Geschichte des Antisemitismus bis 1945

Abneigung und oder Feindschaft gegenüber den Juden
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Antisemitismus (auch: Anti-Semitismus) ist ein von Wilhelm Marr geprägter Begriff für eine allgemeine Judenfeindlichkeit, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auftritt und nicht mehr primär mit dem Christentum, sondern mit Nationalismus, Sozialdarwinismus und Rassismus begründet wird.

Antisemiten betrachten Juden pseudowissenschaftlich als geschlossene Abstammungseinheit mit negativen Eigenschaften, die angeblich erblich und somit auch durch einen Religionswechsel nicht zu verändern seien. Sie zählen daher auch Personen, welche durch Taufe von der jüdischen zur einer christlichen Religion konvertierten und ihre Nachfahren zu einer Minderheit, die sie - oft in Form einer Verschwörungstheorie - für eine Vielzahl tatsächlich oder vermeintlich negativer Entwicklungen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur verantwortlich machen.

Diese Ideologie reagierte auf europäische Moderne und Aufklärung und war zugleich eines ihrer Krisensymptome. Sie verband sich mit unterschiedlichen antiaufklärerischen, antidemokratischen, antikapitalistischen und antisozialistischen Zielen. Antisemitische Parteien forderten die Vertreibung und Vernichtung der europäischen Juden und bereiteten damit den Holocaust/Schoa durch den Nationalsozialismus mit vor. Für dessen Weltanschauung und Programmatik war der Antisemitismus zentral.

In der wissenschaftliche Literatur sind verschiedene zeitliche Gliederungen des Phänomens anzutreffen. Die hier vorgenommene Abgrenzung von circa 1700 bis 1945 intendiert weder besondere Bruchlinien noch Kontinuitäten. Zwecks besserer Einordnung in den Gesamtzusammenhang, sowie zu Teilgebieten sei auf die Artikel Antisemitismus, Antijudaismus, Antike Judenfeindschaft, Antijudaismus im Mittelalter, Antijudaismus in der Neuzeit, Antisemitismus nach 1945, Antisemitismus in islamischen Ländern, sowie Antizionismus verwiesen.

Überblick

Schon der Antijudaismus im Mittelalter und in der frühen Neuzeit diskriminierte und verfolgte Juden als Volk. Der darauf aufbauende moderne Antisemitismus entstand seit etwa 1789: genau zu der Zeit, als ältere antijüdische Vorurteile aufgrund der aufgeklärten Begründung und französischen Durchsetzung der allgemeinen Menschenrechte zunehmend an Überzeugungskraft einbüßten. Er war durch tiefgreifende gesellschaftliche Umbrüche mitbedingt: Säkularisierung, Industrialisierung und die widersprüchlich verlaufene allmähliche Demokratisierung.

In fast ganz Europa und den USA gab es vor 1945 antisemitische Tendenzen. Zunächst im zaristischen Russland, seit 1879 und verstärkt seit 1918 auch in Deutschland und Österreich sahen Antisemiten die Lösung der „Judenfrage“ zunehmend in der Vertreibung oder gar Ausrottung aller Juden und gründeten dazu neue politische Parteien oder brachten antisemitische Forderungen in bestehende staatstragende Parteien ein. Sie verbanden diese mit antiaufklärerischen und antidemokratischen Zielen, an die später Faschismus und Nationalsozialismus anknüpften.

Dieser Artikel beschreibt Voraussetzungen, Entstehung und Entwicklung der antisemitischen Ideologie von 1789 bis 1945 vorwiegend in Europa. Ihre Anwendung im „Dritten Reich“ behandeln die Artikel Holocaust und Zeit des Nationalsozialismus. Herkunft und Gebrauch stereotyper antisemitischer Propaganda im Einflussbereich des Islam beschreibt Antisemitismus in islamischen Ländern. Heute fortwirkende und neue antisemitische Vorurteilsstrukturen und aggressive Tendenzen gegen Juden thematisieren Antisemitismus nach 1945 und Antisemitismusdebatte. Ihre wissenschaftliche Erforschung behandelt Antisemitismusforschung.

Der Begriff

Herkunft

Das Wort Antisemitismus ist aus Antisemit, antisemitisch abgeleitet und bedeutet dem Wortsinn nach „prinzipiell" bzw. „weltanschaulich (-ismus) gegen (anti-) Semiten“ und „gegen das Semitische“. „Semit“ bedeutet ursprünglich „Nachfahre des Sem“, des ersten der drei Söhne Noahs neben Ham und Jafet in der Bibel (Gen 9,18). Auf diese Ahnherren führt die „Völkertafel“ in 1. Buch Mose 10 alle Völker der Erde zurück und zählt die für sie seit der Sintflut entstandenen Völker als ihre Nachfahren auf. Sie teilt sie nur nach väterlicher Stammeslinie, Generationenfolge und Siedlungsgebieten, nicht sprachlichen oder rassischen Merkmalen ein.

Die Biblische Exegese im Mittelalter führte diese Sicht fort und bezog die drei Stammeslinien auf die damals bekannten Kontinente: Sie ordnete die „Nachfahren Sems“ Asien, die Jafetiten Europa und Hamiten Afrika zu, ohne ihnen besondere Eigenschaften zuzuweisen. Da Gen 11,9 eine ursprünglich einheitliche Weltsprache andeutet, lag es jedoch nahe, diesen Stammeslinien verwandte Sprachen zuzuschreiben bzw. von diesen auf gemeinsame Abstammung zu folgern.

Historiker und Orientalisten im 18. Jahrhundert übernahmen diesen Sprachgebrauch, veränderten aber den Sinn der Begriffe. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) unterschied 1710 zwischen nördlichen „Sprachen der Jafetiten" und südlichen der „Aramäer", in die er Sems und Hams Nachfahren einschloss. Der deutsche Historiker August Ludwig von Schlözer (1735-1809) bezeichnete 1771 die Volksgruppe der Hebräer, Araber und afrikanischen Abessinier als „Semiten“: Damit wich er von der biblischen und mittelalterlichen Völkereinteilung ab. Doch seitdem bezeichnet die Sprachwissenschaft Hebräisch, Arabisch, Aramäisch und das in Äthiopien gesprochene Amharisch als Semitische Sprachen.

1816 bewies Franz Bopp, dass die indogermanischen Sprachen miteinander verwandt und von den „semitischen“ Sprachen verschieden sind. Diese Unterscheidung bezog sich nur auf sprachgenetische Merkmale. Um die Entstehung dieser sprachlichen Gemeinsamkeiten zu erklären, werden von einigen Völkerkundlern durch die Altertumswissenschaft nicht immer nachgewiesene kulturelle Kontakte oder gemeinsame völkische Ursprünge angenommen (näheres siehe z.B. zu dem angenommenen (prä)historischen Volk der Arier oder der Israeliten). Darüberhinaus schlossen manche Ethnologen von sprachlicher Gemeinsamkeiten und von (prä)historischen Völkern pseudowissenschaftlich auf humangenetische Verwandtschaft ("Blutsverwandtschaft"). Sie stellten „Indogermanen", „Arier“ oder „Kaukasier“ als Urahnen der hellhäutigen Nordeuropäer dar. Obwohl Inder meist dunkelhäutiger als Juden sind und diese in der europäischen Diaspora längst nicht mehr nur Hebräisch sprachen, wurden sie aufgrund ihrer Herkunftsprache einer anderen Rasse zugeordnet.

Der Orientalist Christian Lassen (1800-1876) z.B. sah Arier und Semiten in seiner Indischen Altertumskunde (herausgegeben 1844-1865) als Ursprungsrassen der Zivilisation und wies ihnen verschiedene Eigenschaften zu:[1]

Die Geschichte beweist, dass Semiten nicht die Harmonie seelischer Kräfte besitzen, die die Arier unterscheidet. Der Semit ist selbstsüchtig und ausschließend. Er besitzt einen scharfen Verstand, der ihn befähigt, Gebrauch von den Gelegenheiten zu machen, die andere schaffen, wie wir es in der Geschichte der Phönizier und später der Araber sehen.

Auch der französische Historiker und Philologe Ernest Renan (1823-1892) behauptete in seinen Études d'Histoire Religieuse (Studien zur Religionsgeschichte) 1862, „Semiten" - gemeint waren Juden - sei jeder militärische, politische, wissenschaftliche und geistige Fortschritt fremd; Intoleranz sei die natürliche Folge ihres Monotheismus, den sie den vom Polytheismus geprägten Ariern aus ihrer Kultur übergestülpt hätten. Ihr arrogantes Erwählungsbewusstsein sei seit 1800 Jahren verantwortlich für den Hass auf sie.

Schon 1860 widersprach ihm der jüdische Bibliograph und Mitgründer der Judaistik Moritz Steinschneider (1816-1907) und nannte Renans Vorurteile erstmals „antisemitisch“. Auch für das preußische Staatslexikon von 1865 kennzeichnete dieses Adjektiv eine dem „typisch“ Jüdischen entgegengesetzte Haltung. Der Wortbestandteil „semitisch“ hatte sich also nun schon auf die Bedeutung „jüdisch“ eingeengt.

Verwendung

Der deutsche Journalist Wilhelm Marr (1819–1904) gilt als Erfinder des Substantivs „Antisemitismus“. Das Antonym „Semitismus“ oder „Semitentum" dazu verwendete er seit 1873, um die Juden für den damaligen Gründerkrach verantwortlich zu machen.[2] Sonst bezeichnete der Begriff im Deutschen später nur aus einer semitischen Sprache entlehnte Worte (vgl. Latinismus).

 
Einband von Marrs Der Weg zum Siege des Germananthums über das Judenthum aus dem Jahr 1880

Da die jüdische Minderheit keine einheitliche Ideologie oder Partei vertrat, die man hätte bekämpfen können, konstruierten die Antisemiten einen völkisch-rassischen Gegensatz. Im Februar 1879 warf Marrs Schrift Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum das Schlagwort Antisemitismus in die politische Debatte.[3] Er richtete es nicht gegen alle zur semitischen Sprachfamilie gehörenden Völker, sondern gezielt nur gegen Juden:

  • um sie nach ihrer Abstammung, nicht ihrer Religion zu definieren, und sie damit einer anderen „Rasse“ zuzuweisen
  • um deren angeblich unveränderbaren „Nationalcharakter“ behaupten zu können,
  • um diese Zuschreibungen wissenschaftlich begründet aussehen zu lassen.

Marr stellte den Begriff ausdrücklich alternativ zum christlich-religiösen Judenhass vor, um diese „unaufgeklärte“, bloß emotionale Aversion auf einen „modernen“, angeblich rationalen Diskurs über den verderblichen gesellschaftlichen Einfluss der Juden zu orientieren. Damit wollte er allen, auch religionsfernen Bürgern, die Ausgrenzung aller Juden als politisches Ziel plausibel machen. Deren Integration in die bürgerliche Gesellschaft, sei es durch erzieherische „Verbesserung“, sei es durch die Taufe, sollte von vornherein unmöglich erscheinen. Daher griff Marr gerade auch die assimilierten Juden als „artfremde Nation in der Nation“ an, die deren Selbstfindung im Wege stehe.

„Der Jude“, schon lange ein Schimpfwort, wurde nun Inbegriff aller als negativ erlebten und gedeuteten Zeiterscheinungen. Er stand für eine Infiltration der Nation mit ihr fremden Ideen und Tendenzen, für egoistisches Gewinnstreben und kalte Zweckrationalität. Er stand für die Antisemiten hinter allen von ihnen abgelehnten modernen Wissenschafts-, Staats- und Gesellschafts­theorien: Aufklärung, Rationalismus, Liberalismus, Materialismus, Internationalismus, Individualismus, Pluralismus, Kapitalismus (Manchesterliberalismus), Demokratie, Sozialismus, Kommunismus. Er galt als der eigentliche Schuldige an der „Zersetzung“ der traditionellen Gesellschaftsstrukturen und der Uneinigkeit und Schwäche der Nation, indem er angeblich die kritische Presse besaß und lenkte und für Ausbeutung, Wirtschaftskrisen, Kapitalkonzentration und Inflation sorgte. Dabei war dieses auch sonst in Europa gepflegte Feindbild besonders in Deutschland Kehrseite eines aggressiven Nationalismus, der die Juden aus dem „Volkstum" ausgrenzte. So münzte man die Emanzipation der Juden in eine „Emanzipation von den Juden" um, die notwendige Bedingung für nationale Identitätsfindung sei.

Als „-ismus“ kennzeichnete der Begriff eine Weltanschauung mit bekennender Anhängerschaft und einem mehr oder minder ausgeprägten ideologischen System. Er wies „Semiten" (Juden) gegenüber „Germanen" (Deutschen) bzw. „Ariern" (Nordeuropäern) bestimmte rassische und kulturelle Eigenarten zu, die sie einerseits minderwertig, andererseits überlegen erscheinen ließen:[4]

  • Arier seien Semiten an Körperstatur, Gesundheit und Moral überlegen,
  • Arier seien einfach und fromm, Semiten dagegen sinnlich und verschlagen,
  • Arier lebten von ehrlicher Arbeit, Semiten von Wucher, Spekulation, Ausbeutung,
  • Arier seien Schöpfer geistiger Werte und des Fortschritts in Philosophie, Religion, Naturwissenschaften, Semiten seien nur Nachahmer und Plagiatoren.

In diesem Sinn wurde der Begriff rasch Allgemeingut und gut 75 Jahre lang zur Eigenbezeichnung „prinzipieller" Judenfeinde. Erst seit dem Holocaust trat diese zurück: Rassistische Judenfeinde bezeichnen sich heute kaum noch als Antisemiten. Die Antisemitismusforschung jedoch verwendet den Begriff weiterhin: meist für die besondere anti-emanzipatorische Strömung, die sich von etwa 1789 an in Mitteleuropa etablierte, darüberhinaus auch als Oberbegriff für alle komplexen Motive und Traditionen pauschaler Judenfeindschaft.

Begriffskritik

Ein Antisemit ist rein begrifflich jemand, der gegen Semiten ist. Die Feindschaft des Antisemiten richtet sich aber nicht oder nicht nur gegen Menschen mit iwritischer, arabischer, oder amharischer Muttersprache, sondern unabhängig von der Sprachfamilie gegen Personen jüdischen Glaubens und Personen, die von Juden abstammen. Der Begriff des Antisemitismus ist daher in zweifacher Hinsicht missverständlich. Einerseits versteht er unter Semiten eine behauptete rassische Abstammung von früheren semitschen Völkern. Zum anderen bezieht er sich nicht auf alle ursprünglich semitschen Völker, sondern nur auf die Israeliten. Geschichtlich unbelasteter ist von Judenfeindschaft oder Judenhass zu sprechen.

Voraussetzungen

Soziale Situation der jüdischen Minderheit

Die Juden bildeten um 1800 in den meisten Ländern Mitteleuropas die größte nichtchristliche Minderheit. Sie gehörten überwiegend zur Unterschicht, da ihnen im Mittelalter Grunderwerb und Ackerbau, die Mitgliedschaft in Handwerkszünften und Kaufmannsgilden sowie der Aufstieg in den Adel verboten waren. Isolierung in städtischen Ghettos und die ständige Existenzbedrohung durch Pogrome kennzeichneten damals ihre Lage.

In der Frühen Neuzeit blieben Juden im Konkurrenzkampf mit Nichtjuden nur bestimmte Berufsbereiche: nichtzünftiges Handwerk, Kramhandel, Pfandleihe, Kleinkreditgewerbe, Brauwesen und Schankwirtschaften, Hausierergeschäft und reisender Landhandel. Wo sie wie in Polen im 16. Jahrhundert zeitweise eine gehobene und für den Adel unentbehrliche Stellung als Zoll- und Steuerneinnehmer, Gutspächter, Holz- und Pferdehändler erreichten, wurden sie später vom Kleinadel und aufstrebenden christlichen Bürgertum verdrängt. Nur weniger als zwei Prozent der Juden erreichte den Status von wohlhabenden und geachteten „Hofjuden“ oder Ärzten. Die Masse lebte in „Judendörfern“ oder „Judengassen“ in religiöser, rechtlicher und ökonomischer Absonderung. Ihre Begegnungen mit der übrigen Bevölkerung beschränkten sich weitgehend auf Tauschgeschäfte und Märkte.

Bis etwa 1670 hatten die meisten deutschen Städte die Juden aufs Land vertrieben. Auch im 18. Jahrhundert wurden besonders mittel- und arbeitslose Juden oft von anderen bedrückten Ständen und städtischen Kaufleuten oder wegen Versorgungskrisen vertrieben, z.B. 1745 aus Prag, 1750 aus Breslau, 1772 bis 1790 aus dem Bezirk Dresden. Dort, wo man sie duldete, beschränkte man ihre Gewerbe und Heiratsmöglichkeiten und machte das Recht zur Ansiedlung von einem Mindestvermögen abhängig. Befristete „Schutzbriefe“ von Landesherren mussten mit hohen Sondersteuern bezahlt werden.

Seit etwa 1780 wanderten viele verarmte Juden aus Osteuropa, deren Vorfahren aus Mitteleuropa vor Pogromen geflohen waren, wieder westwärts. 1804 verfügte ein Statut des Zaren, dass Juden nur noch in bestimmten Grenzgebieten siedeln durften; in den Folgejahren wurden etwa 230.000 russische Dorfjuden ausgewiesen oder zwangsumgesiedelt. Daraufhin nahmen Vertreibungen von 1800 bis 1848 auch in Preußen wieder zu. Die Folge war eine stetige Abnahme, Verkleinerung und Verelendung der verbliebenen Judengemeinden. Dies verstärkte wiederum das negative Außenbild von ihnen, das sich etwa in den Legenden vom heimatlos durch die Zeiten wandernden Ewigen Juden spiegelte.[5]

1820 lebten im deutschsprachigen Raum etwa 220.000 Juden.[6] Bis zur Reichsgründung 1871 wurden es 512.000 , bis 1910 615.000. Dabei sank ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung von 1,25 Prozent auf knapp ein Prozent.[7]

1905 hatten 95 Prozent aller Orte im Deutschen Reich keine jüdischen Bewohner. 25 Prozent aller Juden - gegenüber 12 Prozent bei Nichtjuden - lebte in Großstädten mit über 100.000 Einwohnern.[8] Große Anteile davon - um 1885: 30, um 1910: 60 Prozent - konzentrierten sich in wenigen Großstädten, besonders Berlin mit 144.000 (3,7 Prozent der Gesamtbevölkerung) Juden um 1905 und Frankfurt am Main. In Wien lebten 175.000 (8,6 Prozent), in Budapest 204.000 (23,1 Prozent) Juden. Davon waren etwa ein Fünftel ausländischer Herkunft, meist „Ostjuden". Diese bewohnten oft aufgrund sprachlicher und sozialer Barrieren eigene Stadtviertel oder Enklaven und waren dadurch deutlich als Minderheit sichtbar.

Die Berufsstruktur wandelte sich erheblich: Lebten um 1800 noch die weitaus meisten Juden von Not- und Kleinhandel, so fiel dieser Anteil bis 1907 auf unter zehn Prozent. 62 Prozent aller Juden arbeiteten nun im Warenhandel und Verkehrswesen (gegenüber 13 Prozent der übrigen Deutschen), 27 Prozent in Handwerk und Industrie, acht Prozent bei öffentlichen und privaten Dienstleistern, 1,6 Prozent in Land- und Forstwirtschaft. Es gab also nach wie vor fast keine jüdischen Bauern und wenige Industriearbeiter, aber viele Warenhändler. Auch der Anteil der Freiberufe - seit dem preußischen Erziehungsgesetz von 1833 als Wendung der Juden zu „Wissenschaften und Künsten" gefördert - wuchs unter Juden überdurchschnittlich. Der Wohlstand vor allem städtischer Juden wuchs schneller als der der übrigen Deutschen, was Werner Sombart 1910 an ihren Steuerzahlungen nachwies. Auch die Zahl der von Juden geführten Großunternehmen und Banken wuchs bis 1914 an.[9]

Juden waren also einerseits stärker in Städten und Handelsberufen konzentriert und konnten andererseits die Emanzipation stärker für sozialen Aufstieg nutzen als andere. Die seit Jahrhunderten vorgegebenen Diskriminierungs- und Ausgrenzungsmuster hatten sich immer auch auf solche sozialen Unterschiede und Reibungsflächen bezogen. So wurden die Juden in ökonomischen Umbrüchen und Krisen verstärkt als Ursache von Konflikten wahrgenommen und fixiert. Nicht zufällig fielen die Wellen des sich verstärkenden Antisemitismus z.B. 1819, 1873, 1879ff, 1918-24 und 1930ff zeitlich mit Wirtschaftskrisen zusammen.[10] Deren undurchschaute ökonomische Ursachen wurden auf eine angebliche kulturelle, politische und ökonomische Dominanz der jüdischen Minderheit zurückgeführt.

Aufklärung und Idealismus

Naturwissenschaftlicher und sozialer Fortschritt veränderten seit dem Westfälischen Frieden von 1648 allmählich die Einstellung zur jüdischen Minderheit. Aus dem Naturrecht leitete aufgeklärte Philosophie die Gleichberechtigung aller Bürger ab. Als deren Bedingung bzw. Ziel galt die Überwindung des irrationalen Aberglaubens von Antijudaismus ebenso wie „Judaismus". Damit drängte das aufstrebende Bürgertum den kirchlichen Einfluss auf die Gesellschaft zurück, übernahm aber zugleich einen Großteil der tradierten antijüdischen Denk- und Verhaltensmuster.

Schon die englischen Deisten bekämpften den Offenbarungs- und Wunderglauben des Judentums, hauptsächlich um so das orthodoxe Christentum zu unterhöhlen. Auch Voltaire (1694–1778) lehnte beide Religionen von Grund auf ab. Er geißelte Juden in seinem Werk wiederholt u.a. als „betrügerische Wucherer“, „diebische Geldverleiher“, „Abschaum der Menschheit“ mit angeborenen negativen Eigenschaften. Trotzdem verteidigte er auch ihre Gewissensfreiheit und protestierte gegen damalige religiöse Verfolgungen.

Diderot (1713–1784) dagegen glaubte an die soziale Bedingtheit und damit Veränderbarkeit aller Religiösität. Mit seinem Enzyklopädie-Projekt wollte er auch zur Überwindung des jüdisch-christlichen religiösen „Wahns“ beitragen.

Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) schrieb, „der Jude“ sei „…ein unersättlicher, habgieriger Betrüger, besessen von einem skrupellosen Handels- und Schachergeist…“, amoralisch, gerissen, hinterhältig und schmarotzerhaft. Er halte sich für viel zu intelligent, sei aber „ausgesprochen anpassungsfähig, nutzlos und schädlich für die Umwelt„, ein Beispiel des Bösen und Minderwertigen. Er verglich Juden in seinen Sudelbüchern öfter mit Sperlingen, die damals als schlimme Flurschädlinge galten und massenhaft bekämpft wurden. Andererseits trat er für befreundete Juden ein.

Auch Johann Wolfgang von Goethe und Immanuel Kant (1724–1804) zählten Juden zu ihren besten Freunden. Dennoch nannte Kant sie „Vampyre der Gesellschaft“, die „durch ihren Wuchergeist seit ihrem Exil in den nicht unbegründeten Ruf des Betruges… gekommen" seien.[11] Obwohl er biblische Grundgedanken der Tora in seinem Sittengesetz vernunftgemäß entfaltete und die rabbinischen Traditionen kaum kannte, hielt er das Christentum für sittlich überlegen, grenzte es scharf gegen das Judentum ab, verlangte von Juden die Abkehr von biblischen Ritualgesetzen und ein öffentliches Bekenntnis zur ethischen Vernunftreligion. Erst dann könnten sie Anteil an allen Bürgerrechten erhalten.

Johann Gottfried Herder (1744–1803) hielt die Juden für „verdorben“, „ehrlos“ und „amoralisch“, aber durch Erziehung zu bessern. Er deutete ihre Diaspora-Situation als Unfähigkeit zu einem eigenen Staatsleben und prägte den oft zitierten Satz: Juden seien seit Jahrtausenden eine parasitische Pflanze auf den Stämmen anderer Nationen.[12]Er forderte die Abkehr von ihrer Religion als Voraussetzung für ihre nationale und kulturelle Integration.

John Toland (1670–1722), englischer Freidenker, sprach sich als Erster ausdrücklích für eine rechtlich-kulturelle jüdische Emanzipation aus. In Deutschland kämpfte vor allem Moses Mendelssohn (1729–1786) für die Anerkennung seiner Religion, die er zugleich von innen liberalisieren und über sich selbst aufklären wollte (Haskala). Sein Freund Gotthold Ephraim Lessing (1729–1782) rief 1749 in seinem Lustspiel Die Juden dazu auf, die anachronistischen Vorurteile gegen sie aufzugeben. In seinem Drama Nathan der Weise (1779) forderte er die gegenseitige Toleranz der drei monotheistischen Religionen, deren subjektive „Wahrheit“ objektiv unbeweisbar sei. Die Hauptfigur trägt Mendelssohns Züge und setzte ihm ein Denkmal. Lessing glaubte an die Aufhebung jedes religiösen Aberglaubens durch humanen Fortschritt und die pädagogische Erziehung des Menschengeschlechts (1781); auch den „jüdischen Kinderglauben“ an Tora und Talmud wollte er damit „überwinden“.

Von den wichtigen Theoretikern der Aufklärung erkannte nur Montesquieu (1689-1755) das Judentum in seiner Eigenart an.

Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) war ein entschiedener Judengegner. Er schrieb 1793 in seinem vielzitierten Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution:[13]

Juden Bürgerrecht zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen alle die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein ander Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern und sie alle dahin zu schicken.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) widersprach zwar der volkstümelnden Romantik, sah Juden aber auch nur als Verkörperung der Entzweiung und materiellen Knechtschaft im Gegensatz zur griechisch-platonischen Freiheit des Geistes:[14]

Der Löwe hat nicht Raum in einer Nuss, der unendliche Geist nicht Raum in dem Kerker einer Judenseele.

