Poliomyelitis

Infektionskrankheit, überwiegend im Kindesalter, die zu Lähmungen führen kann
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 22. September 2006 um 14:02 Uhr durch Uwe Gille (Diskussion | Beiträge). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
ICD-10-Code Poliomyelitis
A80.0 Akute paralytische Poliomyelitits durch Impfvirus
A80.1 Akute paralytische Poliomyelitis durch importiertes Wildvirus
A80.2 Akute paralytische Poliomyelitis durch einheimisches Wildvirus
A80.3 Sonstige und nicht näher bezeichnete akute paralytische Poliomyeltitis
A80.4 Akute nichtparalytische Poliomyelitis
A80.9 Akute Poliomyelitis nicht näher bezeichnet

Die Poliomyelitis (epidemica anterior acuta) (älteres, gelehrtes Griechisch πολιομυελίτις, neuer πολιομυελίτιδα „die Entzündung des grauen Marks“, von πολιός „der graue“ und μυελός „das Mark“), kurz Polio, deutsch Kinderlähmung oder Heine-Medin-Krankheit, ist eine von Polioviren hervorgerufene Infektionskrankheit, welche bei Ungeimpften die muskelsteuernden Nervenzellen des Rückenmarks befallen und zu bleibenden Lähmungserscheinungen bis hin zum Tod führen kann. Überwiegend sind Kinder im Alter zwischen drei und acht Jahren betroffen. Durch konsequente Impfung konnte Polio in Deutschland vollständig beseitigt werden.

Erreger

 
Polio-Virus im Rasterelektronenmikroskop

Der Erreger dieser Erkrankung ist das Poliovirus. Es handelt sich dabei um ein unbehülltes Virus mit einzelsträngiger plus-RNA (ss(+)RNA) von ca. 25 Nanometer Durchmesser, das zum Genus Enterovirus der Picornaviridae (Pico-RNA-Virus) gehört. Es sind drei Serotypen bekannt: Typ I (Brunhilde) - gilt als am stärksten lähmungsauslösend und neigt zur epidemischen Ausbreitung -, Typ II (Leon) und Typ III (Lansing). Zwischen den drei Erregertypen gibt es keine Kreuzimmunität. Es kommt außer beim Menschen auch beim Affen vor.

Epidemiologie

Der Erreger ist außer in den Polargebieten weltweit anzutreffen. Durch eine konsequente Durchführung von Impfmaßnahmen ist das häufige Auftreten der Erkrankung auf Gebiete in Afrika und Asien zurückgedrängt worden. In Deutschland erfolgte die letzte Ansteckung mit Polio 1992. Diese war die einzige bekannte Ansteckung seit 1963. In den USA gab es im Jahre 1979 in den Bundesstaaten Iowa, Wisconsin, Missouri und Pennsylvania einen Ausbruch ausschließlich unter den strenggläubigen Amish. Ein erneuter Ausbruch wurde im Oktober 2005 ebenfalls nur bei Anhängern dieser Glaubensgemeinschaft in Minnesota gemeldet. In Westeuropa ereignete sich im Jahre 1992 in den Niederlanden die letzte Polio-Epidemie. Hier waren Mitglieder fundamentalistisch-calvinistischer Gemeinden betroffen, welche wie die meisten Amischen ebenfalls Impfungen aus religiösen Gründen ablehnten und noch immer ablehnen.

 
Vorkommen der Kinderlähmung

Weltweit gibt es noch ca. 7.000 Neuerkrankungen pro Jahr, vor allem in Indien, Pakistan, Afghanistan, Nigeria, Niger und Ägypten, aber auch besonders wegen steigender Impfskepsis wieder sporadisch in den Industrienationen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) will in den nächsten Jahrzehnten das Poliovirus, ähnlich wie in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts die Pocken, weltweit ausrotten; der Erreger scheint dazu geeignet, da er sich praktisch nicht verändert und faktisch nur den Menschen als Reservoir hat. Unabdingbar für das Gelingen dieses Vorhabens ist jedoch eine nicht nachlassende Impfbereitschaft weltweit, da das Virus umweltstabil ist (und quasi „ausgehungert“ werden muss, so dass es keinen Wirt mehr findet): Eine möglichst hohe weltweite Immunisierungsrate über Jahre ist dafür zwingend notwendig.

