immer mehr überflüssige, delinquente oder sonstwie unverwertbare Menschen verschwinden und die selber zu einem gewaltigen Kostenfaktor angeschwollen sind: Gefängnisse, Zuchthäuser, Drillanstalten, ‚Heime’ aller Art, Armenkliniken, psychiatrische Anstalten etc.“
- Die zweite, „mittlere und größte Abteilung besteht aus den Massen der Arbeitslosen und Herausgefallenen, die von der demokratischen Armuts- und Krisenverwaltung bürokratisch ‚auf Trab’ gehalten, drangsaliert, gedemütigt und zunehmend auf Hungerrationen gesetzt werden“
- Die dritte Abteilung bildeten „die teilweise sogar aus der Statistik herausgefallenen Obdachlosen, Straßenkinder, Immigranten, Asylbewerber und sonstigen Illegalen, die ganz am Rande der Gesellschaft vegetieren und nicht einmal mehr durchgehend verwaltet werden, sondern nur noch sporadisches Objekt von Polizei- und gelegentlich sogar Militäreinsätzen (oder in manchen Ländern von privaten Todesschwadronen) sind“.
Epilog
Das Schlusskapitel des Buches endet in der pessimistischen Prognose, dass „der ‚Bewusstseinssprung‘ nicht mehr vollzogen wird, der für eine neue soziale Emanzipationsbewegung erforderlich wäre“, die zu einer Überwindung des Kapitalismus' führen könnte. Dieser sei aber dennoch nicht überlebensfähig, da der Funktionsmechanismus der „schönen Maschine“ nicht verändert werden könne. Kurz befürchtet als Konsequenz „die unaufhaltsame Entzivilisierung der Welt, wie sie jetzt schon überall sichtbar wird“. Als einzige Handlungsalternative sieht er in einer solchen Situation „eine Kultur der Verweigerung“. Diese bedeute, „jede Mitverantwortung für ‚Marktwirtschaft und Demokratie‘ zu verweigern, nur noch ‚Dienst nach Vorschrift‘ zu machen und den kapitalistischen Betrieb zu sabotieren, wo immer das möglich ist“.
Rezeption
Kurz Buch provokatives und den Verkaufszahlen nach erfolgreiches Buch hat zu Kontroversen geführt. In der Rezeption fallen die kritischen Stimmen teilweise sehr scharf aus. Die positiven Stimmung begrüßen dabei vor allem Kurz' Vorgehen einer radikalen Kritik am Wirtschaftssystem; die negativen hingegen werfen ihm äußerst grundlegende methodische Mängel, (historische) Verfälschung und den Aufruf zu einer verfehlten Rebellion vor oder auch das Fehlen praktischer Konsequenzen.
Das Unternehmen dieser „fulminanten und radikalen Kritik am kapitalistischen Weltsystem“ wird in der FR hinsichtlich „Zeiten gesellschaftlicher Tabuisierung von Kapitalismuskritik“ als ein „kühnes Unterfangen“ bezeichnet.[6] Der positive Beitrag einer Kontroverse der ZEIT hält es für „die wichtigste Veröffentlichung der letzten zehn Jahre in Deutschland“.[7] Gelobt wird hier auch die detaillierte Vorgehensweise[7] sowie von der WOZ das „Materialreichtum“[8]. Trotz Mängel könne man - so die FR - seiner „zeitkritischen Diagnose einer Verhärtung der kapitalistischen Bewusstseinsform“ durchaus zustimmen.[6] Für den insgesamt sehr lobenden Beitrag der ZEIT ist das Buch „ein großer Wurf, ein wahrhaft notwendiger Protest“ zu dessen wichtigsten Erkenntnissen es gehöre, „dass es immer nur relativ kurze Phasen waren, in denen ein expandierender Kapitalismus so etwas wie Massenwohlstand hervorbrachte, und das auch das nur in Westeuropa, Angloamerika und Japan.“[7]
Kurz' Vorgehen wird grundlegend kritisiert: Problematisch sei insbesondere seine Verwendung von 'Kapitalismus'. Er – so übereinstimmend die stark ablehnende SZ sowie der kritische Beitrag in der ZEIT – definiere den Begriff nicht, verwende ihn undifferenziert[9][10], als „Kampfbegriff“[9] und – wie die auch viele gute Worte findende FR kritisiert – behaupte der Kapitalismus sei an allem Schuld.[6] Andere Aspekte – bemängelt, der ablehnende Artikel in der FAZ –, die für Probleme beispielsweise in Afrika oft als ursächlich angesehen würden, würden ausgeblendet bzw. dem undifferenziertem Kapitalismusbegriff angelastet.[11] In der Folge gehe er die „kaum von der Hand zu weisen[den]“ „Defizite“ des Kapitalismus nicht an und schütte „das Kind mit dem Bade aus.“[11] Die SZ diagnostiziert einen verfehlten Ansatz: „Anstatt nun aber zu fragen, warum gerade der Kapitalismus sich alternativlos durchgesetzt hat, [...], verbeißt sich Kurz in alte Denkschemata. Ob und wie die Fehler und Defekte des Kapitalismus korrigiert oder zumindest durch politische Gestaltung aufgefangen werden können – all das interessiert ihn nicht.“[9] Kurz' Vorgehen und insbesondere der durch die historische Perspektive zu großen Kontext und das Postulieren historischer Notwendigkeit stehe einer sinnvollen fundamentalen Analyse unseres Wirtschaftssystems im Wege.[9]