In der „Phänomenologie des Geistes“ schrieb Hegel:[15]

Das Schicksal des jüdischen Volkes ist das Schicksal Macbeths, der aus der Natur selbst trat, sich an fremde Wesen hing und so in ihrem Dienste alles Heilige der menschlichen Natur zertreten und ermordet, von seinen Göttern endlich verlassen und an seinem Glauben selbst zerschmettert werden musste.

Clemens Brentano (1778-1842) zeigte 1811 seine Verachtung der Juden in der Satire Der Philister vor, in und nach der Geschichte für die Berliner Christlich-deutsche Tischgesellschaft:[16]

Die Juden, als von welchen noch viele Exemplare in persona vorrätig, die von jeder ihren zwölf Stämmen für die Kreuzigung des Herrrn anhängenden Schmach Zeugnis geben können, will ich gar nicht berühren, da jeder der sich ein Kabinett zu sammeln begierig, nicht weit nach ihnen zu botanisieren braucht; er kann diese von den ägyptischen Plagen übriggebliebenen Fliegen in seiner Kammer mit alten Kleidern, an seinem Teetische mit Theaterzetteln, und ästhetischem Geschwätz, auf der Börse mit Pfandbriefen und überall mit Ekel und Humanität und Aufklärung, Hasenpelzen und Weißfischen genugsam einfangen.

Dieser Haltung widersprach Friedrich Schlegel (1772-1829) und verwies 1815 darauf, dass Juden alle bürgerlichen Pflichten, besonders den Kriegsdienst, erfüllt hätten und man ihnen deshalb nicht länger die Bürgerrechte verwehren könne.

Emanzipation und Reaktion

Hauptartikel: Jüdische Emanzipation

Die Schrift des preußischen Archivars Christian Wilhelm Dohm Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781) wurde einflussreiches Leitbild der Judenemanzipation. Doch um 1800 lasen und diskutierten nur wenige meist adelige Gebildete solche Schriften. Die Mehrheit behandelte Juden weiter als minderen Werts und Rechts und fürchtete den Verlust ihrer bisherigen ständischen Privilegien. Dies wog schwerer als die Aussicht auf mehr demokratische Partizipation. Die soziale Lage änderte sich allmählich erst infolge der bürgerlichen Demokratiebewegung. Dieser Prozess unterlag besonders im deutschsprachigen Raum ständigen Rückschlägen. Er war nur mit staatlichen Verordnungen von „oben" durchsetzbar, die zudem traditionelle Diskriminierungen beibehielten.

Nach dem Habsburger „Toleranzpatent“ von 1781 brachte die französische Nationalversammlung den Juden 1791 erstmals in einem europäischen Staat die vollen Bürgerrechte. Sie hob damit aber auch ihre bisherige Gemeindeautonomie und Wehrdienstbefreiung auf und zwang sie so zur Assimilation. Der von Napoleon 1804 erlassene Code civil führte diese Gesetze auch in den von Frankreich eroberten deutschen Gebieten ein, u.a. dem Rheinland und Hamburg. Doch 1808 schränkte ein Dekret Napoleons die Bürgerrechte für Juden wieder ein: Jüdische Kreditgeber mussten nachweisen, dass ihre Forderung an den Schuldner ohne „Betrug" zustande gekommen sei, und Zinsen auf Darlehen auf fünf Prozent begrenzen; bei mehr als zehn Prozent vereinbarten Zinsen verfiel der Gesamtbetrag. Zudem durften Juden nur noch mit Vorlage eines jährlich erneuerten Leumundszeugnisses („Judeneid“) Geschäfte abschließen. Dies bedeutete für viele jüdische Händler und Kaufleute den Ruin.[17]

Bis 1812 folgten fast alle deutschen Staaten Dohms Gleichstellungsforderungen, zuletzt Preußen mit dem Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden. Es schloss sie aber weiter vom gehobenen Staatsdienst aus und galt nur für die altpreußischen Gebiete. In den Folgejahren scheiterten Bestrebungen zur vollen Gleichberechtigung. Nach den Befreiungskriegen erlaubte der Wiener Kongress von 1814 den Staaten des Deutschen Bundes, Napoleons Gesetze zurückzunehmen. Daraufhin widerriefen sie ihre bisherigen Zugeständnisse. Im Gefolge der Hep-Hep-Unruhen von 1819 (s.u.) kam es sogar wieder zu Ausweisungen von Juden (Lübeck). 1822 verbot Friedrich Wilhelm III. Juden Lehrberufe in Preußen und entließ sie aus allen Staatsdiensten. Daraufhin ließen sich viele gebildete Juden für Berufschancen und gesichertes Einkommen christlich taufen: Heinrich Heine sah darin das „Entreebillet zur europäischen Kultur“.

Erst ab 1830 forderten auch liberale Demokraten die „bürgerliche Verbesserung“ von Juden und Bauern, um den Feudalismus abzuschaffen. Der deutschpatriotische Jude Gabriel Riesser kämpfte für volle Religionsfreiheit ohne diskriminierende soziale Folgen und sorgte dafür, dass die Frankfurter Nationalversammlung 1848 diese in die Grundrechte des deutschen Volkes aufnahm. Viele deutsche Staaten, die Napoleons Dekret von 1808 übernommen hatten, hoben es erst 1849 auf. Bis 1850 blieben die preußischen Berufsverbote in Kraft, so dass Juden weiterhin nur verachtete und unsichere Nischenberufe und Kleingewerbe blieben.

Nach dem Herzogtum Baden (1862), der Stadt Frankfurt am Main (1864), der Österreich-Ungarischen Monarchie (1867), dem Norddeutschen Bund (1869), wurde schließlich 1871 die volle Gleichberechtigung der Juden gesamtdeutsches Staatsgesetz im Kaiserreich.[18]

Deutschland

Antinapoleonischer Nationalismus und Frühantisemitismus

Am Vorabend der Französischen Revolution definierte Emmanuel-Joseph Sieyès in seiner einflussreichen Kampfschrift Was ist der Dritte Stand den Begriff der Nation als die Gesamtheit aller Bürgerlichen im Gegensatz zu den privilegierten Ständen von Adel und Klerus. Für die Pariser Revolutionäre von 1789 galten für alle Landesbewohner die gleichen Menschenrechte. Zur Nation konnte jeder gehören, der sich zu ihren Prinzipien von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit bekannte.

Auf diese offene und demokratische Definition reagierten andere Staaten wegen und nach der französischen Besetzung mit einer ethnischen, exklusiven, völkischen Auffassung von „Nation" als einer „Abstammungsgemeinschaft“. Diese wurde nicht gegen die privilegierten Stände, sondern gegen die Franzosen und alle anderen Fremden, darunter besonders auch die religiöse Minderheit der Juden, abgegrenzt.

Besonders in Deutschland verband sich der Nationalismus schon früh mit dem Antisemitismus. Bereits vor 1848 sahen viele den angestrebten deutschen Nationalstaat als „Organismus“ und verbanden mit diesem biologischen Sprachbild häufig Kritik an „Volksschädlingen“, vor allem an den Juden. Anknüpfend an mittelalterliche Herabsetzungen der „Wucherer" wurden diese häufig als unproduktive „Schmarotzer" dargestellt.

Diese Sicht vertrat der Berliner Justizrat Karl Wilhelm Friedrich Grattenauer zu Beginn der preußischen Emanzipationsdebatte 1791 mit seiner Schrift Über die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden, die unverhohlen zu ihrer Vertreibung aufforderte. Dies löste heftige öffentliche Debatten in Berlin aus, denen weitere Hassausbrüche Grattenauers (u.a. 1804: Wider die Juden) folgten, bis der Staat seine Schriften verbot.

Auch der Berliner Schriftsteller Friedrich Buchholz warnte 1803 (Jesus und Moses) vor der langwierigen „bürgerlichen Verbesserung" der Juden und bedauerte, dass ihre Vertreibung heutzutage nicht mehr möglich sei. Gleichwohl wurde diese Möglichkeit öffentlich ausführlich erörtert und blieb ständiges Drohmittel, um die Assimilation der Juden zu beschleunigen. In beiden Lösungsmodellen, Vertreibung wie „Verbesserung“, ging es darum, ihre Religion baldmöglichst verschwinden zu lassen.[19]

Auch der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi, der „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn und der Völkerkundler Ernst Moritz Arndt waren judenfeindlich eingestellt. Auf ihre Vorstellungen vom deutschen Volkstum griffen rassistische Antisemiten später zurück. So schrieb Arndt im Kontext der Zuwanderung russischer und polnischer Juden nach Westeuropa:[20]

…Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt und in diese Staaten hinein, und darum will ich nicht, dass sie auf eine ungebührliche Weise in Deutschland vermehrt werden. Ich will es aber auch deswegen nicht, weil sie ein durchaus fremdes Volk sind und weil ich den germanischen Stamm so sehr als möglich von fremdartigen Bestandteilen rein zu erhalten wünsche. [...] Ein gütiger und gerechter Herrscher fürchtet das Fremde und Entartete, welches durch unaufhörlichen Zufluß und Beimischung die reinen und herrlichen Keime seines edlen Volkes vergiften und verderben kann. Da nun aus allen Gegenden Europas die bedrängten Juden zu dem Mittelpunkt desselben, zu Deutschland, hinströmen und es mit ihrem Schmutz und ihrer Pest zu überschwemmen drohen, da diese verderbliche Überschwemmung vorzüglich von Osten her nämlich aus Polen droht, so ergeht das unwiderrufliche Gesetz, dass unter keinem Vorwande und mit keiner Ausnahme fremde Juden je in Deutschland aufgenommen werden dürfen, und wenn sie beweisen können, dass sie Millionenschätze bringen.

Während die meisten Staatsregierungen die Integration der Juden im Interesse aller Bürger auf lange Sicht bevorzugten, blieb lokale Judenvertreibung in vielen Provinzstädten denkbar und opportun. Deshalb aktivierten auch akademische Frühantisemiten gern „Volkes Stimme". Der Völkerkundler Friedrich Christian Rühs (1781-1820) z.B. schrieb in einem antijüdischen Traktat 1816: Könne man die Juden nicht zur Taufe bewegen, dann bliebe nur ihre Ausrottung. Dem stimmte der Philosoph Jakob Friedrich Fries in seinem Aufsatz Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden zu:[21] Fragt doch einmal Mann vor Mann herum, ob nicht jeder Bauer, jeder Bürger sie als Volksverderber und Brotdiebe haßt und verflucht. Die „Gesellschaft prellsüchtiger Trödler und Händler" müsse ihre betrügerische Tätigkeit aufgeben oder der Staat müsse sie dazu zwingen, da andernfalls ihre gewaltsame Vertreibung unausweichlich sei. Er forderte, sich von der „jüdischen Pest“ zu befreien.

Datei:BuecherverbrennungWartburg2.png
Zeitgenössische Darstellung der Bücherverbrennung beim Wartburgfest

Ries war es auch, der bei der Gründung der Urburschenschaft auf dem Wartburgfest 1817 die anwesenden Studenten zu einer Bücherverbrennung aufhetzte. Dabei wurde auch die Schrift Germanomanie des jüdischen Autoren Saul Ascher, die sich kritisch mit Nationalismus und Verfolgungswahn der deutschen Patrioten auseinandersetzte, mit dem Ruf Wehe über die Juden! ins Feuer geworfen. Dies veranlasste Heinrich Heine 1819 zu der weitsichtigen Vorhersage:

Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.

Kriminalrat Christian Ludwig Paalzow schrieb 1817 einen Dialogroman Helm und Schild, der die Argumente für und wider das jüdische Bürgerrecht auf einen Juden (Helm) und einen Christen (Schild) verteilte und letzteren rhetorisch siegen ließ. Er verwies im Munde Schilds auf die angeblich zu starke Vermehrung der Juden, ihre politische Unzuverlässigkeit und Neigung zur Rebellion aufgrund ihres Messiasglaubens. Ihre Gewerbefreiheit werde ihnen die ökonomische Macht über die Mehrheit zufallen lassen. Um dies zu verhindern, müsse man sie rechtzeitig vertreiben, wenn sie nicht freiwillig gingen. Der Schaden durch ihren Verlust sei geringer als der Nutzen, sie los zu sein.

1821 veröffentlichte Hartwig von Hundt-Radowsky den Judenspiegel. Darin propagierte er u.a. den Verkauf jüdischer Kinder als Sklaven an die Engländer, um weitere jüdische Nachkommen zu verhindern, und schließlich unverhohlen die Vertilgung und Vertreibung aller Juden.

Heinrich Eugen Marcard forderte 1843 in Minden mit einer Petition die „Vertilgung" der Juden. Hermann von Scharff-Scharffenstein schrieb 1851 in seiner antijüdischen Schrift Ein Blick in das gefährliche Treiben der Judensippschaft:[22]

Das aber bildet eben den Grundcharakter dieser Nation, daß sie allem eigenen und fremden Staatsleben sich feindlich entgegenstellen und wie Parasiten an alle Völker sich anklammern, ohne diesen anders zu lohnen, als indem sie dieselben zu Grunde richten...Die Juden wollen die Herrschaft über Deutschland, ja über die ganze Welt erlangen. Deshalb werden sie nicht gehen, denn 'hier' können sie wie Vampyre das Blut der Christen saugen und in Palästina finden sie keine.

Wie viele andere Autoren verwendete er auch die Tiermetaphern der Spinne, die ihr Netz um die Welt spinnt, des Blutegels oder der gefräßigen Heuschrecken für Juden.

In den Jahren 1803-1805, 1812-1819, 1848ff waren judenfeindliche Schriften in der akademischen Literatur besonders oft vertreten. Sie setzten die mittelalterliche Tradition antijüdischer Hetzschriften im aufgeklärten, kirchenfernen Bürgertum fort und etablierten die Ressentiments, Abgrenzungs-, Deportations- und Vernichtungsrhetorik im öffentlichen Diskurs. Solche Ziele wurden also schon gut 100 Jahre lang erörtert, bevor der Rassebegriff für das Judentum aufkam.

Manche Junghegelianer, radikale Religionskritiker und Frühsozialisten beweisen dann, dass avangardistisches, revolutionäres Denken und überkommener Antisemitismus für das 20. Jahrhundert durchaus kompatibel sein könnten. Wie schon bei Voltaire wird die Kritik an der christlichen Religion mit einer generellen Kritik an jüdischem Glauben und Traditionen verbunden, woraus in ahistorischer Weise Folgerungen für die aktuelle "Judenfrage" gezogen werden. So ordenet der Religionskritiker Ludwig Andreas Feuerbach den jüdischen Glauben moralisch noch unter dem Polytheismus stehend ein, und setzt ihre Religion mit Egoismus gleich:

"Ihr Prinzip, ihr Gott ist das praktischste Prinzip der Welt - der Egoismus, und zwar der Egoismus in der Form der Religion" [23]

Die neuartige verstärkt ökonomische Betrachtungsweise verbindet jüdisches Leben primär mit der wirtschaftlichen "Händlerfunktion" des Juden.

Auch in den Schriften von Frühsozialisten wie Louis-Auguste Blanqui, Saint-Simon, Pierre Joseph Proudhon, Pierre Leroux und später Anarchisten wie Bakunin finden sich rassistisch-antisemitische Äußerungen und die Verharmlosung antisemitischer Ressentiments.[24]

So schrieb Bakunin in „Persönliche Beziehungen zu Marx“ im Jahr 1871:

„Nun diese ganze jüdische Welt, die eine ausbeuterische Sekte, ein Blutengelvolk, einen einzigen fressenden Parasiten bildet, eng und intim nicht nur über die Staatsgrenzen hin, sondern auch für alle Verschiedenheiten der politischen Meinungen hinweg, - diese jüdische Welt steht heute zum großen Teil einerseits Marx, andererseits Rothschild zur Verfügung.“ [25]

Leroux bezeichnete die Juden als "Verkörperung des Mammons", und Proudhon sah sie sie als "... Feinde der Menschheit, die man nach Asien zurückschicken sollte."

Antijüdische Krawalle vor der Reichsgründung

Die Reaktionen im Volk auf bürgerliche Emanzipation und intellektuelle Juden-Aversion ließen nicht lange auf sich warten. Im August 1819 breitete sich mit den Hep-Hep-Unruhen eine gewaltsame Krawallserie von deutschen Großstädten bis Kopenhagen und Amsterdam aus. Politisch und ökonomisch unzufriedene Handwerker, Bauern und Studenten gaben die Schuld an den Problemen der frühkapitalistischen Industrialisierung den Juden. Sie plünderten und zerstörten deren Häuser und Geschäfte, steckten Synagogen in Brand, misshandelten und ermordeten Juden mit dem Kampfruf:

Nun auf zur Rache! Unser Kampfgeschrei sei Hepp, Hepp, Hepp! Allen Juden Tod und Verderben, ihr müsst fliehen oder sterben!

„Hep“ wurde als Abkürzung eines alten Kreuzfahrer-Rufs Hierosolyma est perdita (lateinisch: „Jerusalem ist verloren“) und damit als Anspielung auf die Massaker der Kreuzzüge oder als Aufforderung Springt, haut ab analog zu Tieranrufen gedeutet. In den Flugblättern und Parolen der Krawallanten wurden Juden als „Christusmörder“ angegriffen. Hier kam die langanhaltende kirchliche Indoktrination zum Vorschein. Die Aufklärung hatte also nur eine schmale Schicht von Gebildeten erreicht, von denen auch nur wenige das Judentum und seine Emanzipation vorbehaltlos akzeptierten. Sie wurden nicht von der Masse der Bevölkerung getragen.

Auch in den Folgejahrzehnten gab es an vielen Orten Gewalttaten gegen Juden, teils als Begleitung des allgemeinen antifeudalen Protestes und revolutionärer Stimmungen, teils in Krisensituationen oder aus alten religiösen Motiven. In Hamburg wurden Juden 1830 und 1835 wie schon 1819 vom Jungfernstieg vertrieben. Angeregt durch Sensationsberichte über die Damaskusaffäre 1840 lebte auch die Ritualmordlegende wieder auf und führte in einigen Orten - u.a. Geseke, Oettingen, Thalmässing - zu teilweise monatelangen Ausschreitungen gegen Juden. Dabei wurden erneut Hepp, Hepp, Jude verreck!-Hetzrufe und die Parole Schlagt die Juden tot! laut. In Mannheim führte ein Regierungsbeschluss, eine Judenpetition für Gleichstellung zuzulassen, zu Volkskrawallen gegen Juden der Stadt. 1848 zerstörten Bauerngruppen in Leiningen im Taubertal Wohnungen von Juden, die sie als Gläubiger ansahen. In Baisingen verjagten bewaffnete Bauernknechte jüdische Bewohner mit dem Ruf „Geld oder Tod!" aus ihren Häusern und nötigten vorübergehend 230 Juden des Ortes zur Flucht. Sie versuchten, die Gemeinderäte zu erpressen, den Juden das Bürgerrecht zu nehmen, das die Allmende-Nutzung einschloss.

Im Verlauf der Revolution 1848/49 kam es besonders in süd- und ostdeutschen Regionen und etwa 80 Städten, darunter Berlin, Köln, Prag und Wien, zu schweren antijüdischen Exzessen. Neben Angriffen auf Symbole der Abhängigkeit - Kreditbriefe, Schuldenakten - wurden dabei immer wieder Vernichtungsdrohungen laut, sowohl von revolutionärer - meist Bauern - wie antirevolutionärer - meist Bürger - Seite, die den Juden für Not und Revolution die Schuld gaben.[26]

Sozialdarwinismus und Rassismus

Das kirchliche Mittelalter hatte Juden prinzipiell eine jenseitige Erlösung offengehalten, die sie durch die Taufe schon in diesem Leben erreichen konnten. Deshalb wurden jüdische Gemeinden zeitweise geduldet und von manchen Päpsten und Kaisern ausdrücklich geschützt. Freiwillig getaufte Juden waren vor weiterer Verfolgung meist relativ sicher. Nur bei Zwangstaufen behielten andere Christen Vorbehalte gegen sie: besonders in Spanien. Nach der Massenvertreibung der spanischen Juden 1492 verfolgte die spanische Inquisition die im Land gebliebenen „Conversos“ als marranos („Schweine“), die ihre angestammte Religion angeblich oder tatsächlich heimlich weiter ausübten. Neuchristen jüdischer Herkunft wurden mit dem rassistischen Ideal der limpieza de sangre („Reinheit des Blutes“) aus den erreichten gesellschaftlichen Positionen wieder verdrängt.

Dieses Muster wiederholte sich im 19. Jahrhundert gegen die Judenemanzipation. Schon 1790 entwickelte der Göttinger Popularphilosoph Christoph Meiners (1747-1810) ein Rangsystem der Rassen, das Juden zwar über „Orang-Utans“, „Negern", „Finnen" (Lappen) und „Mongolen" einstufte, aber unter Weißen und Christen. Deshalb stünden ihnen weniger Rechte als diesen zu. Seit Ernest Renan wurde es zudem üblich, Juden als „Semiten" einen Mangel an Zivilisiertheit nachzusagen. Frühe Antisemiten wie Grattenauer und Hundt-Radowsky verglichen Juden direkt mit Affen, um ihnen die Menschenrechte abzusprechen und ihren Emanzipationsprozess, ihr Streben nach Bildung und Aufklärung als von vornherein lächerlich und illusorisch abzuwerten.[27]

1853 unterschied Arthur de Gobineau mit dem Aufsatz Die Ungleichheit der Rassen Arier von angeblich minderwertigen semitischen und neogriden Rassen. 1858 begründete Charles Darwins Aufsatz Über die Entstehung der Arten die Evolutionstheorie und moderne Genetik mit den Prinzipien Variation, Vererbung und Selektion: Der „Kampf ums Dasein“ führe zu einer Auslese der dem Überleben angepasstesten Arten. Dies übertrugen Rassisten auf die Völkergeschichte: Sie sei als ewiger Kampf zwischen höheren und niedrigeren Rassen zu deuten. Das ermöglichte Antisemiten, die „Judenfrage“ mit pseudobiologischen Argumenten als Rassenproblem zu propagieren.

So schrieb der österreichische Kulturhistoriker Friedrich von Hellwald (1842-1892) anknüpfend an Renan 1872 in einem Zeitungsartikel, Juden seien aus Asien eingewanderte Fremdrassige; dies würden Europäer „instinktiv" spüren. Das sogenannte Vorurteil gegen Juden sei also durch zivilisatorischen Fortschritt nie zu überwinden. Als Kosmopolit sei der Jude dem ehrlichen Arier an Schläue überlegen. Von Osteuropa aus grabe er sich als Krebsgeschwür in die übrigen europäischen Völker ein. Ausbeutung des Volkes sei sein einziges Ziel. Egoismus und Feigheit seien seine Haupteigenschaften; Selbstaufopferung und Patriotismus seien ihm völlig fremd.

Nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden überhöhten Antisemiten den rassischen zum welthistorischen Gegensatz: „Arier“ galten als zur Weltherrschaft berufen, „Semiten“ als ihre zur Unterlegenheit bestimmten Konkurrenten, die gleichwohl zur Zeit noch über die Arier herrschten. Der Nationalökonom Eugen Dühring (1833–1921) begründete dies mit seinem populären Buch Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage (1881), das eine Art Bibel für Antisemiten wurde. Er erklärte die „Selbstsucht" und „Machtgier" der Juden als unveränderbare Erbanlage und verband damit antichristliche und antikapitalistische Motive: Die Bibel sei eine vom „Asiatismus" durchtränkte Religionsurkunde. Juden seien „Drahtzieher“ der Krisenphänomene und sozialen Missstände der Industrialisierung. Als einer der Ersten sprach er von einer „Endlösung“. Da diese vorläufig nicht möglich sei, solle man die Juden wieder in Ghettos zwingen und dort überwachen.[28] Ziel aber bleibe:[29]

Der unter dem kühlen nordischen Himmel gereifte nordische Mensch hat die Pflicht, die parasitären Rassen auszurotten, wie man eben Giftschlangen und wilde Raubtiere ausrotten muss!

Diese seit dem Mittelalter bekannten Sprachbilder der Entmenschlichung passten die Antisemiten der wissenschaftlichen Sprache der Bakteriologie, Mimikry-Theorie und Rassenlehre an. Juden wurden immer mehr nicht nur mit Blutsaugern, Krebsgeschwüren, Schmarotzern, Seuchen, Ungeziefer, Volksschädlingen, wuchernden Schlingpflanzen usw. verglichen, sondern identifiziert. Stand im mittelalterlichen Aberglauben hinter ihnen der Teufel, also eine letztlich unbesiegbare dämonische Macht, so wurde es mit dem medizinisch-technischen Fortschritt denkbar, sich dieser „menschlichen Viren" radikal zu entledigen.[30]

Das verschloss Juden jede Möglichkeit, sich sozial anzupassen. Denn auch getaufte Juden blieben nun Juden, die von Vorfahren mit jüdischer Religion abstammten, egal ob und wie lange ihre Vorfahren schon Christen waren. Damit war die Religionszugehörigkeit für Antisemiten nur noch als pseudobiologisches Merkmal wichtig, das Judesein zum unentrinnbaren Schicksal machte. Die Juden zugeordneten negativen Erbanlagen erschienen durch keinerlei Erziehung, Bildung, Integration und Emanzipation veränderbar. So wurde ihre völlige Vertreibung oder Vernichtung in ganz Europa als einzig realistische „Endlösung der Judenfrage" nahegelegt.

Der Rassismus untermauerte auch sonst die Ablehnung fremder Völker nach außen und ethnischer oder anderer Minderheiten nach innen. So wuchs parallel zum Antisemitismus in ganz Europa die Fremdenfeindlichkeit z.B. gegen Roma, Sinti und Jenische oder Sorben.