Das Virus wird unter schlechten hygienischen Bedingungen durch stuhlverschmutzte Hände oder Gegenstände übertragen und mit dem Verdaungstrakt aufgenommen (fäkal-orale Schmierinfektion oder Kontaktinfektion). Es kommt aber auch zu Übertragungen durch Tröpfcheninfektion [1]. Die Ansteckungsfähigkeit setzt offensichtlich schon wenige Stunden nach der Infektion ein. Im Rachen (Tröpfcheninfektion) hält sie eine, im Stuhl drei bis sechs Wochen an. Die Inkubationszeit beträgt 7-14 Tage. [1]

Pathogenese

Das Virus gelangt in der Regel durch den Mund in den Körper und vermehrt sich anschließend im Darm. Von dort aus befällt zunächst die lokalen Lymphknoten und verteilt sich nach Vermehrung über die Blutbahn (Virämie). Dabei erreicht es diejenigen Nervenzellen im Vorderhorn des Rückenmarks (α-Motoneurone), die mit ihrer Erregung die Muskulatur steuern. Auch ähnlich funktionierende Zellen des IX. und X. Hirnnerven können betroffen sein. Als Reaktion wandern körpereigene Abwehrzellen (Leukozyten) ins Rückenmark ein, wobei eine Entzündung die Nervenzellen letztlich zerstört. Die Folgen sind mehr oder weniger ausgeprägte, ungleichmäßig verteilte, motorische schlaffe Lähmungen, vorwiegend an den Beinen, unter Erhaltung des Berührungssinnes. Durch den Befall der Zellen der Hirnnerven IX und X kann die Atemfunktion oder das Schlucken beeinträchtigt werden. Besagte Lähmungen können sogar schon innerhalb weniger Stunden nach Befall des Nervensystems auftreten.

Symptome

 
Mädchen mit deformiertem rechten Bein als Folge einer Kinderlähmung.

In bis zu 95 % der Fälle verläuft die Infektion völlig ohne Krankheitszeichen (asymptomatisch). Bei 5-10 % der Angesteckten tritt eine etwa dreitägige Vorerkrankung (Prodromalstadium, minor illness) mit Fieber, Halsschmerzen, Abgeschlagenheit sowie oft auch Durchfall und Erbrechen auf. Nach einer fieber- und beschwerdefreien Latenzzeit von etwa einer Woche schließt sich die major illness an. Diese nichteitrige Hirnhautentzündung (Meningitis) ist durch einen erneuten Fieberanstieg auf 39 °C, Kopfschmerzen und Nackensteifigkeit charakterisiert. Wird das Nervenwasser (Liquor cerebrospinalis) untersucht, findet der Arzt darin eine Erhöhung der Zellzahl und eine geringe Erhöhung der Eiweißkonzentration. Nur 1 % der Infizierten entwickelt während der nächsten ein bis zwei Tagen die klassische paralytische Form. [1] Charakteristisch für den plötzlichen Beginn dieser Phase ist eine „Morgenlähmung“ des noch am Vorabend gesunden Kindes. Die Lähmungen sind schlaff (im Gegensatz zur spastischen Lähmung bei Schädigung der motorischen Hirnrinde), asymmetrisch verteilt, bevorzugen die Muskulatur der Oberschenkel und sind oft mit erheblichen Schmerzen verbunden. Wenn die zugehörigen Segmente des Rückenmarks beteiligt sind, können aber auch die Muskulatur von Rumpf, Zwischenrippenräumen, Harnblase, Mastdarm oder sogar das Zwerchfell betroffen sein. Viel seltener sind die Ursprungsgebiete der Hirnnerven (Hirnnervenkerne) betroffen. Bei dieser bulbären Form kommt es unter hohem Fieber zu Schluckstörungen oder Atem- und Kreislaufregulationsstörungen. Diese ernste Verlaufsform ist mit einer hohen Sterblichkeit belastet. Jede zusätzliche Belastung beispielsweise in Form von körperlicher Anstrengung oder banalen Eingriffen wie beispielsweise Injektionen in einen Muskel oder Mandelentfernung besonders im Anfangsstadium der Erkrankung erhöht das Risiko für später auftretende Lähmungen. [1] Für die Gesamtheit der Erkrankten, bei denen Lähmungen auftreten, liegt die Sterblichkeit (Letalität) bei etwa 2-20%. Normalerweise bilden sich die Symptome innerhalb eines Jahres zurück, jedoch können Lähmungen, Durchblutungs- und Hauternährungsstörungen als Dauerschaden zurückbleiben. Auch Gelenkschäden aufgrund der Lähmungen und der veränderten Statik wie Skoliose der Wirbelsäule und Fußdeformitäten stellen bleibende Beeinträchtigungen dar. Ein gebremstes Längenwachstum einzelner betroffener Extremitäten kann das Kind im Wachstum zum Invaliden machen. Nach Entfieberung ist zunächst kein weiteres Fortschreiten der Lähmungen zu erwarten. Teilweise erst Jahre oder Jahrzehnte nach der Infektion tritt aber noch das Post-Poliomyelitis-Syndrom als Spätfolge auf. Dessen Symptome zeigen sich in extremer Müdigkeit, Muskelschmerzen und Muskelschwund in neuen und früher schon betroffenen Muskeln, Atem- und Schluckbeschwerden. Diese Spätkomplikation scheint eher die Regel als die Ausnahme zu sein. [1]