Kurz' Weise der historischen Auseinandersetzung wird kritisiert. Die historische Darstellung selbst sei – so die SZ deutlich – „ein Sammelsurium fragwürdiger Analogien und anmaßender Urteile“[9]. Der FREITAG meint, es werde Beliebiges aus der Historie herausgegriffen.[12] Außerdem fehlt der SZ eine Auseinandersetzung mit Denkansätzen, die nicht in Kurz' Weltbild passten.[9]
Ein von Kurz gefordertes Rätesystem hält die FAZ wegen des - aufgrund der ausdifferenzierten Gesellschaft - nicht existierenden einheitlichen Volkswillens für einen „Ladenhüter des neunzehnten Jahrhunderts“. Auch die von Kurz genannte Alternative einer Revolution bzw. verweigernden Rebellion sei nicht überzeugend und sein Aufruf hierzu „mache das Buch endgültig zum Skandal“.[11]
Auch aus marxistischer Sicht wird Kurz' Werk scharf kritisiert. In einem ausführlichen Beitrag der Vierteljahres-Zeitschrift Gegenstandpunkt wird an Kurz' Vorgehensweise bemängelt, dass er anstatt den Kapitalismus zu analysieren, nur „unliebsame Wahrheiten“ über den Kapitalismus „'bewusst [...] machen'“ wolle. Methodisch zweifelhaft sei Kurz' Technik mittels „Assoziation“ den notwendigen Verlauf der Geschichte zu konstruieren als eine Bestätigung für sein Bild vom Kapitalismus. Schließlich kritisiert der Artikel Kurz Kritik am Kapitalismus als einen „Kitzel des methodischen Dagegen-Seins ohne Anspruch und unter explizitem Verzicht auf theoretische Kritik wie praktische Konsequenzen“.[13]
Anmerkungen
- ↑ Zitiert nach John Kenneth Galbraith: Die Geschichte der Wirtschaft im 20. Jahrhundert. Ein Augenzeuge berichtet, Hamburg 1995.
- ↑ vgl. Erich Ludendorff: Der totale Krieg, München 1935
- ↑ zitiert nach David Foster: Alle fünf Tage stirbt ein arbeitendes Kind. Trotz gesetzlichen Verbotes arbeitenin den Vereinigten Staaten sogar Vierjährige, Associated Press (AP) 1997.
- ↑ Vgl. dazu die Zahlen in:definitionen: Was ist Hunger? (taz vom 11.6.2002, S. 3)
- ↑ vgl. Der Spiegel 46/1996.
- ↑ a b c Günther Frieß Frankfurter Rundschau, 25. Mai 2000
- ↑ a b c Hans-Martin Lohmann, Schwarzbuch Kapitalismus: Die Zeit, 51/1999 (PDF) bzw. Online.
- ↑ Stefan Zenklusen, Robert Kurz. Schwarzbuch Kapitalismus: Die Wochenzeitung, 07/2000.
- ↑ a b c d e f Michael Birnbaum, Wer hat Angst vorm schwarzen Buch?: Süddeutsche Zeitung (Mediathek/SZ-Rezension).
- ↑ Robert Heuser, Schwarzbuch Kapitalismus: Die Zeit, 51/1999 (PDF) bzw. Online.
- ↑ a b c Ralf Altenhof, Militant und skandalträchtig: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Januar 2000 (Rezension: Sachbuch).
- ↑ Balduin Winter, Die Gedanken sind frei – Des Ableitungsfanatikers Robert Kurzens Katzenkonzert auf die Marktwirtschaft: Freitag 05, 26. Januar 2001.
- ↑ In Gegenstandpunkt 3/2000; siehe R. Kurz: „Schwarzbuch Kapitalismus – ein Abgesang auf die Marktwirtschaft“: Die Intellektuellenfibel für den Abgesang auf Kapitalismuskritik
Ausgaben
- Robert Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft. Ullstein, München 2001, ISBN 3-548-36308-3
- Schwarzbuch Kapitalismus – das Buch komplett als e-book zum Download (PDF-Datei; ca. 2,5 MB)
Siehe auch
Weblinks
- Debatte
- „Das wundersame Überleben der unmittelbaren Subjekte“ - eine Kritik von Udo Wolter
- „Sozialrevolten und Subjektkritik“ - eine Replik von Ernst Lohoff
- Weiteres
- http://home.pages.at/der-stoerenfried/zeitung/a02/10.htm
- http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/co/5659/1.html
- Rezension in der ZEIT
- R. Kurz: „Schwarzbuch Kapitalismus – ein Abgesang auf die Marktwirtschaft“: Die Intellektuellenfibel für den Abgesang auf Kapitalismuskritik eine marxistische Rezension des Buches in der Nummer 3/2000 der Zeitschrift „GegenStandpunkt“