Darwin distanzierte sich 1880 von diesem politischen Missbrauch seiner Theorien. Nach seinem Tod 1882 wurden diese jedoch immer stärker rassistisch umgedeutet. Man redete nun von der „Zersetzungskraft jüdischen Blutes“ und zählte auch „Halb“- oder „Viertel“-Juden zum Judentum, während die „arische Rasse“ immer stärker zur einheitsstiftenden Idee wurde. Deren „Notwehr“ gegen die Juden wurde als Naturgesetz dargestellt. Damit wurde das Recht des Stärkeren gegenüber Natur- und Menschenrecht deterministisch legitimiert. So forderte z.B. Paul de Lagarde (1827-1891) in Juden und Indogermanen 1887 die Einheit von „Rasse und Volk“ unter Ausschluss des Judentums. Er beklagte, dass in Berlin mehr Juden lebten als in Palästina, und forderte, „dies wuchernde Ungeziefer zu zertreten":[31]

Mit Trichinen und Bacillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bacillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.

1899 forderte der Brite Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) – ein Schwiegersohn Richard Wagners – in seinem Buch Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts als Erster die „Reinheit der arischen Rasse“ gegen „Vermischung“. Das Buch las Kaiser Wilhelm II. persönlich seinen Kindern vor und empfahl es als Lehrstoff für die Kadettenschulen.

Politischer Antisemitismus der Kaiserzeit

Nach der Reichsgründung von 1871 sollte der Patriotismus die zerrissene bürgerlich-liberale Gesellschaft einen. Minderheiten, vor allem den Juden, wurde oft ein Mangel an „wahrem Deutschtum“ unterstellt. Politisch-soziale Widersprüche und ökonomische Krisen im nationalen Einigungsprozess wurden ihnen angelastet.

Auf den Gründerkrach 1873 folgte eine mehrjährigen Wirtschaftskrise. Viele Bauern, Händler und Bürger verloren ihre Ersparnisse und mussten ihre Firmen aufgeben, während Großindustrielle und Bankiers Verluste besser auffangen konnten. Da sich unter letzteren relativ viele Juden befanden, machte der abstiegsbedrohte Mittelstand diese für die Pleitewelle verantwortlich. Nun ergriff der Antisemitismus breite Bevölkerungsschichten, und viele neu gebildete Vereine machten ihn zu ihrem Programm.

Im selben Jahr begann Wilhelm Marr seine antisemitische Publizistik, bei der er auch auf fortbestehende kirchliche, aufgeklärte und völkisch-nationale Judenbilder zurückgreifen konnte. Stärker ökonomisch argumentierte Otto Glagau (1834–1892) in einer vielgelesenen Artikelserie in der Gartenlaube (1874), dann mit Schriften über den angeblichen Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin (1875) und Bankerott des Nationalliberalismus und die 'Reaktion' (1878), in denen er überkommene christliche Vorurteile gegen Juden mobilisierte.

Anfang 1878 gründete der lutherische Hofprediger Adolf Stoecker (1835–1909) die Christlich-soziale Partei gegen die Sozialdemokratie, welche sich jedoch bereits 1881 der Deutschkonservativen Partei anschloss. Entgegen der ursprünglich anvisierten Zielgruppe der Arbeiterschaft fand er weitaus mehr Anhänger im ökonomisch bedrohten Kleinbürgertum und Mittelstand, die ihn drängten, sich zur „Judenfrage" zu positionieren. Daraufhin forderte er seit September 1879 die Begrenzung des vermeintlichen jüdischen Einflusses auf die Politik und wurde so populär.

1879 gilt als "Schlüsseljahr" des „modernen" Antisemitismus, in dem sich deutschnationale, antiliberale, antikapitalistische und rassistische Motive verknüpften und im Bürgertum reichsweit gesellschaftsfähig wurden. In jenem Jahr erreichte Marrs Buch Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum 12 Auflagen. Daraufhin gründete er die „Antisemitenliga“ als erste deutsche Gruppe, welche die Vertreibung der Juden aus Deutschland anstrebte. Sprachrohr dafür war das Blatt Deutsche Wacht, das Marr zweimal monatlich herausgab.

Im selben Jahr begann der zweijährige Berliner Antisemitismusstreit mit einem Artikel des angesehenen Historikers Heinrich von Treitschke (1834–1896). Er unterstützte Stoeckers Forderungen und prägte den später von den Nationalsozialisten übernommenen Satz: Die Juden sind unser Unglück. Diese allgemeine antiliberale Judenfeindschaft kritisierte der Althistoriker Theodor Mommsen (1817–1903) 1880 scharf. Mit einer von ihm initiierten Notabeln-Erklärung gelang es ihm zeitweise, Treitschke an der Humboldt-Universität zu Berlin zu isolieren. Doch nun war die „Judenfrage" auch als „wissenschaftliches“ Thema etabliert.

Max Liebermann von Sonnenberg, Bernhard Förster und Ernst Henrici initiierten im Sommer 1880 eine „Antisemitenpetition“, welche unter anderem eine separate Besteuerung von Juden, ihren Ausschluss von allen Regierungsämtern, vom öffentlichen Dienst und Bildungswesen sowie ein Verbot jüdischer Einwanderung nach Deutschland forderte. Viele Studenten unterstützten die Petition an den Universitäten mit Ausschüssen. Daraus gingen die Vereine Deutscher Studenten hervor, die sich 1881 im Kyffhäuserverband vereinten. So konnte Ernst Böhme vom Kyffhäuserverband 1902 feststellen:

„Die gesellschaftliche Isolierung des jüdischen Studenten ist heute in der Hauptsache vollzogen. Die gesamten angesehenen Kouleurverbände, Korps, Burschenschaften, Landsmannschaften und farbentragenden Turnerschaften, sowie die Hauptmasse der schwarzen Verbände, die akademischen Turnvereine, Gesangvereine und wissenschaftlichen Vereine schließen heute die Juden von der Mitgliedschaft aus.“ [32]

Auch Marrs Liga und Stoecker mobilisierten ihre Anhänger in der Berliner Bewegung. 225.000 Bürger unterzeichneten die Petition; im April 1882 übergab Sonnenberg die Unterschriften im Reichstag, Bismarck ignorierte die Forderungen jedoch.

Henrici suchte 1880 reichsweit mit antisemitischen Hetzreden Wähler für seine Soziale Reichspartei zu gewinnen. Der unaufgeklärte Synagogenbrand vom 18. Februar 1881 in Neustettin folgte auf eine seiner Reden.[33] 1881 gründete Sonnenberg den patriotisch-konservativen Deutschen Volksverein sowie die Deutsche Volkszeitung, die das Schlagwort „Antisemitismus“ in ganz Deutschland verbreiteten.

Der Kleinunternehmer und Lokalpolitiker Alexander Pinkert gründete in Dresden 1879 den antisemitischen Deutschen Reformverein, dem bis 1885 in 139 Städten ähnliche lokale Vereine folgten. Daraus ging 1881 die Deutsche Reformpartei hervor. 1882 berief Pinkert den ersten internationalen „Antisemitischen Kongress“ nach Dresden ein. Dort versuchten die Wortführer antisemitischer Gruppen aus ganz Europa mit etwa 400 ihrer Anhänger gemeinsame Ziele zu definieren. Dies misslang, so dass das abschließende Manifest an die Regierungen und Völker der durch das Judenthum gefährdeten christlichen Staaten keine konkreten politischen Forderungen erhob. Der zweite Antisemitenkongress 1883 in Chemnitz scheiterte an Dührings Versuch, sein rassistisches Buch zur Programmbasis zu machen, worauf hin die gemäßigten Sozialkonservativen die Versammlung verließen.

Einen neuen Anlauf zur Sammlung der zerstrittenen Antisemiten unternahm Theodor Fritsch (1852-1933), welcher 1884 die Deutsche Antisemitische Vereinigung. 1885 gab er dazu die Zeitung Antisemitische Correspondenz heraus. 1887 verfasste er den bis 1945 in immer neuen Auflagen weite Verbreitung erlebenden Antisemitenkatechismus, der alle judenfeindlichen Klischees sammelte. Fritsch zog aus den Misserfolgen seiner Vorgänger den Schluss:[34]

Unser Ziel muss es sein, alle Parteien mit dem antisemitischen Gedanken zu durchsetzen. [...] Sobald wir als politische Partei auf den Plan treten, haben wir nicht mehr allein die Juden zu Gegnern, sondern zugleich alle anderen politischen Parteien.

Der Marburger Bibliothekar Otto Böckel (1859–1923) fand bei der Landbevölkerung in Hessen mit antisemitischer Agitation viel Zustimmung. 1886 gründete er seine Deutsche Reformpartei, die sich noch im selben Jahr mit dem Verein von Fritsch zusammenschloss. Bei der Reichstagswahl am 21. Februar 1887 errang Böckel im Wahlkreis Kassel als erster bekennender Antisemit ein Reichstagsmandat, das er bis 1907 innehatte.

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Der Jude als Ausbeuter und Frauenschänder im Simplicissimus 1899 (Zeichner Adolf Münzer). Text: "Monsieur le directeur: "Man is nich ßufrieden mit eiren Leistungen, ihr werdet wahrscheinlich am Ersten entlassen. Die endgültige Entscheidung könnt ihr euch heut abend bei mir zu Hause in meiner Wohnung holen."

Auf dem Antisemitentag in Bochum am 10. und 11. Juni 1889 konnten sich die verschiedenen Gruppen erneut nicht einigen. Stoecker und Sonnenberg wollten konservative Wähler nicht verschrecken und den kleinbürgerlichen Mittelstand für den Nationalstaat gewinnen; ihre Anhänger bildeten die neue Deutschsoziale Partei. Böckel dagegen wollte seine Ziele schon im Parteinamen zeigen. Dazu gründete mit weiteren Gruppen 1890 die Antisemitische Volkspartei. Beide neuen Parteien forderten die Aufhebung der Emanzipationsgesetze, verhöhnten liberale Gleichstellungsparteien im Wahlkampf als „Judenschutztruppe“ und gewannen bei den Reichstagswahlen desselben Jahres zusammen knapp drei Prozent der Stimmen. Dennoch mangelte es auch nicht an Stimmen, welche den politischen Antisemitismus ablehnten. So meinte der Führer der Deutschfreisinnigen Eugen Richter angesichts des Wahlerfolgs der Antisemitischen Partei 1890:

"Wenn wir dieser Bewegung erlauben, größer zu werden, zerstören wir die Säulen, auf denen unsere Kultur ruht." [35]

1890 trat Hermann Ahlwardt (1846-1914) mit den Büchern Der Verzweiflungskampf der arischen Völker mit dem Judentum und Der Eid eines Juden, in dem er Gerson von Bleichröder, Banker und Freund Bismarcks, der Korruption bezichtigte. Danach behauptete er in der Schrift Judenflinten, der jüdische Waffenfabrikant Ludwig Löwe habe den preußischen Truppen in geheimer Absprache mit den Franzosen untaugliche Gewehre geliefert. Für diese Beschuldigungen erhielt er jeweils vier und fünf Monate Gefängnis, welche er wegen seiner Immunität als Reichstagsabgeordneter nicht verbüßen musste. Er wurde von Bauern in der Region Arnswalde-Friedeberg - wo es kaum Juden gab - gewählt, indem er in persönlichen Gesprächen „Junker und Juden“ für ihre ökonomische Not verantwortlich machte. 1894 legte er ein Programm vor, das vorsah, alle Großgrundbesitzer zu enteignen und ihren Besitz in Gemeineigentum zu überführen, was von den übrigen Antisemiten abgelehnt wurde.

Ein weiterer Einzelgänger unter den Antisemiten war der als „Judenschläger“ bekannte Graf Hermann von Pückler-Muskau auf Branitz, der die Bauern seiner Region aufrief, Juden totzuprügeln.

1893 errangen beide Antisemitenparteien zusammen 18 Reichtagsmandate. 1894 vereinigten sie sich unter Führung Sonnenbergs und Oswald Zimmermanns - ohne Böckel und Ahlwardt - zur Deutschsozialen Reformpartei. Ihr Programm baute auf den Rassentheorien von Houston Stewart Chamberlain auf und redete erstmals von der „Endlösung der Judenfrage“. 1899 hieß es darin:[36]

Dank der Entwicklung unserer modernen Verkehrsmittel dürfte die Judenfrage im Laufe des 20. Jahrhunderts zur Weltfrage werden und als solche von den anderen Völkern gemeinsam und endgültig durch völlige Absonderung und (wenn die Notwehr es gebietet) schließliche Vernichtung des Judenvolkes gelöst werden.

1898 gewann die Partei 13 Reichstagssitze. 1900 spaltete sie sich jedoch wieder an der Frage der Zusammenarbeit mit dem 1893 gegründeten Bund der Landwirte. Diesen hatten Aktivisten der Studentenvereine wie Diederich Hahn und Zeitungsverleger wie Otto Schmidt-Gibichenfels antisemitisch, christlich und monarchistisch ausgerichtet. Er wurde von den radikaleren Antisemiten daher als Anhängsel der Konservativen Partei betrachtet. Sie richteten ihren Nationalismus stärker gegen Adel, kirchliche und staatliche Konservative und die im Reichstag führende Nationalliberale Partei.

Wegen ihrer Uneinigkeit erhielten die Antisemitenparteien bei der Reichstagswahl 1903 nur 3,5 Prozent (11 Mandate). 1907 stellten sie noch sieben Abgeordnete. Sonnenberg saß bis zu seinem Tod 1911 im Reichstag. Keins der Ziele seiner Petition von 1879 wurde im Kaiserreich erreicht.

Aber der politische Antisemitismus war nicht parteigebunden. Viele Vereine blieben seit 1880 antisemitisch eingestellt oder wurden als antisemitische Vereine neu gegründet, u.a. die Deutsche Turnerschaft, das angesehene Offizierskorps und viele Studentenverbindungen. Der Kyffhäuserverband schloss Juden 1886 als erster aus seinen Reihen aus. Bis 1896 folgten die meisten Burschenschaften. Dagegen erklärte der Allgemeine Deutsche Burschenbund 1905: Um deutsch zu sein, müsse man nicht rein germanischer Abstammung sein.

Über andere Themen wie etwa die Flottenaufrüstung oder Schutzzölle gegen englische Importe konnte sich das Bild der „jüdischen Ausbeuter“ und ihrer „zersetzenden“ Demokratie-Ideen in breiten Bevölkerungsschichten festsetzen. Besonders folgenreich war der Antisemitismus an den Hochschulen. Viele dort ausgebildeten Akademiker, Juristen, Ärzte, Ingenieure, Lehrer und Pastoren beteiligten sich dauerhaft an der antisemitischen Agitation, benachteiligten Juden aktiv und trugen so zu ihrer zunehmenden Verdrängung aus staatlichen Ämtern und gesellschaftlichen Ächtung bei. Auch ihre Fachverbände wurden seit etwa 1890 von der antisemitischen Welle erfasst.

Als antisemitischer Verband gründete sich 1893 der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband für Angestellte und Handwerker. Er gewann rasch Einfluss auch unter evangelischen Jugendverbänden. Dort sah man Antisemitismus als einzige weltanschauliche Alternative zu Liberalismus und Sozialismus. Viele spätere Parteipolitiker gingen aus ihm hervor. Jedoch standen dort Sonderinteressen im Vordergrund. Dies veranlasste Böckel und Förster 1900 zur Bildung des nach dem Führerprinzip aufgebauten Deutschen Volksbundes, dessen Mitglieder 1907 aus der Deutschsozialen Reichspartei ausgeschlossen wurden.

Der kleine, aber einflussreiche Alldeutsche Verband wollte nach Bismarcks Entlassung 1890 bewusst einer großdeutschen imperialistischen Politik zum Durchbruch verhelfen und alle Deutschen einem „Gesamtwillen der Nation“ unterordnen. Damit wurde er zunehmend antisemitisch. Der erste Vorsitzende Ernst Hasse erklärte 1906, dass die heute gebildeten Rassen nunmehr homogen und konstant werden wollen, dass sie demnach die nicht assimilierten Fremdkörper wieder ausscheiden wollen ... namentlich wenn diese eindringenden Fremdkörper minderwertig sind oder als minderwertig empfunden werden.[37] Der zweite Vorsitzende Heinrich Claß veröffentlichte 1912 das Buch Wenn ich der Kaiser wär. Darin forderte er, alle ausländischen Juden auszuweisen und allen deutschen Juden die Staatsbürgerschaft abzuerkennen.

Der von Friedrich Lange 1894 gegründete Deutschbund vertrat die „Pflege deutscher Art“. Er sah in Bauern und Handwerkern die „wurzelechtesten Vertreter unseres Volkstums“: ...diese Kräfte müssen unter allen Umständen gegen die Sozialdemokratie sowohl wie gegen ihre christlichen Mitbewerber erhalten werden. Lange unterschied in Reines Deutschtum (1893) strikt Volkstum und Nationalstaat und nannte das Gleichheitsprinzip des Judentums als gemeinsame Basis von Christen und Sozialisten Morbus internationalitis („internationale Krankheit“):[38]

Vor dem Christentum gibt es nicht Volk, Kaste und Stammesart, sondern nur Menschheit...Ist der Krieg ein Übel? An dieser Frage lässt sich scharf erweisen, dass christliches Gebot dem natürlichen Empfinden unseres Volkes widerspricht.

Die Gobineaugesellschaft, gegründet 1894 von Ludwig Schemann (1852–1938), wollte die „nordisch-germanische Rasse“ fördern, ließ Gobineaus Werke ins Deutsche übersetzen und veröffentlichen. Auch Chamberlain gehörte ihr an.[39] Theodor Fritsch gründete 1904 „Hammer-Gemeinden“, die sich 1912 im Reichshammerbund einten, um die nicht parteigebundenen Antisemiten zu sammeln. Er kooperierte dazu eng mit dem Alldeutschen Verband.

Bei der Reichtagswahl 1912 verloren die Antisemitenparteien weitere Wähler; auch die rassistischen Reformvereine hatten kaum messbaren Erfolg. Heinrich Pudor zog in seiner Schrift Wie kriegen wir sie hinaus? 1913 die Bilanz, die antisemitische Bewegung habe seit der Reichsgründung „so gut wie nichts" erreicht. Man solle daher den Juden „das Leben so sauer machen, dass sie von selbst wieder zum Wanderstab greifen“ und „mit Hilfe von Ansiedlungsverträgen dieses Völkergift wieder ausstoßen." Über ältere Zuwanderungs- und Berufsverbote hinaus forderte Pudor nun die „gesetzliche Eliminierung des Judentums aus deutschen Landen". Die Parole vom „Ausschluss der Juden“ war Allgemeingut in antisemitischen Gruppen geworden; ein realistisches Konzept für dessen politische Umsetzung fehlte.

1914 gelang es dem Reichstagsabgeordneten Ferdinand Werner, beide Antisemitenparteien in der Deutschvölkischen Partei (DVP) zu vereinen. Deren Hamburger Programm forderte die „völlige Absonderung“ und zuletzt die unabwendbare „Vernichtung“ der Juden als „Weltfrage“ des 20. Jahrhunderts.[40]

Einfluss auf Innenpolitik und etablierte Parteien

Die Erfolge antisemitischer Agitation beeinflussten die Konservative Partei: Diese nahm 1892 einen Teil antisemitischer Forderungen in ihr Parteiprogramm auf. Auch die katholische Zentrumspartei ließ - nicht zuletzt wegen der Haltung von Papst Pius IX., der Juden seit 1872 der Neigung zu Anarchismus und Freimaurerei bezichtigte - zunächst einige antijudaistische Abgeordnete auf ihren Listen kandidieren. Der Zentrumsführer Ludwig Windthorst setzte sich jedoch öffentlich für die Rechte der Juden ein und ließ den preußischen Abgeordneten Cremer, der sich der antisemitischen "Berliner Bewegung" angeschlossen hatte, aus der Fraktion und der Partei ausschließen. Über die "Kölnische Volkszeitung" ließ er antijüdische Ausfälle in katholischen Presseorganen rüffeln. Danach blieb die Zentrumspartei weitgehend frei von antisemitischen Gedankengut und verteidigte die Juden, etwa 1887, als Antisemiten im Bündnis mit Tierschützern das Schächten verbieten lassen wollten.

Dies trug dazu bei, dass die „Radauantisemiten" Splittergruppen blieben, aber bleibende Aufmerksamkeit für ihr Thema erreichten. Die antisemitischen Verbände bejahten die Staatsordnung und überwiegend auch die nationalistische, kolonialistische und imperialistische Regierungspolitik, obwohl diese ihre antijüdischen Forderungen nur zum Teil umsetzte. Der gemäßigte Antisemitismus der nationalliberalen und konservativen Parteien begünstigte diese Übereinstimmung.

 
Antisemitische Karikatur von katholischer Seite (1872): "Kreuzige ihn; denn er ist ein Jesuit! Wenn du diesen loslässt, so bist du kein Freund des Kaisers" (Anspielung auf 19,12 im Johannesevangelium)

Im Kaiserreich belegte der Begriff „Antisemitismus“ vor allem die politische Zielsetzung, einen vermeintlich übergroßen jüdischen Einfluss zurückzudrängen. Auch einige Sozialisten äußerten sich in diesem Sinne, so Johann Baptist von Schweitzer, Präsident des ADAV, und die Redakteure sozialdemokratischer Zeitungen Wilhelm Hasselmann und Richard Calwer. Franz Mehring, enger Freund der Jüdin Rosa Luxemburg und Parteihistoriker, sprach oft abfällig und feindselig über Juden. In sozialdemokratischen Unterhaltungsblättern - z.B. dem Wahren Jakob, Süddeutschen Postillon oder der Neuen Welt - tauchten ab 1890 in Witzen, Karikaturen und Alltagsgeschichten jene judenfeindlichen Klischees auf, die sich in den vergangenen Jahrzehnten als soziale Normalität etabliert hatten: Juden werden als vom Profitstreben gelenkte, gerissene Schacherer und Wucherer, Börsenjobber und Händler ohne Geschäftsmoral dargestellt. Die Klischees unterschieden sich nicht von denen, die bürgerliche Literatur wie Der Jude von Karl Spindler, Der Büttnerbauer von Wilhelm von Polenz, Soll und Haben von Gustav Freytag, Rembrandt als Erzieher von August Julius Langbehn u.a. damals unter das Volk brachten.

Die SPD nahm jedoch seit ihrer Gründung nie antisemitische Forderungen in ihr Programm auf und war die einzige Partei im Kaiserreich, die dieser Ideologie offen widersprach. Typisch für ihren Fortschrittsglauben war aber, dass ihre Führer den verachteten „Radauantisemitismus" weit unterschätzten. So erklärte Wilhelm Liebknecht 1893: Ja, die Herren Antisemiten ackern und säen und wir Sozialdemokraten werden ernten. Ihre Erfolge sind uns also keineswegs unwillkommen. August Bebel, für den Antisemitismus „der Sozialismus der dummen Kerls" war[41], glaubte, sie hätten nie Aussicht, irgendeinen maßgebenden Einfluß auf das staatliche und soziale Leben auszuüben.[42]

Doch zunächst überlagerte der 1. Weltkrieg die innenpolitischen Fronten und band alle Deutschen in vermeintlich patriotische Pflichten ein. Dies schmälerte die Popularität judenfeindlicher Propaganda nicht. 1916 reagierte der Kriegsminister Hohenborn mit der Judenzählung auf verstärkte Hetze, Juden seien Drückeberger, die sich häufiger krank meldeten an der Front als Nichtjuden. Als die statistische Erhebung im Gegenteil einen höheren Anteil nichtjüdischer Dienstverweigerer ergab, hielt der Minister sie unter Verschluss. Die antisemitische Propaganda ging kaum vermindert weiter: Artur Dinter, Vorläufer der späteren Deutschen Christen, schrieb 1917 den Bestseller Die Sünde wider das Blut. Darin zeigte er, wie sehr antisemitische Stereotypen auch mit körperlichen Zuschreibungen verbunden waren. Heinrich Pudor rief ab 1917 zu Gewalt gegen Staatsvertreter auf, die für ihn die absehbare Kriegsniederlage und kommende „Judenrepublik“ verkörperten. So gewann Pogromhetze und direkte Gewalt gegen Juden bald nach dem Kriegsende an Boden.[43]

Jüdische Reaktionen

Juden gehörten im Kaiserreich ebenso wie ihre Gegner meist zum aufstrebenden Bürgertum. Sie erfuhren vor allem in Schule, Universität und Armee unvermeidbar alltägliche Diskriminierung und Feindseligkeit, so dass Walther Rathenau resümierte:[44]

In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es den schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn er sich zum erstenmal voll bewusst wird, dass er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist, und dass keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.

Die antisemitische Propaganda traf besonders gebildete Juden unvorbereitet, da sie sich von ihren Traditionen bereits vielfach weit entfernt hatten. So antwortete der jüdische Historiker Harry Bresslau 1880 apologetisch auf Treitschke, „Juden“ und „Semiten“ seien nicht identisch. Er werde nur die als Juden bezeichnen, deren beide Eltern als Juden geboren seien. Die Fortdauer des deutschen Judentums war nicht seine Sorge, er vertrat eine vollständige Assimilation der Juden und ihr Aufgehen in der deutschen Nation. Seine Argumentation begünstigte aber die Gleichsetzung von Juden mit einer angeblichen „semitischen Rasse“: 1895 definierte der Brockhaus „Semitismus“ als Bezeichnung für das ausschließlich vom ethnologischen Standpunkt aus betrachtete Judentum.

Der jüdische Arzt Leo Pinsker bereiste unter dem Eindruck der Pogrome in Russland von 1881 ganz Europa. Er sah in dem Umsichgreifen des Rassenwahns gerade in den „aufgeklärten" Ländern eine „Judäophobie“, also eine Geisteskrankheit, in der sich gegenseitig verstärkende „Gewissheiten“ eine kollektive mentale Störung anzeigten. Er folgerte in seinem Aufsatz „Autoemanzipation“ 1882 daraus die Notwendigkeit eines eigenen jüdischen Landes und wurde damit ein Pionier des Zionismus.

Diese Haltung lehnten die meisten deutschen Juden jedoch ab und zogen vor, für ihre Integration zu kämpfen. Wegen der Ausgrenzung jüdischer Studenten aus den meisten Studentenverbindungen kam es mit der Viadrina in Breslau 1886 zur ersten rein jüdischen Studentenverbindung, 1896 zum ersten Kartellconvent jüdischer Verbindungen (KC). Diese bekannten sich bewusst gleichermaßen zu Deutschtum und Judentum und versuchten, ihre Mitglieder durch Sport zu ertüchtigen, um in Duellforderungen ihre Ehre gegen Antisemiten zu erkämpfen. - 1895 gründeten Heinrich Loewe und Max Bodenheimer in Berlin den Verein jüdischer Studenten, der vor allem Mitglieder aus Russland und Polen anwarb. Weitere zionistische Vereine schlossen sich 1914 im Kartell Jüdischer Verbindungen (KJV) zusammend, das „für eine der Vergangenheit des jüdischen Volkstums würdige Erneuerung in Eretz Israell" eintrat. KC und KJV lehnten einander radikal ab, obwohl beide ihre Mitglieder zur Teilnahme am am 1. Weltkrieg aufriefen.

Viele Juden zogen es vor, in nichtreligiösen und nichtnationalistischen Gruppen mitzuarbeiten, z.B. dem linksliberalen Verein für Sozialpolitik. Sie hofften, durch Anpassung und Verbergen ihres Judeseins bis hin zur Selbstaufgabe von Nichtjuden akzeptiert zu werden. Sie hatten die rechtliche Gleichstellung nur um den Preis ihres „Nationalbewusstseins" erhalten und bejahten dies in der Hoffnung, dass der Liberalismus den Antisemitismus allmählich überwinden würde. So gründeten liberale und zum Christentum konvertierte Juden erst 1891 den Verein zur Abwehr des Antisemitismus. 1893 bildeten liberale Bürger in Berlin zudem den Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Doch diese hatten auf die generelle Entwicklung kaum Einfluss und suggerierten ihren Mitgliedern nur, doch irgendwie zur bürgerlichen Gesellschaft zu hören.

Unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre in Frankreich schrieb Theodor Herzl 1896 sein Buch Der Judenstaat, das den politischen Zionismus begründete. Ein Jahr darauf berief er den 1. Zionistenkongress nach Basel ein. Doch die meisten Juden rangen weiterhin um Anerkennung und Gleichberechtigung im Kaiserreich. Folglich meldeten sich etwa 100.000 Juden auf Drängen ihrer Vereine freiwillig zum deutschen Militärdienst und zur Front, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Etwa 2000 von ihnen wurden trotz Ablehnung der höheren Ränge in den Offiziersrang befördert und oft für besondere Tapferkeit ausgezeichnet. Sie glaubten, ihre Eisernen Kreuze würden sie vor weiteren Verfolgungen schützen.

Weimarer Republik

Als die Novemberrevolution 1918 das Ende der Monarchie erzwang, traten die im Krieg verschärften sozialen Gegensätze offen hervor. Geschockt von der drohenden Entmachtung durch Sozialdemokraten und Pazifisten, lasteten besonders Offiziere und Teile des Bürgertums Kriegsniederlage und Auflagen des Versailler Vertrags den „jüdischen“ Führern der Arbeiterbewegung an. So griffen Freikorpssoldaten und Studenten während der blutigen Niederschlagung der kommunalen Räterepubliken zusätzlich Juden an; Rosa Luxemburg wurde kurz vor ihrer Ermordung als „Judenhure“ schwer misshandelt.[45]

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Antisemitisches Stereotyp des Juden als Ausbeuters auf einer Postkarte aus dem Jahr 1918

Seit der Republikgründung 1919 konnten Juden erstmals in höchste Staatsämter aufsteigen. Obwohl auch konservative Juden skeptisch gegen die Linksparteien waren, galten sie weithin als Profiteure von Umsturz und Kriegsniederlage. Antisemiten, die bislang auf staatliche Umsetzung ihrer Ziele gehofft hatten, lehnten daher fast immer Revolution und Demokratie zugleich ab, ihre Gegner verteidigten meist beides. War allzu offene antisemitische Propaganda im Krieg staatlich zensiert worden, um den Burgfrieden nicht zu gefährden, so konnten sich die Antisemiten nun ungehindert neu organisieren und agitieren. Zeitungen wie das Deutsche Wochenblatt und Fluglätter hetzten gegen die Juden. Bei deren Verteilung kam es bis zum Frühjahr 1920 öfter zu Prügeleien auf offener Straße; eingreifende Polizei nahm nicht selten Juden zu ihrem Schutz oder als Anstifter fest.[46]

Neugegründete rechtsradikale Gruppen wie die Thulegesellschaft oder der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund propagierten die Dolchstoßlegende. Der ehemalige Kaiser Wilhelm II. gab dieser eine antisemitische Stoßrichtung:

Während unter Mir, meinen Generalen und Offizieren das tapfere Frontheer die Siege erfocht, verlor das Volk zuhause, von Juda und Entente belogen, bestochen, verhetzt, mit seinen unfähigen Staatsmännern den Krieg.[47]

Die Juden, die man schon lange mit Sozialisten als „innere Reichsfeinde“ markiert hatte, wurden nun auch mit „Bolschewisten“ identifiziert, die dem „im Felde unbesiegten" Heer heimtückisch in den Rücken gefallen seien. Sie wollten Deutschland versklaven und alle kulturellen Werte der Nation vernichten. Dabei verwies man auf jüdische Namen unter führenden russischen wie deutschen Revolutionären. Die 1919 auf Deutsch veröffentlichten Protokolle der Weisen von Zion schienen diese Verschwörungstheorie zu bestätigen.

Die antisemitisch eingestellten Studenten und Akademiker fanden ihre politische Heimat seit 1918 in mehreren rechtsextremen und bürgerlich-konservativen Parteien, vor allem in der DNVP. Diese startete 1919 eine Kampagne gegen sogenannte Ostjuden, verlangte einen Zuzugsstop und ihre Ausweisung, um so die Meinungsführerschaft gegenüber den „Radauantisemiten“ wiederzugewinnen. - Etwa 34.000 meist polnische Juden waren im Krieg als Rüstungsarbeiter angeworben und interniert worden; danach flohen zudem etwa 107.000 in Osteuropa verfolgte und verarmte Juden nach Deutschland. Etwa ein Viertel davon lebten vorübergehend oder dauerhaft in Berlin Mitte. Bis 1921 waren ca. 40 Prozent weitergewandert. - In Bayern wurden osteuropäische Juden nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920 von den Behörden gezielt schikaniert und teilweise in Abschiebelagern interniert.[48]

Die Deutsche Burschenschaft beschloss 1921 die Ausgrenzung ihrer jüdischen Mitglieder. Mit der Propagierung der „nationalen Revolution“ wurden viele Studentenverbindungen zum Steigbügelhalter des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds (NSDStB). Mit diesem Schlagwort fanden preußische Konservative, bürgerliche Monarchisten, Staatsbegeisterte und Volkstumsverehrer ihren gemeinsamen faschistischen Nenner. Diese Ablehnung der oft als „Judenrepublik" verachteten Demokratie im reaktionären Bürgertum gilt als ein wichtiger Faktor, der den Siegeszug des Nationalsozialismus mit ermöglichte.

Nach einer von einigen Medien unterstützten Hetzkampagne ermordeten rechtsextreme paramilitärische Geheimbünde wie die Organisation Consul Symbolfiguren ihres Judenhasses, darunter 1922 Außenminister Walther Rathenau. Dadurch nahmen republiktreue Medien, Parteien und Interessenverbände den Antisemitismus nun als Angriff auf die Verfassung wahr. Dem Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens gelang es zeitweise, mit einer Kampagne die enorme Zunahme antisemitischer Friedhofsschändungen (etwa 200 registrierte Fälle 1923-1932) bewusst zu machen und zu verringern.

Im Herbst 1923 kam es auf dem Höhepunkt der Inflation zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden im Scheunenviertel (Berlin). Jugendliche und Arbeitslose drangen in deren Geschäfte und Wohnungen ein, misshandelten die Bewohner und raubten sie aus. Rechtsradikale Gruppen hatten zuvor gezielt zum Pogrom aufgerufen: „Galizier“ hätten das wertbeständige Notgeld aufgekauft, das die Stadtverwaltung für die Erwerbslosen ausgegeben hatte.[49]

Im selben Jahr nahm der aus dem Freikorps Oberland hervorgegangene Bund Oberland während des Hitler-Ludendorff-Putsches in München wahllos Juden oder „jüdisch aussehende“ Bürger als „Geiseln“, um den politischen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Von da an war Straßengewalt von SA-Banden, aber auch anderen rechtsradikalen Gruppen gegen Juden wie gegen politische Gegner alltäglich. Sie wurde von Polizei und Justiz kaum verfolgt.[50] Der jüdische Rechtsanwalt Ludwig Foerder dokumentierte 1924 in Schlesien mit einer Skandalchronik, wie stark Staatsbehörden antisemitische Straftaten duldeten oder durch Gesinnungsurteile mittrugen.

Parallel dazu erneuerten konservative Akademiker wie Wilhelm Stapel oder Edgar Julius Jung die Volkstumsideologie des 19. Jahrhunderts. Stapel erklärte 1927 das deutsche und das jüdische Kollektiv für unvereinbar und forderte, den Zionismus zu unterstützen, um Juden zur Auswanderung zu drängen. Jung forderte eine Rückkehr zur Ständegesellschaft und gesetzliche „Dissimilation“ der Juden.

Am 12. September 1931 leiteten etwa 500 SA-Angehörige in Berlin den ersten Kurfürstendamm-Krawall als „Säuberungsaktion“ eines „verjudeten“ Straßenzugs ein. Dabei wurde geprügelt, aber keine Waffen benutzt. 33 ermittelte Beteiligte wurden zu teils mehrjährigen Haftstrafen verurteilt; der Initiator Wolf-Heinrich von Helldorff kam mit einer geringen Geldbuße davon.

Aber auch in der deutschen Arbeiterbewegung war Antisemitismus, obwohl häufig verharmlost oder geleugnet, anzutreffen. Er wurde zum Teil als konsequenter Antikapitalismus begriffen und gerechtfertigt. So forderte das ZK-Mitglied der deutschen KP Ruth Fischer 1923:

„Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie!“ [51]

Die Hetzkampagne der Nationalsozialisten gegen den jüdischen Polizeivizepräsident von Berlin Bernhard Weiß mit dem Namen Isidor beruht auf dem Vorbild entsprechender Verunglimpfungen der Person in der Zeitschrift Roter Aufbau.

Clara Zetkin warnte 1924 in einem Brief aus Moskau an den neunten Parteitag der KPD:

„Die linke Parteimehrheit vereinigt brüderlich reichlichst KAPisten, Syndikalisten, Antiparlamentarier, bei Lichte besehen - horribile dictu - sogar Reformisten und neuerdings - faschistische Antisemiten.“

Nationalsozialismus

 
Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933

Adolf Hitler war nach eigener Aussage schon in seiner Schulzeit „instinktiv" Judenfeind. Seit 1908 in Wien beeinflussten ihn Antisemiten wie Jörg Lanz von Liebenfels, der Wiener Bürgermeister Karl Lueger sowie Georg Ritter von Schönerer (1842-1921), der autokratische Führer der „Alldeutschen", die für Österreichs Anschluss an das Deutsche Reich kämpften.

Nach dem Krieg in München wohnhaft, bekämpfte Hitler die Münchner Räterepublik nicht aktiv. Erst 1924 in der Rückschau gab er Rache dafür als wesentliches Motiv für seine Hinwendung zur Politik an. In einem als bestelltes „Gutachten" deklarierten Brief vom 16. September 1919 schrieb er zur „Judenfrage“:[52]

Der Antisemitismus aus rein gefühlsmäßigen Gründen wird seinen letzten Ausdruck finden in der Form von Pogromen. Der Antisemitismus der Vernunft jedoch muss führen zur planmäßigen gesetzlichen Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte der Juden, die er zum Unterschied der anderen zwischen uns lebenden Fremden besitzt (Fremdengesetzgebung). Sein letztes Ziel aber muss unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein.

Das nicht von Hitler verfasste 25-Punkte-Programm der NSDAP von 1920 legte fest: Kein Jude kann Volksgenosse sein...er muss unter Fremdengesetzgebung stehen, er darf kein öffentlichen Amt bekleiden. Alle Juden, die seit dem 2. August 1914 eingewandert waren, sollten ausgewiesen werden, ebenso alle „Angehörigen fremder Nationen“ bei Versorgungsknappheit.

Nach dem Hitlerputsch schrieb Hitler in der Festungshaft 1924 seine Autobiographie Mein Kampf: Darin bekannte er sich offen zum eliminatorischen Rasse-Antisemitismus und kündete an, die „Entfernung" aller Juden politisch und militärisch durchzusetzen. Er sah darin eine Art Mission zur Befreiung der Menschheit vom angeblichen Weltjudentum, auf dessen Verschwörung gegen die „arische Herrenrasse" er den angloamerikanischen Kapitalismus und russischen Bolschewismus gleichermaßen zurückführte. Dabei übernahm er die These der „Protokolle der Weisen von Zion". Aus seinen Fronterfahrungen gewann er auch die Idee, Juden mit chemischen Massenvernichtungsmitteln zu ermorden.

Bei den Reichstagswahlen 1928 erhielt die NSDAP nur 2,6 Prozent der Stimmen. Danach verminderte sie ihre antisemitische Propaganda, da diese vor allem in bürgerlichen Kreisen abschreckend wirkte. Stattdessen setzte die Partei nun vor allem auf außenpolitische Themen wie den Young-Plan und die sozialen Folgen der Weltwirtschaftskrise.

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Artikel „Der Satan“ in Der Stürmer

Sofort nach der Machtergreifung am 30. Januar 1933 verfolgten die Nationalsozialisten aber wieder ihr Programm von 1920, alle Juden aus der deutschen Gesellschaft zu verdrängen. In den Parteiideologen Julius Streicher (Der Stürmer), Alfred Rosenberg (Der Mythus des 20. Jahrhunderts) und Joseph Goebbels sowie in der von Heinrich Himmler aufgebauten SS hatte Hitler dafür fanatische und ergebene Mitstreiter. In nie zuvor gekannter Schärfe und Konsequenz führten die Maßnahmen des NS-Regimes über Geschäftsboykotte, Berufsverbote, Emigrationsdruck, die Nürnberger Rassengesetze, die „Reichskristallnacht“, „Arisierung“, Ghettoisierung bis zur Planung und Durchführung der „Endlösung der Judenfrage“. Seit 1939 kündete Hitler offen die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ an; im Herbst 1941 wurde sie begonnen. Allein diese industriell organisierte Massenvernichtung – im jüdischen Selbstverständnis Shoa („Unheil, Katastrophe“) genannt – forderte um die sechs Millionen Opfer.

Auch Osteuropäer, besonders Russen und Polen, wurden als „Slawen“ rassistisch abgewertet und massenhaft Opfer der deutschen Arbeits- und Vernichtungslager und der Zwangsarbeit; doch zielte diese Politik anders als bei den Juden nicht auf ihre völlige Vernichtung. Zwar wandten sich die Nationalsozialisten in einem Dekret vom Mai 1943 vom Begriff „Antisemitismus“ ab, um den neugewonnenen arabischen Verbündeten gegenüber nicht den Eindruck zu erwecken, man „werfe Araber mit den Juden in einen Topf“. Doch der Judenmord ging unvermindert weiter und wurde sogar noch intensiviert, als mit der verlorenen Schlacht um Stalingrad und dem Kriegseintritt der USA die Kriegsniederlage feststand.

Das deutsche NS-Regime steht daher für die unerreicht mörderische Umsetzung einer von Beginn an menschenverachtenden Ideologie.

Frankreich

Die Erklärung der Menschenrechte von 1789 hatte die französischen Juden noch nicht explizit einbezogen, da sie zunächst nicht als Teil der Nation galten. Nach zweijährigen Debatten, ob man sie vertreiben oder einbürgern solle, entschied die französische Nationalversammlung 1791 sich für ihre sofortige und uneingeschränkte rechtliche Gleichstellung. Während der Terrorherrschaft der Jakobiner 1793-1794 traten jedoch massive judenfeindliche Tendenzen der ländlichen und städtischen Unterschichten zutage.

Dennoch beeinflusste die französische Revolution die Entwicklung zur Judenemanzipation in ganz Europa. Weil diese eins ihrer bleibenden Ergebnisse war, verband sich Antisemitismus auch in Frankreich selbst seither mit royalistischen, antirevolutionären und antidemokratischen Gruppen und Tendenzen.

1846 erschien in Paris das Traktat von Alphonse Toussenel: Les Juifs, rois de l'epoque („Die Juden, Könige der Epoche“), das bald in viele Sprachen übersetzt wurde. Es war eine der ersten Schriften, die vor einer jüdischen Weltherrschaft warnte: Die einst unterdrückte, nun privilegierte Minderheit werde die christliche Welt unterwerfen und drohe Rache an den früheren Verfolgern zu nehmen.

1858 definierte Gobineau in seiner Rassenlehre den Begriff der Nation gegen die Revolutionäre von 1789 völkisch und genetisch. Er fand damit in seiner Heimat aber nur bei wenigen Intellektuellen wie Ernest Renan und Edouard Drumont (1844-1917) Resonanz. So verfasste Drumont 1880 La France juive, das viele Auflagen erlebte. Es gilt als Grundlagenwerk des modernen Antisemitismus in Frankreich und wirkte auch auf deutsche Antisemiten zurück.

Bereits 1869 war in Paris das Pamphlet Le juif, le judaïsme et la judaisation des peuples chrétiens („Die Juden, der Judaismus und die Judaisierung der christlichen Völker") von Roger Gougenot des Mousseaux erschienen. Für dieses Machwerk, das die Verschwörungstheorie einer Allianz von Juden und Freimaurern zur Weltbeherrschung aufleben ließ, erhielt der Autor einen hohen päpstlichen Orden.

1894 zeigte die Dreyfusaffäre, wie stark der Antisemitismus im französischen Militär und in der Justiz verankert war: Reaktionäre Offiziere und Richter, unterstützt von Monarchisten und strenggläubigen Katholiken verurteilten den Hauptmann Alfred Dreyfus, Elsässer und Jude, aufgrund gefälschter Papiere wegen Landesverrats. Als die Fälschung bekannt wurde, verweigerte man ihm jahrelang die Rehabilitation. Journalisten wie Emile Zola, die sich öffentlich für Dreyfus einsetzten, wurden gerichtlich verfolgt. Die Affäre ließ Theodor Herzl zu dem Schluss kommen, dass die Assimilation der Juden in Europa gescheitert und jüdisches Leben auf Dauer nur in einem eigenen jüdischen Staat möglich sei. Sein Buch Der Judenstaat (1896) begründete den politischen Zionismus.

 
Antisemitische Karikatur in Frankreich (1898)

Nachdem Dreyfus 1905 schließlich rehabilitiert wurde, war der Antisemitismus in Frankreich gesellschaftlich und politisch diskreditiert. Nach dem Ersten Weltkrieg flackerte er unter dem Einfluss von Charles Maurras nochmals kurz auf.

Während der Occupation 1940 bis 1944 setzten sich erneut antidemokratische und antisemitische Tendenzen durch. Das Vichy-Regime beteiligte sich aktiv an Inhaftierung und Deportation französischer Juden in die deutschen Vernichtungslager. Die Bevölkerung war gespalten: Viele Franzosen halfen, Juden zu verstecken, in den unbesetzten Teil Frankreichs zu schleusen und nahmen an der Résistance teil, während andere sie denunzierten und auslieferten. Die Propaganda französischer Antisemiten erhielt Auftrieb: In Bordeaux initiierte der „Inspektor für Judenfragen", Maurice Papon, 1942 die Wanderausstellung Der Jude und Frankreich, die viel Anklang fand. Die Zeitung La Petite Gironde schrieb:

Der Volksmund sagt, bei einem Verbrechen müsse man stets nach der Frau suchen, die dahinter steckt. Fortan wissen wir, dass wir bei allen Miseren, Konkursen, finanziellen Katastrophen, Skandalen oder Kriegen nach dem Juden suchen müssen, der dahinter steckt.

Großbritannien

Nachdem im Jahr 1290 alle Juden vertrieben wurden, begannen diese um die Mitte des 17. Jahrhunderts zurückzukehren. Um 1750 lebten circa 8000 Juden im Land, die jedoch etlichen Beschränkungen (Ausschluss vom Seehandel, Verbot des Ankaufs von Land, und verwehrter Zugang zu öffentlichen Ämtern) unterlagen. Ein Einbürgerungsgesetz (jewish naturalization act) des Whig-Premieministers Henry Pelham traf auf erbitterten Widerstand der Tory-Opposition und der Öffentlichkeit. Im Verlauf dieser Ereignisse kam es zu einer heftigen Diskussion über die Judenfrage, was jedoch nicht als breiter Antisemitismus gedeutet werden kann. [53] Die Unterbrechung des jüdischen Lebens während der Zeit entscheidender wirtschaftlicher Entwicklungen wird als einer der Gründe für den relativ schwach entwickelten Antisemitismus im Lande gesehen. [54]

Im britischen Königreich vollzog sich die Judenemanzipation in der Folgezeit fast ohne öffentliche Debatte. Seit 1850 waren Juden nur noch vom Eintritt in das Parlament ausgeschlossen (1858 erhielten sie Zugang zum Unterhaus), und bis 1871 konnten sie nicht Fellows in Oxford und Cambridge werden.

Während des Zweiten Burenkriegs von 1899 bis 1902 kam Antisemitismus in breiter Front auf der Seite der liberalen und linken Kriegsopposition zum Ausdruck. Hierbei wurde der Krieg als im Interesse von „jüdischer Finanz“ geführter „Judenkrieg“ bewertet. Zentrales Motiv der antisemitischen Vorurteile war seine seine Verbindung mit einer Germanophobie. Dies reichte von undifferenzierter Unterstellung prodeutscher politischer Sympathien, über Verschwörungstheorien bis hin zur Gleichsetzung aller Juden mit Deutschen, sowie der besonders negativen Darstellung deutscher Juden. [55]

 
Solomon enjoys himself with two pretty christian girls - Karikatur von Thomas Rowlandson (1756-1827)

Erst im Zuge der starken Einwanderung von fast 200.000 Ostjuden aus Polen und Russland um 1900 kam es zu Konflikten. Die Zuwanderer waren durch Sprache, Tracht und Sitten deutlich unterscheidbar und trafen meist völlig mittellos in England ein. Aus Furcht vor billigen „Lohndrückern“ streikten 1903 die Bergarbeiter von Süd-Wales gegen ihre aus Polen stammenden Kollegen und verlangten einen Einreisestopp für verarmte Ausländer. Diese Anti-Alien-Bill wurde 1905 gegen Proteste der englischen Liberalen erlassen. Ein späterer Zusatz nahm allerdings aus religiösen und politischen Gründen Verfolgte davon wieder aus, so dass aus Russland und Rumänien vertriebene Juden weiterhin fast ungehindert einreisen konnten. Sie wurden relativ reibungslos integriert.

Im 1. Weltkrieg entstanden auch in Großbritannien kleine Gruppen von Antisemiten, die aus nationalistischen Gründen vor allem deutsche Juden ablehnten, ohne damit größere Wirkungen zu erzielen. Bernhard Shaw stellte 1925 fest, es gäbe in seinem Land zwar antijüdische Vorurteile, aber diese seien nicht von Vorurteilen gegen Schotten, Iren, Walliser und alle Fremden verschieden. So wie man die Habsucht der Juden verhöhne, spotte man auch über den Geiz der Schotten. Von einem Antisemitismus könne für England keine Rede sein. Trotz der enormen Zuwanderung von Juden, sozialen Konflikten und gleichzeitiger heftiger antisemitischer Propaganda auf dem Kontinent, vor allem in Deutschland, bewahrte sich Großbritannien also seine Liberalität und öffnete Juden alle sozialen Aufstiegschancen.

Ein Grund dafür lagen im hier traditionell starken aufgeklärten Philosemitismus, etwa von Dichtern wie Matthew Arnold und der Schauspielerin Mary Ann Evans, bekannt unter dem Pseudonym George Eliot. Ihr Aufsatz Die Juden und ihre Gegner, der leidenschaftlich und intelligent für die Verständigung und Aussöhnung mit dem lange geknechteten Judentum plädierte, fand 1880 viel Zustimmung. Ein weiterer Grund lag im theologischen Interesse der englischen Christen an der heilsgeschichtlichen Rolle Israels. Dies führte 1850 zur Bildung einer „Israel-Bewegung“ (British Israel Movement), die auch kirchenoffizielle Theologen des Anglikanismus und Methodismus beeinflusste.

Doch 1930 entstand auch in England eine faschistische Strömung, die sich in der British Union of Fascists organisierte. Sie konnte aber keine entscheidende politische Macht erringen.

Italien

In Italien gab es bis 1936 keine „Judenfrage“: Die etwa 70.000 jüdischen Italiener wurden nicht diskriminiert. Benito Mussolini fand seit 1921 unter ihnen Gegner, aber auch opferbereite Mitstreiter, z.B. Enrico Rocca, den Gründer des römischen Faschismus. Er setzte den Begriff „Rasse“ mit der Nation gleich, unterschied also Juden und Italiener nicht. Politisch suchte er den Dialog mit Vertretern zionistischer Organisationen, um internationale Anerkennung zu gewinnen und den britischen Einfluss im Mittelmeerraum zurückzudrängen. Er gab sich als Philosemit und verspottete Hitlers Rassetheorien, so dass NSDAP-Ideologen wie Rosenberg ihn zeitweise als „Judenknecht“, der selber von polnischen Juden abstamme, denunzierten.

Erst nach dem Abessinienkrieg und der „Achse Rom-Berlin“ 1936 machte Mussolini Zugeständnisse an die nationalsozialistische Ideologie. Ein „Rassenmanifest“ seiner Partei sprach 1938 von einer „reinen italienischen Rasse“, die „arischen Ursprungs“ sein sollte. Im Herbst jenes Jahres verboten Gesetze, die den Nürnberger Rassegesetzen glichen, Personen mit einem jüdischen Elternteil die Ehe mit „Ariern“, Bekleidung öffentlicher Ämter und Beschäftigung „arischer“ Angestellter. Weitere Gesetze verboten ihnen den Besitz von Radiogeräten, den Besuch von Bibliotheken und Schulen zusammen mit Nichtjuden.

Damit war keine weitere Verfolgung intendiert: Bis 1943 lebten jüdische Italiener noch relativ sicher in ihrer Heimat. Erst die nach Mussolinis Sturz von Deutschen eingesetzte Marionettenregierung ließ Juden in besonderen Konzentrationslagern internieren und ihr Eigentum beschlagnahmen. Die deutschen Besatzer bereiteten Maßnahmen zur „Endlösung" vor und trieben die Juden italienischer Großstädte in Ghettos, um sie in die Vernichtungslager zu deportieren. Die italienische Bevölkerung lehnte dies überwiegend ab, da Juden nicht als Fremde galten. Trotz schwerster Strafandrohungen versteckten viele ihre jüdischen Nachbarn und verhalfen ihnen zur Flucht, besonders nach der „Räumung" des römischen Judenghettos innerhalb nur eines Tages am 17. Oktober 1943.

Iberische Halbinsel

Spanien

Spanien hatte sein Judenproblem schon gegen Ende des Mittelalters "gelöst". Nach dem Ausweisungsedikt vom 31. März 1492 mussten alle Juden, sofern sie sich nicht taufen ließen, binnen drei Monaten das Land verlassen. Die konvertierten Juden (marranos) werden dennoch weiterhin als Juden betrachtet und der Zusammenarbeit mit ihren früheren Glaubensbrüdern verdächtigt.

Juden und marannos werden immer wieder Opfer der Inquisition. So werden im Jahr 1680 bei einem Autodafé in Madrid 86 Juden verbrannt. Mit dem Nachweis der Blutreinheit (Limpieza de sangre), einer frühen kodifizierten Verbindung von Antisemitismus und Rassismus (Estatutos de limpieza de sangre, erstmalig in Toledo 1449 niedergelegt), bis zu einem 16-tel jüdischen Erbanteils sollte einer Integration der Konvertiten vorbeugt werden.

"Erstmalig in der europäischen Geschichte trat hier eine Argumentationsfigur auf, bei der man sich auf die rassenbiologische, durch individuelle Wahl nicht beeinflussbare Andersartigkeit berief." [56]

Vom 16. Jahrhundert bis Anfang des 19. Jahrhunderts war zur Erlangung eines höheren Amtes die Vorlage eines reinen Stammbaums, ähnlich dem Ariernachweis, erforderlich. Im Jahr 1796 empfiehlt der Finanzminister Don Pedro Varela, der sich von einer jüdischen Einwanderung eine wirtschaftliche Belebung und Konsolidierung der nach dem Krieg gegen Frankreich schwachen Finanzlage verspricht die Aufhebung des Niederlassungsverbotes. 1802 bestätigt Karl der IV., unter anderem auf Drängen des Klerus, erneut das Niederlassungsverbot. Ab 1876 werden die Juden in Spanien dann geduldet. In religiöser Hinsicht sind sie dennoch weiter diskriminiert, denn nach Artikel 11 der Verfassung von 1876 ist jede „religiöse Kundgebung" außer der katholischen verboten. 1909 wird Artikel 11 aufgehoben.

Trotz der engen Anlehnung des Franco-Regimes an Deutschland und öffenlicher Äußerungen wie:

"...die Einstellung der spanischen Regierung gegenüber Bolschewismus und Kommunismus sich nicht ändern werde, und dass dieser Kampf im In- und Ausland fortgeführt werden würde, ebenso wie gegen das Judentum und die Freimaurerei." [57]

unterschied sich Franco in Bezug auf die Judenfrage von Hitler. Spanien soll circa 50.000 europäische Juden gerettet haben, welche sich nach Spanien flüchteten. 1933 gelang eine größere Anzahl Juden von Deutschland nach Spanien. Auch in der Folgezeit wurde ein "Transit" von jüdischen Flüchtlingen, sofern er unauffällig vor sich ging, toleriert.

Portugal

Belgien

Niederlande

In den Niederlanden erhielten Juden schon 1796 die vollen bürgerlichen Rechte und konnten sich danach frei entfalten und integrieren. Sie stiegen z.B. früh in hohe Staatsämter auf, waren Richter, Universitätsprofessoren usw.

Ab 1924 entstand hier eine rechtsautoritäre Strömung mit teilweise faschistischen Positionen, die Nationale Unie. 1931 gründeten Cornelis van Geelkerken (1901-1976) und Anton Adriaan Mussert (1894-1946) in Utrecht die neue Nationaal-Socialistische Beweging (NSB), die sich mit ihrem Führerprinzip an Mussolini anlehnte und wie dieser keinen ausgeprägten Antisemitismus vertrat. Auch Farbige und Juden konnten zunächst dort Mitglieder werden. Ihr Ziel, ein „großniederländisches" Reich, wurde bis 1936 von etwa acht Prozent Niederländern unterstützt. Innerhalb der Partei wuchs jedoch eine völkische Fraktion mit starker Sympathie für Hitler und den Antisemitismus. Mit Rücksicht auf sie verkündete Parteiführer Mussert 1937 die vollständige Übernahme der nationalsozialistischen Rasseideologie; ab 1938 schloss die NSB jüdische Mitglieder aus. Hohe Parteifunktionäre begrüßten den Anschluss Österreichs an das „Großdeutsche Reich" und pflegten enge Kontakte zu den Nationalsozialisten in Berlin.

Doch diese deutschfreundliche Haltung wurde nicht belohnt: Es folgten Wahlverluste und Parteiaustritte. Nach Kriegsbeginn versuchte Mussert die NSB daher zunächst auf „Neutralität" zu verpflichten. Dennoch inhaftierten die niederländischen Behörden 10.000 NSB-Mitglieder als mutmaßliche Kollaborateure beim Einmarsch der Deutschen am 10. Mai 1940. Nach der Flucht der Königin ins Exil erklärte Mussert seine Partei zur einzigen Vertretung der Niederländer gegenüber den Deutschen und erklärte Hitler, er wolle sein Land - um Belgien und Wallonien zu einem Großniederlande erweitert - in den „Bund germanischer Völker" eingliedern.

Trotz anderer Zielsetzung ließ Hitler ihn an der Macht. Am 12. Dezember 1941 schwor Mussert einen „Führereid" auf Hitler und durfte daraufhin das KZ Dachau besuchen. Ab 1942 ließ die formell regierende NSB-Führung die Deportation von 102.000 niederländischen Juden - neben 400.000 niederländischen Zwangsarbeitern für die deutsche Kriegswirtschaft - ohne Widerspruch zu. Bis zu 40.000 Niederländer dienten in niederländischen Untergruppen der Waffen-SS unter deutscher Führung und halfen mit beim Niederschlagen des Widerstands und beim Ausliefern von Juden. Dafür wurde Mussert am 12. Dezember 1945 als Landesverräter in Den Haag zum Tod verurteilt und am 7. Mai 1946 erschossen.

Skandinavien

In Dänemark kam es im Jahr 1819 zu 5 Monate anhaltenden antijüdischen Ausschreitungen, die sich in Zerstörung von Geschäften und Wohnhäusern sowie Angriffen auf Personen in Kopenhagen und anderen Städten äußerten.

1849 erhielten die Juden die bürgerliche Gleichberechtigung und wurden ohne Störungen integriert.

In Schweden wurden antijüdische Sondergesetze langsamer abgebaut: 1870 blieben den Juden aber nur noch der Reichsrat und Ministerämter verwehrt.

In Norwegen wurde Juden der Zuzug bis 1851 ganz verboten. Ein antisemitischer Rassenhass war jedoch in keinem der drei Staaten feststellbar.

In Finnland gestattete Schweden bis 1809, und später Russland keine jüdische Ansiedlung nicht. 1880 begann eine zehnjährige Debatte um die Emanzipation der Juden, bei der ein Teil der Presse sich für die Einführung von Reformen zugunsten der Juden einsetzte, während reaktionäre Stimmen und der Klerus dies ablehnten. Doch bis nach dem ersten Weltkrieg unterlagen die finnischen Juden etlichen Berufs und Aufenthaltsbeschränkungen. Während des zweiten Weltkriegs weigerte sich das Land, obwohl Verbündeter Deutschlands, seine jüdische Bevölkerung zu deportieren.

Obwohl in Island immer nur eine Handvoll Juden lebten, existierte ein erstaunlich hoher Antisemitismus. Das isländische Parlament lehnte 1853 eine Bitte des dänischen Königs nach freiem Ansiedlungsrecht und Religionsausübung zuerst ab. Während des zweiten Weltkriegs verweigert das Land nicht nur Juden Visa, sondern wies diese auch nach Deutschland aus. [58]

Erst unter dem Einfluss des Berliner Antisemitismusstreits kam es auch in Skandinavien unvermutet zu antijüdischen Reaktionen gegen die Judenemanzipation: So polemisierte der norwegische Theologe F.C. Heuch 1879 gegen den jüdischen Literaturhistoriker Georg Brandes, der in Anlehnung an Gotthold Ephraim Lessing einen humanistischen Fortschrittsglauben vertrat. Heuch sah das „glaubenslose Reformjudentum“ als gefährlichen Feind des Christentums, das auf dessen Ausrottung hinarbeite.

Ähnlich warnte auch der Kopenhagener Pastor Fredrik Nielsen 1880 vor dem „modernen Judentum“, das von Lessing, Moses Mendelssohn und Abraham Geiger inspiriertes Anti-Christentum sei. Beide hatten jedoch kaum eine nachhaltige Wirkung auf das Geistesleben ihrer Länder.

Habsburger Monarchie und Österreich

Mit den Toleranzpatenten Josephs II. begann die Emanzipation auch für die traditionell ghettoisierten, damals etwa 1,5 Millionen Juden der Habsburger Monarchie. 1781 war zunächst ein Toleranzpatent für die christlichen Minderheiten erlassen worden, vor allem für die Protestanten und Griechisch-Orthodoxen, die rund ein Drittel der Bevölkerung umfassten. Es folgte 1781 das Hofdekret für die Juden Böhmens, die bis zur ersten Teilung Polens, die die galizischen Juden unter österreichische Herrschaft brachte, die größte habsburgische Judenschaft dargestellt hatten und schon weitgehend akkulturiert war. Auch für den nach den Schlesischen Kriegen noch bei Österreich verbliebenen Rest Schlesiens wurde 1781 ein Toleranzpatent erlassen.

Beginn der Emanzipation und Frühindustrialisierung

Mit dem Toleranzpatent für die Juden Wiens und Niederösterreichs 1782 wurden sie zu allen Schulen und Hochschulen zugelassen und erhielten weitgehende Gewerbefreiheit. Ausdrückliches politisches Ziel war, dass die Juden Zugang zu handwerklichen und landwirtschaftlichen Berufen erhalten sollten, uns sich so für den Staat ihre Nützlichkeit erhöhen sollte. Einwanderung blieb ihnen aber ebenso verboten wie der Erwerb von Haus- und Grundbesitz und die Einfuhr jüdischer Schriften. Seit 1787 mussten sie deutsche, oft zudem diskriminierende Namen annehmen: z.B. Burda – „Fraß“ – oder Blumentritt – „der, der unschuldige, minderjährige Mädchen verführt“.[59] 1788 wurde die Militärpflicht auf sie ausgedehnt.

Zahlreiche Sondergesetze schränkten diese Gleichstellungsansätze wieder ein. Jüdische Ausländer mussten z.B. täglich 30 Kreuzer zahlen und ihre Aufenthaltsberechtigung alle 14 Tage erneuern. Jüdische Hebammen durften nur im Notfall Christinnen entbinden. Die Hofkanzlei ignorierte 1815 eine Bittschrift der Wiener Juden, die Toleranz gesetzlich zu verankern.

Für monarchistische Beamte wie Friedrich von Gentz, den Berater Fürst Metternichs, waren Juden „geborene Repräsentanten des Atheismus, Jakobinismus, der Aufklärerei“. Das hinderte ihn nicht, beim Wiener Kongress im Salon von Fanny von Arnstein, (geb. Itzig), zu verkehren. Die Salongesellschaft ermöglichte in Wien wie auch in Berlin im ausgehenden 18ten Jahrhundert regelmäßige und intensive häusliche Kontakte zwischen Menschen unterschiedlicher Stände und unterschiedlicher religiöser Bekenntnisse. Vor allem bot sie Frauen die Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Frau von Arnstein, die es zeitlebens ablehnte, sich taufen zu lassen, versammelte regelmäßig am Dienstagabend eine illustre Gesellschaft von Diplomaten und Aristokraten, darunter Wilhelm von Humboldt, den päpstlichen Nuntius in Wien, Kardinal Severoli, den Duke of Wellington oder Fürst Karl August von Hardenberg. Sie versuchte, auf die während des Kongresses behandelten Probleme ihrer Glaubensgenossen Einfluss zu nehmen.

Die politischen Versuche, die Juden stärker für die wirtschaftliche Entwicklung nutzbar zu machen, hatten jedoch zunächst nur wenig Erfolg. Die weiterhin in christlichen Gilden und Zünften organisierten Berufe wehrten die aufkommende jüdische Konkurrenz nach Kräften ab. Juden blieben weiterhin weitgehend auf den Handel angewiesen und gelangten nur langsam in andere Wirtschaftszweige. In den Städten gelang es den Juden besser als auf dem Land, Zugang zu handwerklichen Berufen zu finden. Der Fernhandel der Juden, die relativ krisensichere Belieferung der Armee mit Uniformen, auch die Pachtung der Tabakregie erwiesen sich als Ausgangspunkte für den Aufbau jüdischer Manufakturen. Mit der Hilfe von Handelskapital konnten Juden eigene Fabriken aufbauen. Nachdem die Einfuhr von Rohbaumwolle freigegeben worden war, gelang es den Juden in Böhmen zum Leidwesen der Leinen- und Wollgewerke, die seit Jahrhunderten die Stoffbranche dominiert hatten, die schnell anwachsende Baumwollindustrie zu ihrer Domäne zu machen. Die Schneiderzünfte in Mähren konnten trotz heftiger Proteste nicht verhindern, dass kapitalkräftige jüdische Großhändler aus dem traditionell von Juden betriebenen Ausbessern und Umarbeiten von Kleidern und Uniformen eine regelrechte Konfektionsindustrie entwickelten, die nun ihrerseits einer Vielzahl von jüdischen Subunternehmern, die den Vertrieb in Städten und Dörfern übernahmen, Brot gab. Auch jüdischen Bankhäusern gelang die Expansion in Wirtschaftsbereiche, die in dieser frühindustriellen Zeit expandierten. Die von Salomon Rothschild in Wien finanzierte Eisenbahn von Wien nach Galizien war 400 Kilometer lang und beschäftigte mit ihrem Bau 14.000 Arbeiter.[60].

Da sich die Angleichung der jüdischen Rechte an die der anderen Bürger schneller in der Stadt auswirkten, kam es zu einem Zuzug in die Städte. Prag wies schon um 1800 mit 8.500 Juden, was einem Bevölkerungsanteil von 10,6% entsprach, den höchsten Anteil an jüdischer Bevölkerung unter allen Großstädten im deutschsprachigen Raum auf. 1848 waren es 11.700. Das waren etwa 40% der Juden Böhmens, die übrigen hatten sich verstreut in ländlichen Gemeinden niedergelassen. In Mähren dagegen durften Juden sich bis 1848 nicht in Dörfern ansiedeln. Sie lebten hier vorwiegend in Städten und Brünn entwickelte sich für sie zum Anziehungspunkt. Um 1800 gab es unter den Juden in Böhmen und Mähren zwar auch eine große Zahl von Armen, ihre wirtschaftliche Lage war jedoch besser als in vielen anderen Regionen. Das war Grund genug, um mit den jeweiligen Obrigkeiten zusammen zu versuchen, das "Einschleichen" von Juden aus dem unvorstellbar armen Galizien, die häufig Bettler, Diebe und Gauner waren, zu verhindern. Wien dagegen zählte um 1800 erst 500-600 Juden bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 200.000. Nur einzelne privilegierte Familien wurden hier geduldet. 1848 war in Wien die jüdische Bevölkerung auf 4.000 angestiegen, was einem Anteil von 0,8% entsprach, und die erste jüdische Gemeinde in Wien konstituierte sich. [61].

Die Restauration nach 1815

Vor den Freiheitskriegen gegen Napoleon traten katholische Romantiker wie Schlegel, Franz von Baader und Klemens Maria Hofbauer für die passiven Bürgerrechte der Juden ein, setzten aber auch antijudaistische Vorurteile fort. Die 1815 begründete Heilige Allianz der Herrscher Preußens, Rußlands und Österreichs betrachtete die christliche Religion als erklärte Grundlage ihrer Politik, vertrat das Gottesgnadentum der Fürsten und stand am Anfang einer restaurativen Phase. Es entstand eine Fortschrittsfeindlichkeit und hinsichtlich der Juden eine Unwilligkeit, ihre Emanzipation fortzusetzen. Der Gesellschaftstheoretiker Adam Heinrich Müller, ein führender Vertreter der deutschen Romantik und Mitglied der Christlich-deutschen Tischgesellschaft, verlangte 1823 in einem Gutachten das Heiratsverbot zwischen Juden und Christen und die Rücknahme erreichter Gleichstellung. Er vertrat eine der vorindustriellen Welt zugewandte Grundhaltung und wandte sich gegen die Modernisierungen, die von der Wirtschaftstätigkeit der Juden herrührten, und setzte Judentum und Kapitalismus gleich.

Währenddessen begann bei den städtischen jüdischen Gemeinden die Assimilation in Form einer Reformbewegung. Ausgehend von Wien glich sich der vorher traditionell aschkenasische Gottesdienst, der in weiten Teilen auch eine Gemeindeversammlung mit profanen Elementen wie der turbulenten Versteigerung der Sitzplätze in der Synagoge war, dem christlichen Gottesdienst an. Laienprediger verdrängten mit deutscher Sprache die jiddische Sprache und stellten damit auch den Primat der Rabbiner in Frage. Es entstand der "Wiener Ritus", den neben einer deutschen Predigt strenge Anstandsregeln und ein hohes musikalisches Niveau des Kantors kennzeichnete. Von Wien aus verbreitete sich der Wiener Ritus nach Böhmen und Galizien.

Zwischen der Revolution von 1848 und rechtlicher Gleichstellung

Manche Juden entschlossen sich, zum Christentum zu konvertieren. Erst mit zunehmender Akzeptanz der Juden um die Jahrhundertmitte ging die Häufigkeit der Konversionen zurück. Einer der prominentesten Konvertiten war Johann Emanuel Veith, der 1831 am Wiener Stephansdom Hofprediger wurde. Er blieb seiner jüdischen Gemeinde verbunden. Als die Blutbeschuldigungen gegen die Juden von Damaskus aufkamen, schwor er von der Kanzel herab auf den Gekreuzigten, dass diese Anschuldigungen offensichtlich falsch seien. Mit judenchristlichen Freunden rief Veith im Mai 1848 den Wiener Katholikenverein ins Leben, der nicht nur Freiheit für die Kirche gegenüber dem Staat, sondern auch größere Freiheit in der Kirche anstrebte. Auch Paulus Stephanus Cassel wurde evangelischer Prediger und schrieb wichtige Werke zur jüdischen Geschichte. Er nahm die Juden vor den Anschuldigungen Heinrich Treitschkes und Adolf Stöckers in Schutz.

In der Märzrevolution 1848 engagierten sich Akademiker, darunter viele gebildete Juden, meist für den Liberalismus. Viele Juden kämpften mit den Christen auf den Barrikaden. Im Revolutionjahr war es noch möglich, dass der jüdische Prediger Isaak Mannheimer und der Kantor Salomon Sulzer zusammen mit katholischen und protestantischen Geistlichen an einem Gemeinschaftsgrab auf dem Schmelzer Friedhof standen, um die Gefallenen der Märztage zu ehren. Es war aber nur eine kurze Zeit, bald nahmen die Spannungen zu. In Wiens Armenvierteln wurde der Ruf laut: Schlagt die Juden tot!, begleitet von einzelnen Gewalttaten. Trotzdem brachte die Pillersdorfsche Verfassung den Juden endlich die ersehnten vollen Bürgerrechte und Religionsfreiheit in Österreich. Dies nahm die Restauration zum Teil wieder zurück: 1851 mussten jüdische Beamte ihre Staatstreue beeiden, 1853 wurde Juden Grunderwerb erneut verboten, 1855 auch das Notariat und Lehrerberufe.

Eigene Zeitungen blieben ihnen erlaubt, so dass sie im Verlagswesen häufiger führende Positionen errangen. Daraufhin entstand eine antisemitische katholische Gegenpresse, die nun dauerhaft gegen das „demokratische Judengesindel“ hetzte und es mit Liberalismus, Kapitalismus und Kommunismus gleichsetzte. Führend darin war der Artillerieoffizier Quirin Endlich, der „Judenfresser von Wien“. Auch Eduard von Tellering, Journalist für die „Neue Rheinische Zeitung“ von Karl Marx, griff Juden in seiner Schrift Freiheit und Juden als „Wucherer“ (Vertreter des Kapitals) und „Freigeister“ (Vertreter der Demokratie) an, griff aber auch auf die alte Ritualmordlegende zurück.

Flugblätter behaupteten schon 1848, Juden hätten aus Christensärgen Barrikaden gebaut und auf offener Straße Christenkinder geschlachtet, die Guillotine verlangt und Kreuze verhöhnt. Weiter hieß es:

Wenn das Christusvolk kein Christentum und kein Geld mehr hat…, dann ihr Juden, lasst Euch eiserne Schädel machen, mit den beinernen werdet ihr die Geschichte nicht überleben.

Der Herausgeber der 1848 gegründeten „Wiener Kirchenzeitung“, Kaplan Sebastian Brunner, dichtete gegen aufgeklärte Philosophen in seinem bekannten Nebeljungenlied:

Wir haben keinen Judengott mehr,
Und hassen den Gott der Christen,
Wir sind die keckste Rotte der Welt,
Wir jüdischen Pantheisten.

Er versuchte, den „historischen Nachweis der Ritualmordlegende“ zu führen, erneuerte auch das Klischee vom Gottesmord, aufgrund dessen das Judentum verflucht sei, und folgerte:

Solange die Juden Juden bleiben, nicht bloß der Abstammung, sondern auch dem Glauben nach, ist ihre Emanzipation überhaupt unmöglich….Diese werde die Gesellschaft entchristlichen, so dass dann das Judentum herrsche. Dies werde Volkes Stimme nicht hinnehmen.

Der folgende öffentliche Disput mit Ignaz Kurandas Ostdeutscher Post erregte internationales Aufsehen. Brunner unterlag vor Gericht in mehreren Zensur- und Beleidigungsklagen, was seinen Judenhass noch verschärfte. 1886 verfasste er ein Wanzen-Epos, in dem er Juden als „Ungeziefer“ und „Parasiten“, Antisemitismus als „Wanzenpulver“ bezeichnete. Er hetzte auch gegen Heinrich Heine und Ludwig Börne.

Österreich-Ungarische Monarchie

1867 wurde im Österreichisch-Ungarischen Ausgleich die Emanzipation der Juden im Habsburgerreich vollendet. Durch die Dezemberverfassung wurde den Juden erstmals in ihrer Geschichte in ganz Österreich der ungehinderte Aufenthalt und die Religionsausübung gestattet. 40.000 Juden bildeten bereits 6,6% der Einwohnerzahl Wiens und hatten damit die alten jüdischen Bevölkerungszentren der Habsburger wie Prag, Krakau und Lemberg überflügelt. 1858 wurde eine Synagoge in Wien gebaut, die zu den imposantesten in Europa gehörte. Die meisten Einwanderer Wiens waren aus der ungarischen Reichshälfte gekommen, gefolgt von Böhmen und Mähren. Auch galizische Juden waren gekommen, getrieben von Überbevölkerung, Hungersnöten und Choleraepedemien. Als die polnische Nationalisierungskampagne sie in den 70er Jahren zunehmend aus dem Wirtschaftsleben verdrängte, flohen sie in Massen. Die Urbanisierung konzentrierte die vordem kleinstädtische und dörfliche Judenheit in den Großstädten.

 
Schießstand mit Schützenscheibe aus Böhmen/Mähren um 1860/70. Sobald der Schütze ins Schwarze getroffen hat, schnappt der Hund unter beträchtlichem Lärm nach dem Juden, der sich mit seinem Schirm zu verteidigen sucht, während ein Knabe von hinten an seinem Rockschoß zerrt und ihn mit Fußtritten traktiert.

Ab 1875 entstand auch in Österreich wie im deutschen Kaiserreich eine „christlich-soziale“ bzw. „völkische“ Bewegung: Hauptvertreter war der Konvertit Karl von Vogelsang, Redakteur der Wiener konservativen Zeitung Vaterland. Er sah das Land „mit Juden überschwemmt“,

…weil der liberale Umschwung, mit dem man uns beglückt, durch und durch von jüdischem Geiste durchdrungen ist…uns selbst hat der Judengeist angesteckt, in unseren Institutionen ist er incarniert, unsere ganze Lebensanschauung, unser Handel und Wandel ist davon durchzogen…
Mit Sondergesetzen gegen Juden sei nichts gewonnen. Die Gesellschaft müsse sich wieder dem Christentum und der Ständegesellschaft zuwenden, dann werde sie die Juden „absorbieren“ und so die „Judenüberfluthung“ beenden.

Er distanzierte sich 1881 von plumper „Judenhetze“, wie sie damals im Berliner Antisemitismusstreit hervortrat. Aber auch er griff die „goldene Internationale“ des „Finanzjudentums“ an und polemisierte gegen die angebliche Weltherrschaft des Hauses Rothschild, gegen arme „Hausierjuden“ und russische „schachernde und wuchernde Talmudjuden“. Wie Vogelsang sahen Prinz Aloys von Liechtenstein und der Moraltheologe Franz Martin Schindler Antisemitismus als natürliche Reaktion auf den Kapitalismus dort, wo Juden angeblich sozial privilegiert seien.

Offen rassistisch hetzte seit 1877 das Monatsblatt Österreichischer Volksfreund unter Carl von Zerboni: Talmudjuden wollten die regierende Race des Erdballs werden (Nr.1), Gegenwehr gegen die Verjudung sei nötig (Nr.5). Ab Nr. 9 stand über jeder Ausgabe in Großbuchstaben: Kauft nur bei Christen! Ab 1882 wurde das Blatt Presseorgan der aus verschiedenen antisemitischen Handwerkervereinen hervorgehenden „Österreichischen Reformpartei“ unter dem Rechtsanwalt Robert Pattai. Er sah „Manchesterliberalismus“ und Judenemanzipation als identische Vorgänge und strebte dagegen einen „gesunden Staatssozialismus“ an:

Sollte es aber nicht gelingen, der Judenfrage durch diese notwendigen Reformen die Wurzel abzuschneiden und das natürliche Gleichgewicht wiederherzustellen, dann müssten eben die vielbegehrten Ausnahmegesetze gegen das Judentum notwendig werden.

Dies unterstützte Ludwig Psenner, seit 1884 neuer Herausgeber des „Volksfreunds“, den er bis 1897 führte. Er suchte wie Vogelsang in der Rückbesinnung auf „christliche Werte“ das Heilmittel gegen die „Verjudung“ der Kultur und Gesellschaft. Doch 1886 zerbrach die Reformpartei daran, dass ein radikaler Flügel unter Georg Ritter von Schönerer den großdeutschen „Pangermanismus“ zum Programm erheben wollte.

Daraufhin gründeten Psenner, Ernst Schneider und Adam Latschka einen Verein, aus dem 1887 die „Christlich-Soziale Partei“ (CSP) hervorging. Bei der Gründungsversammlung übertrafen sich die Redner, u.a. der Ungar Franz Komlossy und der Wiener Reichtagsabgeordnete Karl Lueger, gegenseitig in antisemitischen Hetzreden, die etwa 1.000 Anwesende mit stürmischem Beifall bedachten.

Für Regionalwahlen bildete die CSP sofort eine antiliberale Koalition mit deutschnationalen und antisemitischen Gruppen, die „Vereinigten Christen“. Der Antisemitismus war das Bindeglied, auf das alle Beteiligten sich einigen konnten. Das Programm forderte einen Einwanderungsstop für Juden, ihren Ausschluss aus Staatsdienst, Justiz- und Arztberufen, Einzelhandel und gemeinsamem Schulunterricht mit Nichtjuden. Im Deutschen Volksblatt wurde das Ziel umrissen:

Radical antisemitisch, streng national und entschieden christlich-social rühren wir alle Tage die Werbetrommel für die große Armee der Judenfeinde…, um deren Vereinigung in einer einzigen großen Volkspartei zu erreichen.

1888 bei einer Kundgebung für Papst Leo XIII. errang Karl Lueger die Führungsrolle. Er forderte 1890 im Reichstag, die „Hauptursachen des christlichen Antisemitismus“ zu beseitigen:

  • die „judenliberale Presse“,
  • das „erdrückende Großkapital“, das in jüdischer Hand sei,
  • die „Unterdrückung der Christen durch die Juden“;
  • das „Martyrium der Deutschen“ unter den jüdischen „Raubtieren in Menschengestalt“.

So fand auch sein Parteifreund Ernst Schneider 1893, Österreich leide an einem contagiösen Geschwür, an dem die Völker und der österreichische Staat leider zugrunde gehen werden, wenn dieses Geschwür nicht beseitigt wird…: Es sind die Juden. Er forderte später in Niederösterreich als Ergänzung für ein Gesetz über die Tötung von Raubvögeln analoge Prämien für die Erschießung von Juden.

Die Einigung der Antisemiten misslang erneut: Die konservativen Katholiken wollten eher die Habsburger Monarchie retten, während die deutschnationalen „Demokraten“ ein antiklerikales großdeutsches Reich anstrebten. Dabei behauptete sich der „gemäßigte“ christlich-soziale Flügel: Schindler verfasste 1895 das Parteiprogramm der CSP, das die Ausbeutung angriff, „sie komme woher sie immer wolle“. Rassistischer Judenhass wurde abgelehnt; man wolle nicht das Judentum als Religion, aber den „Talmudismus“ und die mit dem Liberalismus gleichgesetzten „Reformjuden“ bekämpfen.

Der Papst segnete dies mit der Auflage ab, antisemitische Ausfälle zu unterlassen. Daraufhin musste Kaiser Franz Joseph Karl Lueger 1897 schließlich als Bürgermeister von Wien bestätigen. Mit Lueger war keine eindeutige Abgrenzung der CSP vom Rassen-Antisemitismus möglich.

Dies galt aber auch für Theologen wie August Rohling, dessen in 17 Auflagen verbreitetes Pamphlet Der Talmudjude (1871) den Antisemiten jahrzehntelang religiöse Argumente lieferte. Er wollte mit teilweise gefälschten Auszügen beweisen, dass der Talmud erlaube,

…alle Nichtjuden auf jede Weise auszubeuten, sie physisch und moralisch zu vernichten, Leben, Ehre und Eigenthum derselben zu verderben, offen und mit Gewalt, heimlich und meuchlings; – das darf, ja soll, wenn er kann, der Jude von Religions wegen befolgen, damit er sein Volk zur irdischen Weltherrschaft bringe.

Darauf beriefen sich Antisemiten in politischen Versammlungen, u.a. der Wiener Handwerker Franz Holubek 1882:

Wisst Ihr, was in diesem Buch steht? Die Wahrheit! Und wisst Ihr, wie Ihr in diesem Buch bezeichnet seid? Als eine Horde von Schweinen, Hunden und Eseln!

Dies löste Tumulte aus. Holubek wurde wegen Störung der öffentlichen Ordnung angeklagt, doch freigesprochen, nachdem sein Verteidiger Robert Pattai vor Gericht aus Rohlings Buch zitierte. Als Rohling als Prozessgutachter zudem den Ritualmord als für Juden „außerordentlich heilige Handlung“ darstellte, warf ihm der junge Rabbiner und Reichsratsabgeordnete Joseph Samuel Bloch öffentlich Bereitschaft zum Meineid vor. Rohling zeigte ihn an; um das Verfahren zu ermöglichen, hob der Reichsrat Blochs Immunität auf. Sein Verteidiger, Dr. Josef Kopp, erreichte in zähen Verhandlungen die Zulassung von zwei ausländischen Gutachten zum Talmud. Darauf zog Rohling seine Klage vor Beginn der Hauptverhandlung zurück. Er musste die Prozesskosten tragen und verlor seine Professur für Bibelstudium.

Gleichwohl blieben seine Thesen und die Ritualmordlegende unter Österreichs Katholiken lebendig. Der Pfarrer Joseph Deckert verglich 1893 in einem Predigtzyklus Türkennot und Judenherrschaft und verteilte gratis Broschüren, die den Ritualmord an Simon von Trient anhand von „Akten“ des Jahres 1475 zu beweisen angaben. Er beauftragte den Konvertiten Paulus Mayer für ein Monatsgehalt von 100 Gulden, ihm eine Schrift zu liefern, die den Ritualmord nach kabbalistischen und talmudischen Lehren „belegen“ sollte. Nach einer Vorabveröffentlichung zeigte Bloch Deckert, Mayer und den Herausgeber des Vaterlands an: Im Prozess wurden alle drei zu Haft bzw. Geldbußen verurteilt.

Dies hinderte Deckert nicht, seine Hetze mit antisemitischen Konferenzreden und Schmähschriften (1894–98) fortzusetzen. Darin hieß es z.B.:

Darum, die Augen auf, mein christliches Volk, erkenne den ältesten und gefährlichsten Feind Deiner Religion; …wehre Dich Deines Glaubens; Du wirst dadurch auch Deine irdische Wohlfahrt sichern. Amen.

Deckert wurde 1896 vom Wiener Ordinariat verwarnt und erklärte daraufhin, Bloch habe ihn „in den Antisemitismus hineingehetzt“. Doch er hatte sich schon 1895 mit Karl Lueger solidarisiert:

Nicht gegen die Religion der Juden ist der Antisemitismus gerichtet, obwohl der Talmud die Grundlage und das Grundübel des Judenthums bildet…sondern gegen die Rasse, insofern sie sich allen Nichtjuden, besonders aber den christlichen Ariern feindlich erwiesen hat und noch erweist. Darum hat der Rassenantisemitismus Berechtigung…

Als Bürgermeister Wiens war Lueger allzu radikale Hetze unangenehm. Antisemitismus sei ein sehr gutes Agitationsmittel, um in der Politik hinaufzukommen, wenn man aber einmal oben ist, kann man ihn nicht mehr brauchen, denn das ist ein Pöbelsport! Diesen trieb er vor 1914 vor allem gegen die „rote Judenschutztruppe“ der aufstrebenden Sozialdemokratie weiter.

Nach 1918 verschärfte die Christlich-Soziale Partei ihren Kurs gegen die Republik und den Zuzug von polnischen Juden aus Galizien. Einzelfälle von Schiebern und Spekulanten führten im Oktober 1919 zu einer „Massenkundgebung christlicher Wiener“, bei denen Landtagsabgeordnete die Ausweisung aller Juden aus Österreich verlangten. Das neue Parteiprogramm forderte 1926 die Pflege deutscher Art und die Bekämpfung der Übermacht des zersetzenden jüdischen Einflusses auf geistigem und wirtschaftlichem Gebiet. Parteichef Ignaz Seipel erklärte, dies sei kein Kurswechsel, sondern immer Tradition der Partei gewesen.

Der Publizist Joseph Eberle gab seit 1918 für die katholische Intelligenz die Zeitschrift Das Neue Reich heraus, die in der „Judenfrage“ bewusst auf mittelalterliche Lösungen setzte. Ihm „roch“ die parlamentarische Demokratie „zu sehr nach polnischen Ghettos“. Er schlug z.B. eine von Richard Kralik verfasste „Volkshymne“ mit dem Text vor:

Gott erhalte, Gott beschütze vor den Juden unser Land! Mächtig durch des Glaubens Stütze, Christen, haltet festen Stand! Lasst uns unser Väter Erbe schirmen vor dem ärgsten Feind, dass nicht unser Volk verderbe, bleibt in Treue fest vereint!

Weitere radikale Antisemiten und Gegner der „Judenrepublik“ waren vor 1933 der Ethnologe Wilhelm Schmidt und der Sozialreformer Anton Orel. Der österreichische Klerikalfaschismus zog die Linien vom Mittelalter zur Gegenwartspolitik: Die katholische Presse in Salzburg hob 1920 z.B. das Verdienst der Kirche hervor, jahrhundertelang die jüdische Gefahr durch Sondergesetze abgewehrt zu haben. Bischof Dr. Sigismund Waitz warnte 1925 im Neuen Reich vor der „Weltgefahr“ des habgierigen, wucherischen, ungläubigen Judentums, dessen Macht „unheimlich“ gestiegen sei.

Ihm widersprach der Benediktiner Alois Mager, der erstmals den Antisemitismus überhaupt als halt- und rechtlos, ja unchristlich erklärte. In der Folgezeit rückte das Blatt von politischer Judenausgrenzung ab und warnte vor dem Ansteigen des Nationalsozialismus. Doch es bekämpfte den katholischen Antisemitismus weiterhin kaum: 1933 erschien in Graz ein weiteres Hetzpamphlet über die Protokolle der Weisen von Zion: Pfarrer Arbogast Reiterers Das Judentum und die Schatten des Antichrist.

Nach Hitlers Ernennung zum deutschen Reichskanzler verharmloste Österreichs Presse die Judenverfolgung in Deutschland: Nach dem Judenboykott des 1. April 1933 zitierte man Hermann Görings Erklärung, die NS-Regierung werde niemals dulden, dass ein Mensch nur deshalb irgendwelchen Verfolgungen werden sollte, weil er Jude sei. Der Philosophieprofessor Hans Eibl betonte die geschichtliche Schuld der Juden am Bolschewismus. Die Ausgrenzung von Juden wie Max Reinhardt aus dem Kulturleben Berlins wurde ebenso begrüßt wie die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933. Der Ethnologe Oswald Menghin bejahte in seinem Buch Geist und Blut den Zionismus aus „rassischen“ Gründen, da die Integration der Juden den „deutschen Volkscharakter“ verändern würde.

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Demonstration von NS-Anhängern (Wien, 1930er Jahre)
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Mitglieder der SA hindern jüdische Studenten am Betreten der Universität Wien (ca. 1938)

Wer den Maßnahmen der Nazis öffentlich widersprach, betonte meist im selben Atemzug, |Assimilation]] und Bekehrung der Juden seien unbedingt nötig, um die von ihnen ausgehende „Gefahr“ zu vermeiden. Zugleich wurde oft die Rückkehr zum christlichen Ständestaat propagiert, in dem die Juden ghettoisiert waren. Selbst die Reichskristallnacht deuteten führende Katholiken Österreichs wie Eberle als Reaktion auf jüdische Schuld früherer Jahrhunderte. Nur wenige wie der Philosoph Dietrich von Hildebrandt bezogen deutlich und leidenschaftlich gegen die Nürnberger Gesetze Stellung.

Schweiz

Juden wurden in der Schweiz lange Zeit sehr stark diskriminiert. Seit ihrer Vertreibung im 15. Jahrhundert lebten nur noch wenige Juden dort; um 1800 waren es 553 Juden in zwei Schweizer Dörfern. Sie wurden rechtlich stark benachteiligt, mussten erhöhte Zölle und einen Leibzoll entrichten, durften kein Handwerk ausüben und keinen Boden besitzen. Zahlreiche Sondergesetze bezeichneten Juden als „gottlosen Schwarm" oder „Pestilenz".

Der Einmarsch der Franzosen 1798 brachte den Schweizer Juden mit der Idee der Menschenrechte erste Chancen zur Emanzipation. Nun strich man nach und nach die ihnen aufgebürdeten Sonderabgaben. In Genf setzte sich die Gleichstellung aller Bürger vor dem Gesetz - auch wegen der Tradition des Calvinismus - zuerst durch. Doch die Bundesverfassung von 1848 verwehrte ihnen weiterhin die Niederlassungs- und Kultusfreiheit sowie die Gleichheit in Gerichtsverfahren gegenüber Christen. Bis etwa 1850 weigerten sich die meisten Kantone, Juden die Ansiedlung zu gestatten. Erst 1866 brachte eine Volksabstimmung ihnen die vollen bürgerlichen Rechte und erlaubte ihnen auch die freie Religionsausübung.

Erst auf internationalen Druck Frankreichs, der Niederlande und der USA hin, die ihre Handelsverträge mit der Schweiz von der Niederlassungsfreiheit auch für Juden abhängig machten, hob die revidierte Bundesverfassung 1874 die letzten Einschränkungen der Bürgerrechte für Juden auf. Doch die Bevölkerung blieb antijüdisch eingestellt: Das zeigte 1892 eine Volksinitiative für ein Verbot des Schächtens, also den in der Tora vorgeschriebenen Brauch, für koscheres Fleisch ein Tier durch Halsader- und Luftröhrenschnitt ausbluten zu lassen. Daraufhin verbot die Bundesverfassung von 1893 Juden das Schächten generell, behinderte also massiv ihre Religionsausübung. In der Debatte darum kam es zu einer verstärkten Publikation von antisemitischen Schriften. Diese Haltung war aber nicht einheitlich: In der französischen Schweiz war die Bevölkerung mehrheitlich tolerant gegenüber Juden.

Der rechtlichen Gleichstellung auf staatlicher Ebene standen in vielen traditionell von Juden bewohnten Dorfgemeinden weiterbestehende rechtliche Einschränkungen auf lokaler Ebene gegenüber, beispielsweise Einschränkungen des Wahlrechtes in Endingen und Lengnau. Das führte auch in der Schweiz zu einer Wanderungsbewegung der Juden in die Städte. In den folgenden Jahrzehnten entstanden städtische jüdische Gemeinden, so in Zürich, Basel, St.Gallen und Luzern. In den Städten war das Klima wesentlich liberaler. In Bern war bereits 1859 Moritz Lazarus als Honorarprofessor an die Universität berufen worden, wo er mit drei weiteren jüdischen Dozenten das Lehramt ausübte und 1864 Rektor und Dekan wurde.[62]

Im 1. Weltkrieg wurde „den Juden" in der Schweiz die starke Lebensmittelteuerung angelastet, u.a. weil z.B. in Basel relativ viele Kaufhäuser jüdische Inhaber hatten. Seit 1918 übte die Schweiz eine restriktive Einwanderungspolitik und ließ nur sehr wenige jüdische Flüchtlinge einreisen; besonders Juden aus Osteuropa wurden abgewiesen. 1920 erließ Zürich besondere Vorschriften zur Einbürgerung, die „Ostjuden" diskriminierten; sie blieben bis 1936 in Kraft.

Seit 1930 bildeten sich auch in der Schweiz ein antisemitisches Parteienbündnis, die Frontenbewegung. Sie übte Hetzpropaganda nach nationalsozialistischem Vorbild, pflegte das „Führerprinzip" und mystifizierte „alteidgenössische Tugenden" gegen liberale und sozialistische Ideen. Doch hatten sie damit nur 1934-1936 bei lokalen Wahlen Erfolge.

Zwar gelang dem Schweizer Israelischen Gemeindebund 1937 nach einem vierjährigen Prozess, die Protokolle der Weisen von Zion als Fälschung zu erklären. Doch verboten wurden sie nicht; die Bundesbehörden ergriffen keine weitergehenden staatlichen Schutzmaßnahmen gegen rassistische und antisemitische Propaganda. Bündnispartner für solche Forderungen fanden die Schweizer Juden nur in einigen Kantonen, bei linksgerichteten Parteien und einzelnen prominenten Humanisten, z.B. dem religiös-sozialistischen Theologen Leonhard Ragaz.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 war die Schweiz für deutsche und österreichische Juden ein wichtiges Fluchtziel geworden. Die Schweizer Regierung gestattete ihnen jedoch meist nur einen Zwischenhalt. Ausländische Juden wurden kaum noch eingebürgert, stattdessen nahm die Abwanderung von Schweizer Juden nach Übersee drastisch zu. Nach dem Anschluss Österreichs im März 1938 vereinbarte die Schweiz mit Deutschland ein Abkommen zur Kontrolle deutscher Juden: Sie veranlasste eine Verordnung, wonach ab 1939 die Pässe deutscher Juden mit einem roten J abgestempelt werden mussten. Dies verhinderte deren illegale Flucht und bedeutete ab 1941 für viele deutsche Juden den Tod, da sie der Deportation in die Vernichtungslager nun nicht mehr entgehen konnten. Mindestens 30.000 deutschösterreichische Juden wurden zudem 1941-1945 an der Schweizer Grenze abgewiesen.[63]

Nach jüngeren Nachforschungen des Simon-Wiesenthal-Zentrums reagierte diese judenfeindliche Flüchtlingspolitik keineswegs nur auf Druck der Nationalsozialisten. Vielmehr gab es seit 1940 in der Schweiz mindestens 36 extrem rechtsgerichtete, patriotische und faschistische Gruppen, deren antisemitisches Gedankengut die gesamte Schweizer Öffentlichkeit mitbestimmte und auch von Offizieren und Professoren mitgetragen wurde. In den Nationalen Archiven der USA aufgefundene Dokumente decken mehrere Geheimabsprachen zwischen dem Schweizer Justizminister Eduard von Steiger und der Vereinigung des Schweizer Vaterlandes über das Abweisen von fluchtwilligen deutschösterreichischen Juden an den Grenzen und Asylverweigerung für bereits eingereiste Flüchtlinge auf. Auch die Schweizer Polizei wies die Grenzbeamten dazu an.

Dieser geheime Numerus clausus machte Einbürgerungen von Juden faktisch unmöglich. Jüdische Kinder durften seit 1939 nicht wie andere Kinder zu einem Erholungsaufenthalt in die Schweiz kommen; auch Schweizerinnen jüdischen Glaubens, die mit einem Ausländer verheiratet waren, durften nicht wieder einreisen oder eingebürgert werden. 1941 zögerte der Bundesrat zudem, jüdischen Schweizern in Frankreich und Italien vollen diplomatischen Schutz zu gewähren. Für diese Politik hat sich der Bundesrat 1995 bei den Überlebenden entschuldigt.[64]

Der Bericht des Wiesenthal-Zemtrums stieß jedoch bei der heutigen Schweizer Regierung auf Ablehnung: Thomas Borer, Regierungssprecher für Schweizer Vergangenheitsbewältigung, meinte, die weitaus meisten Schweizer seien während des Zweiten Weltkriegs „eindeutige Demokraten und Antifaschisten", die Schweiz „die einzige Oase der Demokratie, der Redefreiheit und der Toleranz auf dem Kontinent" gewesen. Sie habe trotz ihrer außenpolitischen Isolation die meisten Flüchtlinge, darunter viele Juden, aufgenommen.[65]

Dagegen sieht Historiker Gerhard M. Riegner die Abweisung jüdischer Flüchtlinge seit 1938 nicht als Ausnahme einer ansonsten vorbildlichen Demokratie, sondern als Ergebnis einer Schweizer Tradition der antijüdisch motivierten Fremdenabwehr und des gelebten Antisemitismus. Er verweist dazu auf die späte Durchsetzung der jüdischen Emanzipation, das Schächtverbot 1893, die restriktive Einbürgerungspraxis gegenüber Ostjuden und die Transitland-Doktrin in der eidgenössischen Migrationspolitik nach dem Ersten Weltkrieg.[66]

Polen

In den Jahren um 1848 hatten sich die Juden Kongresspolens erneut als glühende Patrioten gezeigt und für Polens Befreiung gekämpft, von der sie sich auch ihre Gleichstellung erhofften. 1862 kam es in Warschau nach gemeinsamen Aufständen gegen die russische Herrschaft zu Verbrüderungen von Christen und Juden, die ihre Gefallenen gemeinsam bestatteten. Der Marquis Aleksander Wielopolski verbesserte daraufhin ihre Rechtslage: Sie durften Immobilien erwerben, wurden als Zeugen vor Gericht zugelassen und mussten keine Sondersteuern mehr zahlen.

Doch nach dem Scheitern des polnischen Aufstands 1864 war den Juden Polens die Perspektive der Emanzipation verstellt, während das Wohlstandsgefälle weiter bestand. Nun gewann allmählich eine Ablehnung der Juden an Boden, da diese die Assimilation offenbar verweigerten und sich aufgrund ihrer religiösen Gebräuche beharrlich absonderten.

Auf die russischen Pogrome von 1881 reagierte das polnische Bürgertum überwiegend empört und schloss ähnliche Gewaltakte für Polen aus. Doch schon am 25. Dezember jenes Jahres kam es in Warschau zu einer tagelangen Plünderung des Judenviertels, nachdem bei einer Massenpanik in einer katholischen Kirche 28 Menschen zu Tode kamen und ein Gerücht Juden dafür verantwortlich machte. Nun schrieb die Warschauer Prawda:

Das polnische Volk hasst die Juden aus religiösen und Rassengefühlen.

Dieser Hass traf vermehrt Juden, die damals ohne Kenntnis polnischer Kultur aus Russland flohen und die wirtschaftliche Konkurrenzsituation zu den ebenfalls unterdrückten Polen verschärften. Das löste auch bei liberalen Intellektuellen häufige Sorgen vor „Überfremdung“ aus.

Mit Jan Jelenski begann ab 1877 auch in Polen eine antisemitische Publikation. 1887 gründete sich im Schweizer Exil die Liga Narodowa (nationale Liga) als Geheimbund gegen die russische Fremdherrschaft. Daraus ging 1897 die Partei Demokracja Narodawa (nationale Demokratie) hervor. Sie suchte bald sozialen und ökonomischen Fortschritt durch Kompromisse mit den Russen auf Kosten der polnischen Juden und Deutschen zu erreichen. Ihr führender Ideologe, Roman Dmowski, schrieb 1903:

Ein nationaler Organismus darf nur das aufsaugen, was er sich zu eigen machen und in eine Vermehrung des Wachstums und der Stärke des Gesamtkörpers umsetzen kann. Ein solches Element sind die Juden nicht…die Aufsaugung einer größeren Menge dieses Elements [würde] uns verderben (), durch Elemente des Zerfalls jene jungen schöpferischen Keimzellen ersetzen (), auf welchen wir unsere Zukunft bauen.