Diagnostik

Klinisch lenkt der doppelgipfelige Fieberverlauf spätestens beim Auftreten der Lähmungen den Verdacht auf das Vorliegen einer Poliomyelitis. Das Virus kann aus dem Stuhl, aus Rachenspülwasser und aus dem Hirnwasser (Liquor cerbrospinalis) angezüchtet werden. Auch der molekularbiologische Nachweis von Virus-Erbinformation (RNA) mittels der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) ist möglich. Bei fehlendem Erregernachweis können im Serum spezifische Antikörper gegen die Polio-Viren die Diagnose absichern.

Differenzialdiagnose

Während der ersten Krankheitsphase muss die Poliomyelitis gegen alle fieberhaften Infektionen durch andere Erreger abgegrenzt werden. Symptome einer Meningitis, auch mit auftretenden Lähmungen, können auch durch andere Erreger der Gruppe der Enteroviren wie Coxsackie- und Echoviren sowie die Frühsommermeningoenzephalitis verursacht werden. Bei bulbärer Verlaufsform stellt die in unseren Breiten ebenfalls selten gewordene Diphtherie eine wichtige Differenzialdiagnose dar. Das Guillain-Barré-Syndrom ist im Gegensatz zur Poliomyelitis durch symmetrische von den Füßen immer weiter aufsteigende Lähmungen gekennzeichnet. Fieber und Nackensteife als Zeichen einer Hirnhautentzündung fehlen.

Therapie

Da keine ursächliche antivirale Therapie existiert, beschränkt sich die Behandlung auf symptomatischen Maßnahmen. Dazu gehören Bettruhe mit Sicherstellung einer sorgfältigen Pflege, korrekte Lagerung und physikalische Therapie. Die auftretenden Schmerzen könnnen außer durch Schmerzmittel (Analgetika) und entzündungshemmende Mittel (Antiphlogistika) auch mit feuchtwarmen Packungen um die betroffenen Partien gelindert werden. [1] Beim geringsten Verdacht auf das Vorliegen der bedrohlichen bulbären Verlaufsform mit Auftreten von Schluck- oder Atemstörungen muss frühzeitig eine intensivmedizinische Überwachung und Behandlung sichergestellt werden. Zur Nachbehandlung gehört neben einer angemessenen Krankengymnastik auch gegebenenfalls die Versorgung mit orthopädischen Hilfsmitteln (Orthesen). Dadurch kann noch bis zu zwei Jahren nach der akuten Erkrankung eine Verbesserung der Beweglichkeit erreicht werden. [1]

Vorbeugung

Impfung

 
Schluckimpfung gegen Kinderlähmung

Zur Vorbeugung ist eine prophylaktische Impfung möglich und von der STIKO allgemein empfohlen. Im Jahr 1962 (in der DDR bereits ab 1960) wurde zunächst die Poliomyelitis-Schluckimpfung mit abgeschwächten Erregern (Attenuierter Lebendimpfstoff) in Deutschland wie auch in anderen europäischen Ländern eingeführt. Bereits 1965, nur vier Jahre nach Beginn der ersten Impfkampagnen, hatte sich die Zahl der im Bundesgebiet erfassten Erkrankungen auf weniger als 50 Neuerkrankungen reduziert, im Vergleich zu den 4.670 gemeldeten Neuerkrankungen im Jahr 1961 war das ein Rückgang um 99%. Die letzten beiden einheimischen Erkrankungen durch Polio-Wildviren traten in Deutschland in den Jahren 1986 und 1990 auf, die letzten importierten Fälle wurden 1992 erfasst.

Die Impfung mit den abgeschwächten, doch lebens- und vermehrungsfähigen Viren birgt allerdings das Risiko, dass diese mit dem Stuhl der so geimpften Personen wieder ausgeschieden werden. So können sich ungeimpfte Kontaktpersonen über eine Schmierinfektion bzw. Kontaktinfektion anstecken (Impfpoliomyelitis). Auch durch unsachgemäßen und leichtfertigen Umgang mit dem Lebendimpfstoff ist eine Infektion möglich. Da die Poliomyelitis inzwischen aus Europa weitgehend verschwunden ist, wurde dieses Infektionsrisiko als nicht mehr hinnehmbar erachtet. Seit 1998 erfolgen deshalb Impfungen gegen Poliomyelitis mit einem Totimpfstoff, der nicht mehr geschluckt, sondern gespritzt wird. Eine Weitergabe des Erregers ist damit nicht mehr möglich.