Die nationale Intoleranz sei Folge des Duldens der Juden, da diese unfähig zur Integration seien. Diese Motive des völkischen Antisemitismus griffen nun in Polen wie in Deutschland 20 Jahre zuvor um sich.

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Polnische Ausgabe des Protokolls der Weisen von Zion

Bei den polnischen Bauern waren neben nationalen alte religiöse Motive für neuen Judenhass wirksam. Besonders in Posen und Galizien stachelte sie meist der katholische Klerus, die Dorfpriester, gegen die Juden auf. Man denunzierte sie nach ersten Streikwellen und der Russischen Revolution 1905 als heimliche Drahtzieher des sozialrevolutionären Umsturzes. 1911 schrieb z.B. die Lemberger Gazeta Niedzielna (Wochenzeitung):

Das sollt ihr nicht erleben, ihr Herren Juden. Nur eines werden wir euch erleichtern, … dass ihr so schnell wie möglich euch aus unserem Lande begebt. Wer mit uns bleiben will, der nehme unseren Glauben an und werde Pole…

So bildeten Katholizismus und Nationalismus auf dem Land weithin eine antijudaistische, antidemokratische und antisozialistische Einheit.

Auf jüdischer Seite verstärkte dies die Bindung an eigene Tradition und Religion, Hinwendung zum Zionismus und zum proletarischen Sozialismus. Viele Juden lehnten bis 1914 ein unabhängiges Polen ab, weil dieser Nationalstaat ihnen nur größeren Assimilationsdruck versprach. Als Polen 1918 unabhängig wurde, änderte sich dies rasch: Die Zionisten bildeten einen „Nationalrat“, der als Partei für den Sejm (das polnische Parlament) kandidierte und dort die Gleichberechtigung aller Juden Polens – etwa 2 Millionen – forderte. Diese wurde 1930 realisiert.

Doch seit dem Krieg mit der jungen Sowjetunion 1920 wuchs in Polen der offene Antisemitismus. Polens Bischöfe veröffentlichten einen Hilferuf an die Katholiken in aller Welt, in dem sie das Judentum mit dem Bolschewismus gleichsetzten:

Das wahre Ziel des Bolschewismus ist die Welteroberung. Die Rasse, welche die Führung des Bolschewismus in ihren Händen hat, hat schon in der Vergangenheit die Welt mittels des Goldes und der Banken unterworfen, und jetzt, getrieben durch die immerwährende imperialistische Gier, die in ihren Adern pocht, zielt sie schon auf die endgültige Unterwerfung der Nationen unter das Joch ihrer Herrschaft…Bolschewismus ist in Wahrheit die Verkörperung und Fleischwerdung des Antichrist auf Erden.

Der antisemitische Priester und Parlamentarier Kazimierz Lutoslawski denunzierte die Juden als Werkzeuge der Russifizierung und Germanisierung und lastete ihnen die Demoralisierung des Volkes, seiner Arbeitskraft, Entchristlichung der Kultur, kurz: die „Vergiftung der Volksseele“ Polens an.

Auf dem Hintergrund dieser verbreiteten, vom katholischen Klerus und nationalkonservativen Parteien gestützten und propagierten antisemitischen Stereotypen wurden Juden von Polen während der deutschen Besetzung dann kaum verteidigt und z.B. 1941 in Jedwabne von der Dorfbevölkerung ermordet. Obwohl die Vernichtungslager der Deutschen in Polen durchaus bekannt waren, richtete sich der polnische Widerstand selten dagegen. Bereits im Herbst 1946 kam es in Polen erneut zu Pogromen an Juden, die den Holocaust überlebt hatten.

Baltische Staaten

Die Geschichte des Antisemitismus der baltischen Staaten ist auch im Zusammenhang der langen Zugehörigkeit der Länder zum russischen Reich zu sehen. Der jüdische Bevölkerungsanteil war in Litauen am größten, und in Estland (das die Nazis als "judenfrei" ansahen) am geringsten.

 
Durch Einsatzgruppe A ab Dezember 1941 durchgeführte Exekutionen an der jüdischen Bevölkerung nach dem Jägerbericht

Litauen

Die in Litauen ansässigen Juden waren ab Mitte des 15. Jahrhunderts wirtschaftlich sehr erfolgreich, was im Jahr 1485 erstmals zu nennenswerten Spannungen führte. Litauen war eines der Zentren jüdischer Kultur in Osteuropa mit eigenen Schulen, einer großen Bibliothek und zahlreichen Toraschulen. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wandte sich ein immer größerer Bevölkerungsteil gegen die wirtschaftliche Vormachtstellung der Juden, was 1764 zum Ende der etwa zweihundert Jahre praktizierten jüdischen Selbstverwaltung führte.

In den ersten Jahren nach der litauischen Unabhängigkeit 1918 genossen Juden noch beachtliche Privilegien (eigenes Schulsystem, Recht auf freie Benützung der eigenen Sprache, Anerkennung des Sabbat (Sabbatobservanz), ein Ministerium für jüdische Angelegenheiten, sowie die Gleichstellung der Rabbiner mit anderen Geistlichen). 1924 wurden nach dem Erstarken der nationalistischen Partei die jüdische Gemeindeverwaltung unter staatliche Aufsicht gestellt, das Ministerium für jüdische Angelegenheiten aufgelöst, und die jüdische Autonomie für innere Angelegenheiten weitgehend eingeschränkt. Unter der autoritär-nationalistischen Regierung Antanas Smetonas verschlechterte sich die Situation der Juden weiter.

Nach der sowjetischen Okkupation 1939 wurden jüdi­sche Organisationen aufgelöst, und es kam zum Einzug von Eigentum. Von den 35.000 nach Sibirien deportierten Einwohnern waren 7.000 Juden. Mit dem deutschen Einmarsch 1941 rückte die jüdische Bevölkerung in den Fokus. Bereits zu Beginn der deutschen Offensive waren bei Pogromen mehrere Hundert, vielleicht auch Tausende Juden getötet worden. In den großen Städten Kaunas, Vilnius und Šiauliai wurden Ghettos eingerichtet. Bis Herbst 1941 von etwa 80.000 Toten auszugehen. Von den ehemals über 200'000 Juden leben heute in Litauen nur noch 5'500.

Lettland

Während die jüdische Bevölkerung in den Provinzen Kurland und Semgallen auch nach der Einverleibung in das russische Reich 1795 ihre Eigenständigkeit weitgehend beibehalten konnte, wurde den Juden in der Polen zugeschlagenen Provinz Livland verboten, Handel zu treiben oder Abgaben und Zölle zu erheben. 1785 kam es unter russischer Oberhoheit zur Gründung der ersten jüdischen Gemeinde in Livland. Ab 1822 wurde den Juden erlaubt in Riga zu wohnen und Handel und Gewerbe zu treiben.

Während der deutschen Besetzungszeit fanden Vernichtungsaktionen der deutschen Besatzungsmacht gegen Juden statt, die zur fast völligen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Lettlands führten.

Estland

Die erste jüdische Gemeinde entstand in Tallinn (erste Synagoge 1883). Obwohl es zwischen den Weltkriegen judenfeindliche Strömungen gab, kann nicht von einem bedeutsamen öffentlichen Antisemitismus gesprochen werden. Estland hatte 1941 rund 4.500 jüdische Einwohner, von denen ungefähr die Hälfte in die Sowjetunion flüchten konnten. Die bei Ankunft der deutschen Truppen noch im Land befindlichen Personen wurden sofort festgenommen und ermordet oder interniert.

Russland, Ukraine, Sowjetunion

Im Russischen Reich gab es anfangs kaum Judengemeinden. Dennoch übernahm die orthodoxe Staatskirche neben antikatholischer Polemik den traditionellen Antijudaismus der Patristik, etwa von Johannes Chrysostomos. Die Ikonenmalererei enthielt auch antijüdische Motive. Im Zuge der russischen Ausdehnung nach Westen wurden die Juden Polens oft als Katholikenfreunde betrachtet und grausam verfolgt, so durch Iwan IV. 1563 in Polozk.

Der ukrainische Aufstand von 1648 unter Führung des Kosaken-Hetmans Bohdan Chmelnyzkyj richtete sich zwar gegen die Herrschaft des polnischen Adels in den ukrainischen Gebieten Polen-Litauens, doch ein großer Teil seiner Opfer waren Juden, die oft in einer prekären Vermittlerposition zwischen polnischen Magnaten und ukrainischen Bauern standen. Jüdische Opfer werden auf eine Zahl zwischen 10.000 und 200.000 geschätzt. Während der Aufstand in der ukrainischen Geschichtsschreibung als Akt des nationalen Heldentums gilt, sieht die jüdische Geschichtsschreibung darin den ersten Vorläufer der großen neuzeitlichen Judenmorde.

Durch die Türkenkriege und drei polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert gelangten zahlreiche Judengemeinden in den eroberten Gebieten unter russische Herrschaft. Bereits 1790 verbot Katharina II. Juden nach anfänglicher Toleranz den Kaufmannsberuf und erlegte ihnen doppelte Steuern auf, um die Moskauer Kaufleute vor unliebsamer Konkurrenz zu schützen. Gleichwohl mussten sich die leibeigenen Bauern häufig beim jüdischen Kleinbürgertum verschulden, um die hohen Auflagen ihrer Grundherren auszugleichen. Auf dieser Basis kam es schon 1825, dann erneut 1841 und 1871 in Odessa zu Ausschreitungen gegen die Juden der Region. Die auf dem Land verbreitete Judenverachtung spiegelt sich auch in der damaligen Literatur, etwa in Turgenews Aufzeichnungen eines Jägers (1852).

Zar Nikolaus I. verfolgte eine harte antijüdische Politik: 1835 begrenzte er den Hauptwohnsitz der Juden im Russischen Reich auf den sogenannten Ansiedlungsrayon (Tscherta osedlosti), dieser umfasste 15 Gouvernements des Kernreichs und zehn weitere im Königreich Polen. Die orthodoxe Staatskirche begrüßte diese Ghettoisierung als Chance zur konzentrierteren Judenmission; der konservative russische Adel und das Großbürgertum sahen darin eine willkommene Abwehr des parlamentarischen „Virus“ aus Westeuropa.

Die 1861 erfolgte „Bauernbefreiung“ von Alexander II. gestattete ehemals leibeigenen Bauern den Landerwerb, was Gebildeten und Begüterten – darunter relativ vielen Juden – eher zugute kam. Dies vergrößerte den Judenhass der einfachen Bevölkerung noch. Ihre Vorurteile vertrat auch Dostojewski in seinem einflussreichen Tagebuch eines Schriftstellers 1877:

Da kam nun der Befreier und befreite das autochthone Volk – und was nun: Wer stürzte sich als Erster darauf als ein Opfer, wer benutzte vorzugsweise seine Laster, wer umwand es mit seinem ewigwährenden goldenen Gewerbe, wer ersetzte sogleich, wo er nur konnte und gelegen kam, die abgeschafften Gutsherren? Mit dem Unterschied, dass die Gutsherren, wenn sie die Leute auch stark ausgebeutet hatten, dennoch bestrebt waren, ihre Bauern nicht zugrunde zu richten, meinetwegen um ihrer selbst willen, um ihre Arbeitskraft nicht zu erschöpfen; aber den Hebräer kümmert die Erschöpfung der russischen Kraft nicht, er nahm das Seine und ging…

Erst unter Alexander II. durften einige reiche russische Juden außerhalb der Ghettos wohnen und ihre Kinder auf höhere Schulen schicken. Seine Ermordung am 1. März 1881 aber löste eine Pogromwelle aus: Staatlich lancierte Gerüchte lasteten den Mord und die schlechte Versorgungslage der jüdischen Minderheit an, um den Unzufriedenen ein Ventil für das Ausbleiben einer vom Zaren versprochenen Landreform zu öffnen. In den Folgemonaten verwüsteten und plünderten arbeitslose verarmte Bauern, die sich dabei auf einen angeblichen Zaren-Befehl beriefen, über 100 jüdische Gemeinden vor allem in der Ukraine. Die Behörden blieben untätig, und die christliche Stadtbevölkerung duldete die Übergriffe. Nur wenige orthodoxe Kleriker versuchten, die Bauern von den Exzessen abzubringen.

Zar Alexander III. verordnete dann am 3. Mai 1882 Knebelgesetze, die die Juden an freier Berufswahl und Gewerbefreiheit hinderten und vielfach in noch größere Armut stürzten. Der Prozentanteil jüdischer Gymnasiasten wurde auf 10% beschränkt. Sie lösten die erste Alijah (Einwanderungswelle) von Juden nach Palästina aus. In dieser Zeit begannen einige Intellektuelle gegen die judenfeindlichen Staatsmaßnahmen zu protestieren, darunter Odessas Erzbischof Nikanor. Auch der „russische Lessing“, der Religionsphilosoph Wladimir Sergejewitsch Solowjow setzte sich neben der Wiedervereinigung von orthodoxer und katholischer Kirche für nachhaltige gegenseitige Achtung von Juden und Christen ein (Das Judentum und die christliche Frage 1884). Er fand die rückhaltlose Zustimmung von Leo Tolstoj.

Andererseits griff die judenfeindliche Hetze gerade in der Priesterschaft um sich. Bildungsrückstand und traditionelle Verbindung von staatlicher Despotie und Kirche trugen dazu bei. So fand die Ritualmordanklage im 19. Jahrhundert gerade in Russland prominente Fürsprecher und Popularität. Seit 1881 kam die Gleichsetzung des Judentum mit revolutionären Umtrieben hinzu, die wegen der Bildung einer jüdischen sozialistischen Partei und dem relativ hohen Anteil von Juden in der russischen Sozialdemokratie plausibel wirkte. Die Gegenrevolutionäre vereinten sich in Gruppen wie dem Bund des russischen Volkes oder dem Erzengel-Michael-Bund, die unter orthodoxen Priestern viel Zulauf hatten.

 
Opfer eines Pogroms in Yekaterinoslav (heute Dnipropetrovsk) im Jahr 1905

Die zweite große Pogromwelle wurde wahrscheinlich von solchen Gruppen organisiert. Sie begann am Osterfest 1903 in Chişinău und griff rasch auf Gomel, dann Hunderte weiterer Orte über. Der gesetzlich vorgeschriebene Eingriff des Militärs unterblieb, und die Regierung stellte die Pogrome als angeblich „spontane Racheakte“ der christlichen Bevölkerung an jüdischen Revolutionären hin. Das wiederholte sich während der ersten russischen Revolution 1905. Danach wurden die antijüdischen Gesetze noch verschärft und blieben bis zur Februarrevolution 1917 in Kraft. So war der russische Antisemitismus, gestützt auf den ländlichen Antijudaismus, eine kaum verhohlene halboffizielle Maßnahme zur Verhinderung der Sozialrevolution. In diesen Jahrzehnten erfolgte die zweite und dritte Alijah von Juden nach Palästina.

Die Februarrevolution unter Alexander Fjodorowitsch Kerenski brachte allen Minderheiten, auch den Juden, 1917 die rechtliche Gleichstellung. 140 antijüdische Gesetze wurden aufgehoben. Doch im Russischen Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolution kam es zu den bislang schwersten Pogromwellen in den von den „Weißen“ Konterrevolutionären besetzten Gebieten. Sie kosteten vor allem in der Ukraine etwa 60.000 Juden das Leben.

Danach waren Christen wie Juden der gleichen antireligiösen Staatspropaganda und Unterdrückung ausgesetzt. Die vorherige Gleichsetzung von Judentum und Kommunismus im orthodoxen Klerus sorgte mit dafür, dass die KPdSU die Synagogen nicht bevorzugte und ihre Lehrer wie die der Kirche für fortgesetzten Religionsunterricht mit Zwangsarbeit oder in Schauprozessen mit dem Tod bestrafte.

Stalin aktivierte den orthodoxen Antijudaismus seit 1936 gegen alle abweichenden Meinungen und Gruppen in der KPdSU, besonders gegen vermeintliche oder tatsächliche Trotzkisten. Zwar lockerte er seit 1940 einige der antireligiösen Gesetze, um den traditionellen christlichen russischen Patriotismus gegen den Überfall Hitlerdeutschlands zu mobilisieren. Davon waren die Judengemeinden jedoch ausgenommen, obwohl ihre Angehörigen die Heimat nicht minder aufopferungsbereit verteidigten. Russische Juden wurden den Nazis teilweise ausgeliefert; die Rote Armee unternahm anfangs nichts gegen die Ghettoisierung der polnischen Juden.

Neu veröffentlichtes Archivmaterial u.a. des Zentralkommitees der KPdSU datiert den staatlich organisierten Antisemitismus auf 1938 (Kostyrtschenko 2005). Damals fragten führende Parteiorgane nach der angeblichen „Verunreinigung“ der Kader (Angestellten) im Volkskommissariat für Gesundheit: Die Hälfte der Familiennamen auf dieser Liste waren „jüdisch“. Von 1942 bis 1944 häuften sich innerparteiliche antisemitische Dokumente.

In den Kriegsjahren ließ Stalin die Wirkungen des latenten Antisemitismus im Staatsapparat aus innen- wie außenpolitischen Gründen möglichst bremsen. Doch mit Beginn des Kalten Krieges mussten die Juden wieder für ihn die Rolle des inneren Feindes übernehmen. Die bisher veröffentlichten, noch unübersetzten russischen Dokumente, fast alle „geheim“ gestempelt, lassen die Abfolge dieser Politik erkennen:

  1. gewaltsame Auflösung des „Jüdischen Antifaschistischen Komitees“,
  2. Repressionen gegen die Führer des Jüdischen Autonomen Gebiets,
  3. Vernichtung der jiddischen Kultur,
  4. eine Kampagne gegen „heimatlosen Kosmopolitismus“,
  5. „Säuberungen“ in den Kadern von Staat, Wirtschaft, Kultur und Gesundheitswesen.

Hier zeigt sich, dass der stalinistische Antisemitismus weniger offen propagiert wurde als bei den Nationalsozialisten. Er wurde politisch dosiert und tarnte sich durch die Ideologie des „Internationalismus“, in dem Juden besonders der Dritten Welt als weltweiter Feind betrachtet wurden, obwohl zuallererst russische Juden gemeint waren. Säuberungsbefehle wurden fast immer mündlich angeordnet und weitergegeben. Dazu reichten Tarnworte aus, da fast alle Parteikader außer den jüdischen ohnehin antisemitisch eingestellt waren und wussten, worum es ging.

Als Stalin todkrank war, erreichte der staatliche Antisemitismus in der „Affäre der Kreml-Ärzte“ einen Höhepunkt. Erst sein Tod 1953 beendete mögliche Pläne zu größeren Judenverfolgungen.

Tschecheslowakei

Die Lage der Juden verbesserte sich mit den von Ideen des aufgeklärten Absolutismus und von jüdischen Aufklärern (Haskala) geprägten Reformen des östereichischen Kaisers Josephs II.. So gestattete das Toleranzpatent für das böhmische Judentum von 1781 diesen jede Form von Handwerk und Handel.

Mit dem im Zuge der nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts einhergehenden Gegensatz zwischen Tschechen und Deutschen mussten die Juden sich für die Zugehörigkeit zu einer dieser Kulturen entscheiden. Die von Integrationsbemühungen seitens der Tschechen führten zu einer verstärkten "Germanisierung" der tschechischen Juden, so dass z.B 1890 74% der Prager Juden Deutsch als ihre Umgangssprache angaben.

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Graffiti (Text: "Der Jude ist unser Feind") in Bratislava 1939

In Boehmen und Mähren war ab 1867 die volle Gleichberechtigung der Juden gesetzlich garantiert. Dennoch wurden die Juden mit "Deutschtum" und kapitalistischer Ausbeutung in Zusammenhang gebracht. Nach dem gescheiterten Versuch der Wiener Regierung, sowohl deutsch als auch tschechisch zur Amtssprache zu erheben, kam es im ganzen Land zu einem Sturm auf deutsche Institutionen und darauf folgenden antisemitischen Ausschreitungen. Großes Aufsehen erregte im Jahr 1899 die sogenannte Hilsner-Affäre, als in Nordböhmen ein ermordetes Mädchen aufgefunden wurde. Der Verdacht fiel auf den jüdischen Schustergesellen Leopold Hilsner, dem vorgeworfen wurde, das Mädchen aus rituellen Gründen ermordet zu haben, um ihr Blut beim Pessachfest zu benutzen. Hilsner wurde zum Tode verurteilt (später in eine lebenslange Haft umgewandelt).

Unter dem ersten Präsidenten der tschechoslowakischen Republik Tomas Masaryk und seinem Nachfolger Eduard Benes war Antisemitismus offiziell nicht akzeptiert, und die Juden waren voll gleichberechtigt. Nach der Münchner Konferenz trat allerdings offene antisemitische Propaganda zutage. Dies endete mit dem Einmarsch deutscher Truppen im Jahr 1939. Von den 118.310 Juden aus den tschechischen Ländern konnten 26.100 emigrieren, und 78.000 fielen dem Holocaust zum Opfer.

Südosteuropa

Ungarn

In Ungarn entwickelte sich eine Stimmung, welche die reinrassige Kultur der Ungarn durch Juden gefährdet sahen. Wegen der Teilnahme vieler Juden an der Revolution von 1918/19 hatte sich der Begriff 'Judeobolschewik' in konservativen Kreisen verbreitet. Nach dem Zerfall der Monarchie wich der liberale, eher tolerante Nationalismus, einem eher radikalen und autoritärem, aus Antisemitismus, Nationalismus, Revanchismus und aggressiver Christlichkeit bestehender Konservativismus.

Rumänien

Im 19. Jahrhundert wurden über 200 Judengesetze erlassen, von denen etliche später dem nationalsozialistischen Regime in Deutschland als Vorbild dienten. Beim Enwurf der rumänischen Verfassung 1866 wurde überlegt, ob nicht die Juden ein Hindernis für Unabhängigkeit, Prosperität und Kultur des Landes seien. In Artikel 7 („Nur Fremde christlichen Glaubens können rumänische Staatsbürger werden“.) grenzte diese Juden dann auch als Staatsbürger aus. Als der Berliner Kongreß von Rumänien in den Artikeln 43 und 44 seines Schlußdokuments die Gleichberechtigung der Juden forderte, reagierte der Abgeordnete Vasile Conta am 5. September 1879: „Wenn wir nicht gegen das jüdische Element kämpfen, sterben wir als Nation“. Der Schriftsteller Ioan Slavici schlug gar Pogrome zur Lösung des Problems vor: „Erwürgen wir sie, werfen wir sie in die Donau, damit auch nicht der kleinste Rest von ihnen übrig bleibt“.

Von 1900 bis 1906 emigrierten über 70.000 Juden in Richtung Amerika. Diese starke Abwanderung erregte die Weltöffentlichkeit und veranlasste die amerikanische Regierung zur Absendung der sog. Hay-Note im Jahr 1902, welche die europäischen Mächte auf die Missachtung des Berliner Vertrags durch Rumänien verwies.

Das nächste Aufflammen von Antisemitismus fand kurz nach dem Ersten Weltkrieg statt. 1923 hatte Corneliu Zelea Codreanu nach dem Vorbild des italienischen Faschismus die nationalistische, antisemitische Legion des Erzengels Michael (Legiunea Arhanghelul Mihail) gegründet, die sich ab 1931 Eiserne Garde nannte. Auch nach dem Tod Codreanus 1937 blieb die "Eiserne Garde" aktiv. 1940 kam es auf Druck der Nationalsozialisten zu einer Koalitionsregierung von General Ion Antonescu und Codreanus extrem antisemitisch eingestellten Nachfolger Horia Sima, welche ein enges Bündnis mit Deutschland einging. Unter dieser Militärdiktatur wurden die rumänischen Juden dann besonders brutal verfolgt, wobei die Schätzungen über die Zahl der Ermordeten zwischen 300.000 und 400.000 schwanken.

Bulgarien

Im Jahr 1878 wurden im Unterschied zu Rumänien, wo sie bis nach dem Ersten Weltkrieg als meist Staatenlose der Willkür der Behörden preisgegeben waren, alle Juden eingebürgert. Nach 1878 gab es erstmals vereinzelte antisemitische Übergriffe. In den Jahren während des ersten Weltkriegs, sowie unter dem Regime von Aleksandar Zankow nach dessen Putsch 1923 wurden antisemitische Ideologien und Aktivitäten dagegen stärker.

Balkanländer

Der Antisemitismus dieser Region muss in Hinsicht auf die lange Beherrschung durch die multinational geprägte aber dennoch im Kern katholische östereichische k.u.k. Monarchie sowie das Osmanische Reich, ihre nationalen Befreiungsbewegungen, die kurzen Abschnitten nationaler Selbstständigkeit, sowie die anschließende Okkupation durch Deutschland im Rahmen des zweiten Weltkriegs betrachtet werden. Generell ist festzustellen, dass sich die Lebensbedingungen der Juden des Balkans nach den Reformen der k.u.k. Monarchie ab den 1870-er Jahren verbesserten.

Kroatien

Der Antisemitismus im Lande bewegte sich im gesamteuropäisch üblichen Rahmen. Allerdings ermöglichte der vorherrschende Katholizismus und die in Relation zu europäischen Kernstaaten verzögert einsetzende Aufklärung dem unter anderem durch das Motiv des Gottesmordes geprägten Antijudaismus eine längere Lebensdauer.

Ebenso wie in Tschechien, wurden die Juden im Verlauf nationaler Bestrebungen des 19. Jahrhunderts mit der als "überfremdend" empfundenen "anderen Nation" identifiziert. So galten die oft die kroatische Sprache nicht vollkommen beherrschenden und statt dessen ungarisch sprechenden kroatischen Juden als Ausländer, und wurden im Zusammenhang mit den "Magyarisierungsbestrebungen" der östereichisch-ungarischen Herrschaft gesehen. Um die Jahrhundertwende erschienen in Zagreb Zeitschriften wie Hrvatsko kolo, welche die nun erstarkten antijüdischen Tendenzen formulierten.

Mit Erreichung der nationalen Unabhängigkeit im 1918 proklamierten Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen schwächten sich diese Erscheinungen jedoch nicht ab, sondern intensivierten sich.

Aufgrund der wirtschaftlichen Folgeschäden des Krieges entlud sich die Unzufriedenheit des Volkes in pogromähnlichen Ausschreitungen gegen Juden und deren Besitz in Form von Plünderungen und Zerstörungen ihrer Geschäfte und Häuser.

Es kam zur Vertreibung von Juden, die erst seit kurzer Zeit auf dem Territorium des neuen Staates lebten, und demnach nicht das Recht auf die jugoslawische Staatsbürgerschaft besaßen. Weitere diskriminierende Maßnahmen waren der Ausschluss von den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung, sowie die Verwehrung des Zugangs von Juden zu diplomatischen Berufen.

Trotz der genannten Diskrimierungen ist das Ausmaß des Antisemitismus in Kroatien im Vergleich zu anderen osteuropäischen Staaten wie Polen oder Russland als eher gering einzustufen. Von einem durchgehend staatlich gelenkten oder parteiprogrammatisch gefordertem Antisemitismus kann nicht ausgegangen werden.

1941 wurde das Land zum deutschen Vasallenstaat (Unabhängiger Staat Kroatien) unter der faschistischen Diktatur der Ustascha-Bewegung Ante Pavelićs, welche die Nürnberger Gesetze übernahm, und Serben, Juden und Roma systematisch verfolgte und ermordete.

Serbien

USA

Die Puritaner hatten als Calvinisten das Alte Testament großgeschrieben. Die Sehnsucht nach freier Religionsausübung war ein Hauptmotiv für ihre Auswanderung in die damals noch britischen Kolonien. Die in der Bill of Rights 1776 verankerte religiöse Toleranz ließ die USA zum idealen Ziel vieler in Europa bedrängter und religiös verfolgter Gruppen, auch der Juden werden.

Bis 1850 lebten nur etwa 60.000 Juden in den USA. Seit den russischen Pogromen von 1881 kamen jährlich 6.000 russische Juden dazu. Bis 1910 stieg die Zahl der amerikanischen Juden so auf insgesamt zwei Millionen. Um 1930 lebten schon über vier Millionen Juden in den USA. Dieser enorme Zuzug führte zu regionalen Spannungen, die 1921 zu einer gesetzlichen Begrenzung der jüdischen Zuwanderung vor allem aus Südosteuropa durch ein Quotensystem führten.

Seit 1879 beeinflussten deutsche und französische antisemitische Schriften die Öffentlichkeit in den USA etwas. Der deutsche Lehrer und Antisemit Hermann Ahlwardt versuchte seit 1896, auch in den USA nach deutschem Vorbild eine antisemitische Partei zu gründen, scheiterte jedoch.

Freikirchen hatten in den USA ein traditionelles Interesse an der Judenmission. Um 1900 wurde diese von über 30 Konfessionen und Verbänden gepflegt. Aber schon 1890 kam es zu einer nationalen Konferenz von Juden und Christen, die einander besser kennen lernen wollten, zusammen Vorträge hörten und beteten. Die Abschlusserklärung proklamierte, dass jede ungerechte Behandlung von Juden und ihr Ausschluss zu sozialen Vorteilen „unamerikanisch“ und „unchristlich“ seien.

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Angebot für "judenfreies Wohnen" im Amerika der 30-er Jahre

Erst im Gefolge des 1. Weltkriegs entstand auch in den USA eine antisemitische Strömung. Dafür war seit 1920 vor allem die Kampagne von Henry Ford verantwortlich. Gegen seine öffentlichen Anklagen in der Zeitung Dearborn Independent erhoben sich jedoch sofort anhaltende Proteste von vielen Seiten, darunter dem Verband der Churches of Christ in America. In Großannoncen veröffentlichten u.a. 119 angesehene Bürger ihre Abscheu vor Fords antisemitischen Hetzparolen:

Antisemitismus ist fast unabänderlich verbunden mit Gesetzlosigkeit, Brutalität und Ungerechtigkeit. Er ist ebenso unausweichlich verflochten mit anderen dunklen Gewalten, vornehmlich jenen, die korrupt, reaktionär und voll Unterdrückung sind. Wir glauben, der Kampf gegen diese Pest sollte nicht den Männern und Frauen jüdischen Glaubens überlassen bleiben…

1927 widerrief Ford angesichts des breiten innenpolitischen Widerstands seine antisemitische Erklärung und brach die Kampagne ab.

Eine gewisse Nachwirkung zeigte sich an manchen Hochschulen: So führte zum Beispiel die Yale University 1925 ein diskriminierendes Aufnahmesystem ein, das Kinder von nichtjüdischen Absolventen bevorzugte, um so den Anteil jüdischer Studierender zu begrenzen.

In den 1930er Jahren waren Radiosendungen des antisemitischen katholischen Priesters Charles Coughlin sehr beliebt. In den Südstaaten ist unter den weißen Protestanten die Ablehnung „jüdischer Yankees“ der „Wallstreet“ – also der städtischen Hochfinanz der Nordstaaten – zum Teil bis heute verwurzelt.

Eine Umfrage aus dem Jahr 1939 ergab, dass 53% der Amerikaner der Ansicht waren, dass Juden anders seien und Einschränkungen unterliegen sollten, und 10% Deportationen für angebracht hielten [67] Verschiedene Untersuchungen zwischen 1940 bis 1946 belegten, dass sie als eine größere Gefahr für das Wohl der Vereinigten Staaten angesehen wurden, als jede andere national, religiös oder rassisch definierte Gruppe. [68]

Japan und China

Nach Japan waren seit 1854 einige wenige Juden ausgewandert, die sich kaum von anderen westlichen Einwanderern unterschieden und auch nicht anders wahrgenommen wurden. Antisemitismus war unter Japanern unbekannt, bis westliche Bildungsliteratur – vor allem das Neue Testament und Shakespeare – ins Japanische übersetzt wurden. Nach Lenins Oktoberrevolution 1917 veröffentlichten die mit den Japanern gegen die Bolschewisten verbündeten weißrussischen Truppen erstmals antisemitische Propaganda in Japan, wonach die Revolution eine Verschwörung von Juden gewesen sei. 1919 wurden die Protokolle der Weisen von Zion ins Japanische übersetzt.

Die politische Annäherung des von der Weltwirtschaftskrise ebenso gebeutelten Japans an Deutschland begann 1930. Damit einher ging der Import von nationalsozialistischer Propaganda, darunter Hitlers Mein Kampf.[69]

Als Reaktion auf den europäischen Antisemitismus und um die USA zu Investitionen in Japan zu bringen, erwog die japanische Regierung seit 1930, Zehntausende jüdische Flüchtlinge aus Europa in der Mandschurei anzusiedeln und anzuwerben (Fugu Plan). Man glaubte, Juden könnten Japans Wohlstand mehren und seine internationalen Handelsbeziehungen – besonders zu den USA, die man unter der Kontrolle amerikanischer Juden wähnte - verbessern. Der Plan war also nicht judenfreundlich, sondern aus dem aus Europa übernommenen Glauben an eine jüdische Weltherrschaft motiviert.

1938, nach dem Anschluss Österreichs, gewann der Plan konkrete Gestalt; doch nach dem Pakt Japans mit Deutschland und Italien 1941 blieb die Umsetzung aus (siehe dazu: en:Fugu Plan). Die Regierung schürte den großjapanischen Nationalismus, ohne jedoch die in Japan lebenden Juden zu verfolgen. Erst aufgrund einer deutschen Intervention wurden in Kobe Juden verhaftet.

In China wurde ein jüdisches Ghetto in Shanghai eingerichtet (Hongkou-Ghetto).

Arabische Staaten

siehe Hauptartikel Antisemitismus in islamischen Ländern

Siehe auch

Quellen

  1. Jewish Encyclopedia, Artikel Anti-Semitism
  2. Christian Sigrist, Neue Rheinische Zeitung 22. August 2006
  3. Wilhelm Marr: Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet. Vae Victis!
  4. Peter Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus S. 108
  5. Strauss/Kampe, Die Juden in Staat und Wirtschaft der Voremanzipationszeit, in: Antisemitismus S. 77-82
  6. Herbert A. Strauss: Der Holocaust als Epochenscheide der Antisemitismusgeschichte, in: Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945 S. 49
  7. Peter Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus S. 74
  8. Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code S. 135
  9. Bernd Estel, Nationale Identität und Antisemitismus in Deutschland, in: Bergmann/Erb, Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945 S. 61f
  10. H. Strauss, a.a.O. S. 47f
  11. Ursula Hohmann: Nicht immer waren Deutsche Philosophen Juden wohl gesonnen
  12. Erb/Bergmann, Nachtseite der Judenemanzipation S. 212
  13. Antisemitismus bei J.G. Fichte
  14. Ursula Hohmann, a.a.O.
  15. Diether Huhn, Von Schleiermacher zu Hegel
  16. zitiert nach Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe S. 612-623
  17. Winfried Seibert: Antisemitismus in Rheinhessen
  18. Andrea Djuren, Nicole Hummel: Entwicklungslinien des Antisemitismus bis zum Ende des Kaiserreiches (pdf)
  19. Erb/Bergmann, a.a.O. S. 111-135
  20. nach Weltgeschichte im Aufriss Band 2, Diesterweg, Frankfurt/Main 1978, S. 191
  21. Erb/Bergmann, a.a.O. S. 114
  22. Erb/Bergmann, a.a.O. S. 198 und 202
  23. Ludwig Andreas Feuerbach: Das Wesen des Christentums, Seite 209 ff., Gesammelte Werke Teil 5, bearbeitet von Werner Schuffenhauer und Wolfgang Harich, 2006, ISBN 978-3-05-004212-1
  24. Micha Brumlik, Doron Kiesel, Linda Reisch: Der Antisemitismus und die Linke, Seite 7 ff., Frankfurt, Haag + Herchen, 1991, ISBN 3892287260
  25. Michail Bakunin, Persönliche Beziehungen zu Marx, in Gott und der Staat und andere Schriften, Rowohlt, 1971, ISBN 3-499-45240-5
  26. Erb/Bergmann, a.a.O. S. 246-261
  27. Erb/Bergmann, a.a.O. S. 208f
  28. Karl Heinrich Rengstorff, a.a.O. S. 306f
  29. Frankfurter Rundschau: Kaiser Titus' Dummheit
  30. Erb/Bergmann, a.a.O. S. 196
  31. Erb/Bergmann, a.a.O. S. 195
  32. Andreas Winnecken: Ein Fall von Antisemitismus. Geschichte und Pathogenese der deutschen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, Wissenschaft und Politik, Köln, 1991, ISBN 3-8046-8770-9
  33. Gerd Hoffmann: Der Prozeß um den Brand der Synagoge in Neustettin (Rezension)
  34. zitiert nach Peter Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus S. 148
  35. Zitiert nach Ernst Simmel: Antisemitismus und Massen-Psychopathologie in Antisemitismus, Hrsg.: Ernst Simmel, Fischer Taschenbuch, 1993, ISBN 3-596-15530-4, Seite 58 und 59.
  36. Wilhelm Mommsen, Deutsche Parteiprogramme S. 84, zitiert nach Neuer Antisemitismus? S. 19
  37. Peter Pulzer, a.a.O. S. 220
  38. Peter Pulzer, a.a.O. S. 254
  39. Harald Loennecker: Wagnerianer auf der Universität
  40. Deutsches Haus der Geschichte: Antisemitismus
  41. Frankfurter Rundschau: Kaiser Titus' Dummheit
  42. Julius H. Schoeps, Wie antisemitisch waren die Sozialisten? in: Über Juden und Deutsche S. 110-115
  43. Dirk Walter: Antisemitische Kriminalität und Gewalt S. 39
  44. Monika Richarz (Hrsg.): Jüdisches Leben in Deutschland II. Im Kaiserreich. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte S. 38
  45. Dirk Walter, a.a.O. S. 23
  46. Dirk Walter, a.a.O. S. 27
  47. zitiert nach: Willibald Gutsche: „Man rufe Mir! Ick komme! Amen.“ In: Zeit Nr. 28 vom 3. Juli 1992, S. 70
  48. Dirk Walter, a.a.O. S. 247
  49. Deutschlandradio: Kalendertag 5. November 1923
  50. Dirk Walter, a.a.O. S. 253
  51. Eva Groepler, "Zertrampelt die Judenkapitalisten!" In: Konkret, Heft 1, S. 45, 1991
  52. Holocaustreferenz: Adolf Hitler: Gutachten zum Antisemitismus
  53. Thomas Whipple Perry: Public opinion, propaganda, and politics in eighteenth century England. A study of the Jew Bill of 1753, Harvard University Press, 1962, Seite 75-90, 99, und 178-182
  54. George Macaulay Trevelyan: Geschichte Englands. Bd. 2. Von 1603 - 1918, Leibniz-Verlag, 1947, ASIN B0000BOO8X, Seite 185 ff.
  55. Jago Salmon auf der Seite des Instituts für Auslandsbeziehungen: Wird Großbritannien antisemitisch ?
  56. Karin Priester: Rassismus. Eine Sozialgeschichte, Reclam, Leipzig, 2003, ISBN 337920076X, Seite 24
  57. [1] The Spanish The Spanish Government and the Axis : No. 15. Notes on Conversation Between General Franco and Ambassador Dieckhoff.
  58. Vilhjálmur Örn Vilhjálmsson: Iceland, the Jews, and Anti-Semitism 1625-2004
  59. Genealogienetz.de: Blumentritt (Famlienname)
  60. Michael Brenner et al., a.a.O., S.78 ff.
  61. Michael Brenner et al., a.a.O., S.63 ff.
  62. Michael Brenner, Stefi Jersch-Wenzel, Michael A.Meyer: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd.2, Emanzipation und Akkulturation 1780-1871, München 1996, ISBN 3406397034, S.308f., S.321
  63. Hagalil: Die Juden in der Schweiz
  64. Historisches Lexikon der Schweiz: Antisemitismus
  65. Hagalil: Die Juden in der Schweiz
  66. Bericht des Simon-Wiesenthal-Zentrums: Schweiz in 40er Jahren von Antisemitismus durchsetzt
  67. Smitha, Frank E. "Roosevelt and Approaching War: The Economy, Politics and Questions of War, 1937-38", accessed March 12 2006
  68. Wesley P. Greear: American Immigration Policies and Public Opinion on European Jews from 1933 to 1945
  69. David: Antisemitismus ohne Juden

Literatur

Begriff

  • Thomas Nipperdey, Reinhard Rürup: Antisemitismus. In: Otto Brunner (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Klett, Stuttgart 1972
  • Gustav Weil: Semitische Völker. – in: Carl von Rotteck / Carl T. Welcker (Hrsg.): Das Staats-Lexikon. Keip, Frankfurt am Main 1990 (Reprint der Ausgabe Altona 1845), ISBN 3-8051-0054-X
  • Ferdinand Hitzig: Semitische Völker und semitisches Recht. In: Deutsches Staatswörterbuch Hrsg. Johann Caspar Bluntschli, Karl Brater. Keip, Frankfurt am Main 1983 (Reprint der Ausgabe Stuttgart 1865)
  • Georg Christoph Berger Waldenegg: Antisemitismus: 'Eine gefährliche Vokabel'? 2003, ISBN 3-205-77096-X

allgemein

  • Werner Bergmann: Geschichte des Antisemitismus. Beck, München 2002, ISBN 3-406-47987-1
  • Detlev Claussen: Grenzen der Aufklärung: Zur gesellschaftlichen Geschichte des modernen Antisemitismus. Fischer TB-Verlag, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-596-26634-3
  • Detlev Claussen (Hrsg.): Vom Judenhaß zum Antisemitismus: Materialien einer verleugneten Geschichte. Luchterhand, Darmstadt 1988, ISBN 3-630-61677-1 Teilabdruck bei Hagalil
  • Alex Bein: Die Judenfrage. Band 1: Biographie eines Weltproblems. Band 2: Anmerkungen, Exkurse, Register. DVA, Stuttgart 1980, ISBN 3-421-01963-0
  • Klaus Hödl: Die Pathologisierung des jüdischen Körpers: Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle. Picus-Verlag, Wien 1997, ISBN 3-85452-415-3
  • Jacob Katz: Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700 - 1933, München: C.H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung 1989, ISBN 3-372-00379-9
  • Stefan Lehr: Antisemitismus – Religiöse Motive im sozialen Vorurteil. Christian Kaiser Verlag, München 1974, ISBN 3-459-00894-6
  • Michael Ley: Kleine Geschichte des Antisemitismus. Fink, München 2003, ISBN 3-8252-2408-2
  • Leon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus VI.: Emanzipation und Rassenwahn. Athenaeum Verlag, Bodenheim 1991, ISBN 3610004169
  • derselbe: Geschichte des Antisemitismus VII.: Zwischen Assimilation und jüdischer Weltverschwörung. Jüdischer Verlag 1988, ISBN 3633540296
  • Herbert A. Strauss, Norbert Kampe (Hrsg.): Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 1988, ISBN 359333464X (interdisziplinäre Aufsatzsammlung mit Epochenquerschnitten)
  • Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code. C.H.Beck, 2000, ISBN 3406421490

Voraussetzungen

  • Micha Brumlik: Deutscher Geist und Judenhass: Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum. Luchterhand, München 2000, ISBN 3-630-62028-0
  • Gudrun Hentges: Schattenseiten der Aufklärung: Die Darstellung von Juden und „Wilden“ in philosophischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts. – Schwalbach/Taunus : Wochenschau-Verl., 1999. – ISBN 3-87920-485-3
  • Nicoline Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft in der frühen Neuzeit (1450-1700). Untersuchungen zu Wortschatz, Text und Argumentation. Universitätsverlag Winter, 2005, ISBN 3825313654
  • Reinhard Rürup, Kontinuität und Diskontinuität der „Judenfrage“ im 19. Jahrhundert. Zur Entstehung des modernen Antisemitismus, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Sozialgeschichte Heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 11), Göttingen 1974, S. 388-415.


Deutschland

  • Peter Alter (Hrsg.): Die Konstruktion der Nation gegen die Juden. Wilhelm Fink Verlag, 1999, ISBN 3770533267 (Inhalt)
  • David Bronsen (Hrsg.), Jews und Germans from 1860 to 1933: The Problematic Symbiosis (= Reihe Siegen ,Beiträge zur Literatur- und Sprachwissenschaft Bd. 9), Heidelberg 1979.
  • Ismar Elbogen, Eleonore Sterling: Die Geschichte der Juden in Deutschland. Europäische Verlagsanstalt (eva), 1993, ISBN 3434462074
  • Nicoline Hortzitz: Früh-Antisemitismus in Deutschland (1789-1871/72). Niemeyer Max Verlag GmbH, Tübingen 1988, ISBN 3484310839
  • Arbeitskreis Kritik des deutschen Antisemitismus (Hrsg.): Antisemitismus – die deutsche Normalität. Geschichte und Wirkungswahn des Antisemitismus. – Freiburg: ça ira, 2001. – ISBN 3-924627-69-x [2]
  • Klemens Felden: Die Übernahme des antisemitischen Stereotyps als soziale Norm durch die bürgerliche Gesellschaft Deutschlands (1875-1900). Dissertation, Heidelberg 1963
  • Hermann Greive: Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland. Wissenschaftliche Buch-Gesellschaft, Darmstadt 1988, ISBN 3-534-80016-8
  • Wanda Kampmann, Adolf Stoecker und die Berliner Bewegung. Ein Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Bd. 13/1962, S. 558-579.
  • Gordon R. Mork, German Nationalism and Jewish Assimilation - The Bismarck Period, in: Robert Welsh (Hrsg.), Publications of the Leo Baeck Institute. Year Book XXII/1977, London 1977, S. 81-92.
  • Rosemarie Leuschen-Seppel, Sozialdemokratie und Antisemitismus im Kaiserreich. Die Auseinandersetzung mit den konservativen und völkischen Strömungen des Antisemitismus 1871-1914 (= Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Reihe: Politik und Gesellschaftsgeschichte), Bonn 1978.
  • Rudolf Lill, Die deutschen Katholiken und die Juden in der Zeit von 1850 bis zur Machtübernahme Hitlers, in: Karl Heinrich Rengstorf/Siegfried von Kortzfleisch (Hrsg.), Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Darstellung mit Quellen Bd. II. Stuttgart 1970, S. 370-420.
  • Paul W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus (= Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Bd. 8), Frankfurt/Main 1959 (Original New York 1949).
  • Walter Mohrmann, Antisemitismus. Ideologie und Geschichte im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Berlin (Ost) 1972.
  • Peter G. J. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867-1914, Gütersloh 1966.
  • Edmund Silberner, Sozialisten zur Judenfrage. Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialismus von Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1914, Berlin 1962.
  • Armin Pfahl-Traughber: Antisemitismus in der deutschen Geschichte. Vs Verlag, 2002, ISBN 3810036919
  • Peter G. Pulzer: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004, ISBN 3-525-36954-9
  • Eva G. Reichmann: Die Flucht in den Hass. Europäische Verlagsanstalt, 7. Auflage 1969, ASIN B0000BT6VW
  • Stefan Scheil: Die Entwicklung des politischen Antisemitismus in Deutschland zwischen 1881 und 1912 Duncker & Humblot, Berlin 1999, ISBN 3-428-09483-2
  • Hans-Günther Zmarzlik, Der Antisemitismus im Zweiten Reich, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Bd. 14/1963, S. 273-286.
  • Massimo Ferrari Zumbini: Die Wurzeln des Bösen: Gründerjahre des Antisemitismus. Von der Bismarckzeit bis Hitler. Klostermann, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-465-03222-5


Einzelthemen

  • Norbert Kampe: Studenten und „Judenfrage“ im Deutschen Kaiserreich: Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1988, ISBN 3-525-35738-9
  • Walter Boehlich (Hrsg.): Der Berliner Antisemitismusstreit. Insel-Verlag, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-458-32798-3
  • Olaf Blaschke, Wider die „Herrschaft des modern-jüdischen Geistes“: Der Katholizismus zwischen traditionellem Antijudaismus und modernem Antisemitismus, in: Wilfried Loth (Hrsg.), Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Moderne (= Konfession und Gesellschaft Bd. 3), Stuttgart/Berlin/Köln 1991, S. 236-265.
  • Olaf Blaschke: Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997
  • Gerhard Hanloser: Krise und Antisemitismus: Eine Geschichte in drei Stationen von der Gründerzeit über die Weltwirtschaftskrise bis heute. Unrast, Münster 2003, ISBN 3-89771-423-X
  • Ernst Heinen, Antisemitische Strömungen im politischen Katholizismus während des Kulturkampfes, in: Kurt Kluxen/Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.), Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung. Studien zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Theodor Schieder zu seinem 60. Geburtstag, München/Wien 1968, S. 259-299.
  • Barbara Suchy: The Verein zur Abwehr des Antisemitismus (Band II): From the First World War to its Dissolution in 1933. In: Yearbook of the Leo Baeck Institute 30 (1985), S. 67-103
  • Dirk Walter: Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik. J.H.W. Dietz Nachfolger, Bonn 1999, ISBN 3801250261
  • Kurt Warwrzinek, Die Entstehung der deutschen Antisemitenparteien (1873-1880) (= Historische Studien Heft 168), Berlin 1927.
  • Maria Anna Zumholz, Das Emsland – ein antisemitisches katholisches Regionalmilieu?, in: Studiengesellschaft für Emsländische Regionalgeschichte (Hrsg.), Emsländische Geschichte Bd. 12, Haselünne 2005, S. 72-132.


Zeit des Nationalsozialismus

  • Philippe Burrin: Warum Deutschland? Antisemitismus, Nationalsozialismus, Genozid. Propyläen, Paris/Berlin 2004, ISBN 3549072325
  • Hermann Graml, Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich (Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart), München 1988.
  • Moishe Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus – ein theoretischer Versuch. (S. 242–254) In: Dan Diner (Hrsg.): Zivilisationsbruch: Denken nach Auschwitz. Fischer TB-Verlag, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-596-24398-X
  • Gerhard Paul: Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933. 2. Auflage, Bonn 1992, ISBN 3-8012-5015-6
  • Walter H. Pehle (Hrsg.), Der Judenprogrom 1938. Von der „Reichskristallnacht“ zum Völkermord, Frankfurt/Main 1988.
  • Herbert A. Strauss/Norbert Kampe (Hrsg.), Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 213), Bonn 1984.

Andere Länder

  • Michael Selzer (Hrsg.): „Kike!“: A documentary history of anti-semitism in America. World Publications, New York City 1972, ISBN 0-529-04471-4
  • Steven A. Carr: Hollywood and anti-semitism: A cultural history up to World War II. University Press, Cambridge 2001, ISBN 0-521-57118-9
  • G. W. Kostyrtschenko (Hrsg.): Gosudarstwennyi antisemitism w SSSR. Ot natschala do kulminatsii 1938-1953. Moskau: Verlag Materik, 2005, 592 Seiten (Dokumentensammlung über staatlichen Antisemitismus in der UdSSR, bisher nur in russischer Sprache)
  • Karl Heinrich Rengsdorf (Hrsg.): Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Darstellung mit Quellen. 2 Bände, DTV (Klett-Cotta) TB Nr. 4478, München 1988, ISBN 3129067205 (Bd. 1), ISBN 3129067302 (Bd. 2)
  • Bruce Pauley: Vom Vorurteil zur Vernichtung. Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Kremayr und Scheriau, 1993, ISBN 3218005671

Begriff

Biografien und Werke von Antisemiten

Überblick

Frühantisemitismus

Kaiserreich und Weimarer Republik

NS-Zeit

Ländersituationen