Isolierung

Patienten, die an Poliomyelitis erkrankt sind oder bei denen eine Ausscheidung von Poli-Viren vermutet wird, sollten zum Schutz von andern Patienten und Personal isoliert werden. Das Personal sollte bei der Pflege Schutzkittel und Handschuhe tragen. [1]

Geschichte

Datei:Dgk-aegyptische-stele-Polio.jpg
Darstellung eines Poliokranken, Ägypten 18. Dynastie 1403-1365 v. Chr.

Schon im Altertum war die Poliomyelitis bekannt, wie Darstellungen der typisch deformierten gelähmten Gliedmaßen aus dem alten Ägypten belegen. 1840 wurde das Krankheitsbild unter dem Namen Kinderlähmung von Jakob von Heine erstmals als eigenständig abgegrenzt. Andere Autoren bezeichneten sie in der Folge als wesentliche Lähmung oder atrophische Kinderlähmung. Jean Louis Prévost und Edmé Vulpian beschrieben 1865 die pathologisch-anatomischen Veränderungen der Vorderhornzellen. Adolf Kussmaul unterstrich die anatomische Lokalisation der Erkrankung in der grauen Substanz des Rückenmarks und schlug 1874 erstmals den Namen Poliomyelitis vor. In Schweden wurde die Poliomyelitis 1887 erstmals von Karl Oskar Médin als epidemische Krankheit eingestuft. Später wurde die Bezeichnung Heine-Médin-Krankheit eingeführt. 1909 gelang es Karl Landsteiner und Hugo Popper, Affen Poliomyelitis einzuimpfen und sie beschrieben das neurotrope filtrierbare Virus. Ein Jahr später folgte die Entdeckung, dass Serum von Rekonvaleszenten aus großen Poliomyelitis-Epidemien in Skandinavien und den Vereinigten Staaten dieses Virus neutralisieren kann (Neutralisationsreaktion). Es dauerte aber bis 1939, bis von Armstrong die Differenzierung der drei verschiedenen Typen bestätigt wurde. 1952 ermöglichte die Einführung der Viruskultur durch J. F. Enders nicht nur das Ende der Tierversuche sondern schließlich auch die Entwicklung des inaktivierten Impfstoffes durch Jonas Salk 1954 und des abgeschwächten Lebendimpfstoffes durch Albert Sabin 1960.

 
Eiserne Lunge

Auf dem Gebiet der Behandlung führte die Entwicklung von Maßnahmen für eine künstliche Beatmung, zunächst noch in Form der eisernen Lunge, zu einem Abnehmen der gefürchteten Sterblichkeit der Poliomyelitis. Die ebenso häufigen bleibenden Lähmungen lassen sich aber weiterhin therapeutisch kaum beeinflussen, so dass erst die flächendeckende Einführung der Impfung dazu geführt hat, dass die Poliomyelitis beginnt, eine historische Erkrankung zu werden. [2]

Literatur

  • Fabian Feil, Adolf Windorfer, Sabine Diedrich, Eckhard Schreier: Von der Prävention bis zur Ausrottung. WHO-Projekt der Polioeradikation und ihre Überwachung als gesundheitspolitische Herausforderung an die Medizin in Deutschland. Deutsches Ärzteblatt 97(40), S. A2598 - A2599 (2000), ISSN 0012-1207
  • Konrad Beyrer: WHO-Programm zur Polio-Eradikation: Ghana - eine Erfolgsgeschichte. Deutsches Ärzteblatt 100(5), S. A243 - A244 (2000), ISSN 0012-1207
  • Anonymus: Globale Polioeradikation - zwischen Bangen und Zuversicht. Hygiene und Medizin 29(11), S. 400 - 401 (2004), ISSN 0172-3790

Quellen

  1. a b c d e f g h Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie e.V. (DGPI) (Hrsg.): Handbuch Infektionen bei Kindern und Jugendlichen. 4. Aufl. Futuramed, München 2003, ISBN 3-923599-90-0
  2. J.-Ch. Sournia, J. Poulet, M. Martiny (Hrsg.): Illustrierte Geschichte der Medizin. Directmedia Berlin 2004; Digitale Bibliothek Bd. 53
Commons: Poliomyelitis – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien