Der Manchesterliberalismus bzw. das Manchestertum bezeichnet eine politische Strömung, eine Freihandelsbewegung und eine sozialpolitische Bewegung im 19. Jahrhundert, die in Großbritannien, v. a. in der Stadt Manchester (damaliges Zentrum der textilverarbeitenden Industrie) ihren Ausgang nahm. In Manchester wurde auch die Anti-Corn Laws League 1839 gegründet. Das theoretische Fundament der Manchesterliberalen bildeten die Schriften von David Hume, Adam Smith und John Stuart Mill.
Im heutigen Sprachgebrauch wird der Begriff Manchesterkapitalismus meist als Synonym für ein rein auf Markterfordernisse ausgerichtetes Verständnis des Funktionierens wirtschaftlicher und politischer Abläufe verwandt. Der Begriff wird schließlich zur Diskussion heutiger Theorien und Systeme herangezogen, einschließlich der Globalisierung. Hierbei missachten die Kritiker andere Teile des historischen Kontextes, was etwa bei der theoretischen Begriffsbestimmung bzw. der allgemeinen Begriffserklärung zu Schwierigkeiten bzw. Missverständnissen führt.
Die Säulen des Manchesterliberalismus
Freihandel
Der Manchesterliberalismus stand zuallererst für den Freihandel. Die Liberalen um Richard Cobden und John Bright sahen im Protektionismus die Ursache für die Verelendung der Massen und im Freihandel den Schlüssel zu mehr Wohlstand. Der Protektionismus galt bei Freihändlern nicht nur als schädlich für das Ausland, sondern auch für die Wirtschaft im Inland (s. u.: Corn Laws). Außerdem erhofften die Manchesterliberalen vom Freihandel mehr Frieden, denn die zunehmende Abhängigkeit durch die fortgeschrittene Arbeitsteilung zwischen den Völkern sollte es - so die Manchesterliberalen - den Regierungen nahezu unmöglich manchen, ihre Völker gegeneinander aufzuhetzen. Frédéric Bastiat: „Wenn Waren nicht die Grenze passieren dürfen, dann werden es Soldaten tun.“
Aber auch der inländische Protektionismus durch Eingreifen des Staates in das Wirtschaftssystem, z. B. durch Subventionen und Zunftordnung, wurde von den Manchesterliberalen kritisch gesehen. Frédéric Bastiat, der mit seiner satirischen Petition der Kerzenmacher das Problem behandelte, dazu: „Der Staat ist die große Fiktion, nach der sich jedermann bemüht, auf Kosten jedermanns zu leben.“
Antimilitarismus und Antikolonialismus
Die Manchesterliberalen lehnten den damals praktizierten Militarismus ab, weil sie auch darin eine Ausnutzung (z. B. durch Wehrpflicht) der breiten und ärmeren Bevölkerungsschichten durch das Königshaus und den Adel sahen.
Der Kolonialismus wurde genauso abgelehnt, weil er als „teures Hobby“ des Adels angesehen wurde und auch nur mit Militär betrieben werden konnte. Zudem hielten die Manchesterliberalen die Schaffung von Kolonien und die Bevormundung und Ausnutzung der dort lebenden Menschen für Unrecht. Die Manchesterliberalen engagierten sich auch gegen die Sklaverei. Richard Cobden vertrat diese Haltung vor allem während des Sezessionskrieges.
Kosmopolitismus und Demokratie
Die Anhänger des Manchestertums waren durchgängig kosmopolitisch. Sie sahen sich als Weltbürger, die Grenzen, welche freien Reise- und Warenverkehr behinderten, abschaffen wollten, weil sie darin die Ursache für Kriege und Elend sahen. Sie betonten daher den Nutzen des Freihandels für alle Völker.
Die Manchesterliberalen waren Befürworter der Demokratie und Befürworter von freien, geheimen und gleichen Wahlen, obwohl z. B. Cobden skeptisch gegenüber dem allgemeinen Wahlrecht (welches das Zensuswahlrecht ablöste) blieb, denn er befand, dass eine grundlegende Bildung für alle notwendig sei, um an Wahlen teilnehmen zu können. Er sah in den noch sehr ungebildeten Massen leichte Beute für Hassschürer und Besitzstandswahrer (Sozialisten und Konservative), weshalb er und die anderen Manchesterliberalen auch zu den ersten gehörten, die jedem Kind einen staatlich garantierten Schulbesuch ermöglichen wollten. Darin sahen sie die notwendige Herstellung von Chancengleichheit.
Geschichte des Manchesterliberalismus
Die Corn Laws und die Liga
Schon Adam Smith hatte im 18. Jahrhundert davor gewarnt, dass Einfuhrbeschränkungen insbesondere bei Grundgütern wie Getreide bei ärmeren Bürgern zu Unterernährung führen könnten. Dennoch belegte die britische Regierung 1815 die Getreideeinfuhr mit einem hohen Zoll, um den Getreidepreis künstlich hochzuhalten (auch als Antwort auf Napoleons Kontinentalsperre). Die hohen Zölle führten dann tatsächlich zu einer großen Hungersnot; im Winter 1847 beklagte man in England 250.000 Hungertote.
Die Manchesterliberalen um den aus armen Verhältnissen stammenden Unternehmer Richard Cobden und John Bright gründeten 1839 die Anti-Corn Laws League, mit dem Ziel, die Corn Laws abzuschaffen. Die Liga sammelte Unterschriften und verbreitete in der Bevölkerung mit Broschüren und durch Reden ihre Kritik an der als verhängnisvoll angesehenen Wirkung der Corn Laws.
Im Mai 1846 schaffte das Parlament auf Drängen der Manchesterliberalen und mit überwältigender Unterstützung der Bevölkerung die Corn Laws ab; das war der erste große Erfolg der Manchesterliberalen. Dieser Erfolg spaltete nicht nur die Konservativen in Großbritannien, sondern verschaffte dem Freihandel auch mehr Reputation.
Der Cobden-Chevalier-Vertrag von 1860 zwischen Großbritannien und Frankreich
Aufgrund der positiven Erfahrung mit dem Fall der Corn Laws schufen Frankreich und Großbritannien 1860 ein Freihandelsabkommen, das die Abschaffung der meisten Handelshemmnisse (u. a. 371 Zölle auf britischer Seite) beinhaltete. Später schlossen sich auch die Länder Belgien, Italien und die Schweiz, sowie der Deutsche Zollverein an. Bis 1880 währte dieses Abkommen. Danach verfolgte nur noch Großbritannien eine Freihandelspolitik.
Dieses Freihandelsabkommen heißt oft auch nur Cobden-Vertrag.
Das Ende des Manchesterliberalismus in Großbritannien
Manchesterliberalismus in den USA
In den USA hat es diese Form des Liberalismus nie gegeben. Spätestens seit der Wahl von Abraham Lincoln im Jahre 1860 wurde das protektionistische Wahlprogramm der Republikaner, das Schutzzölle und eine staatliche Subventionierung von Infrastrukturprojekten propagierte, umgesetzt.
Manchesterliberalismus in Deutschland
In Deutschland hat der Manchesterliberalismus kaum richtig Fuß fassen können, da der Einfluss des Staates auf das gesellschaftliche Leben wesentlich größer war als in England. Fast das gesamte Bildungswesen wurde vom Staat oder von den Kirchen organisiert, die staatlichen Sparkassen waren die bevorzugten Institutionen des Finanzsektors und zahlreiche Bergwerke und Verkehrswege wurden ebenfalls vom Staat betrieben.
Ab 1840 existierte der vom Deutsch-Briten John Prince-Smith geführte Deutsche Freihandelsverein. Obwohl der Manchesterliberalismus eine Minderheitenposition war, konnten liberale Politiker dennoch Erfolge vorweisen. Otto von Bismarcks Politik der wirtschaftlichen Liberalisierung im Zuge der Einigung Deutschlands traf auf große Zustimmung. Auch eine einheitliche Währung wurde unterstützt und die neue Reichsmark fand in Ludwig Bamberger ihren Vater; Bamberger war sogar zeitweilig Bismarcks Berater. Das endgültige Ende des Einflusses der Manchesterliberalen auf die Politik Bismarcks kam 1879/1880, als Bismarck eine Schutzzollpolitik verfolgte. 1880 kam es auch zum Bruch in der Nationalliberalen Partei. Die deutschen Manchesterliberalen, allen voran Hermann Schulze-Delitzsch, haben sich um das Genossenschaftswesen und Arbeitervereine verdient gemacht.
Konsequenter Liberalismus wurde fortan von den Vertretern der Fortschrittspartei bzw. der Freisinnigen Volkspartei vertreten. Der wichtigste Vertreter des Manchesterliberalismus war Eugen Richter, der sich sehr hart im Reichstag mit Bismarck wie mit den Konservativen und später auch mit den Sozialisten auseinandersetzte.
Einfluss des Manchesterliberalismus in der jüngeren Geschichte und heute
Der Neoliberalismus wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Anknüpfung an alte Freihandelstraditionen begründet. Nach Meinung der Gelehrten war die Abschottungspolitik ab 1880 und auch nach der Weltwirtschaftskrise 1929 (New Deal) eine Begünstigung nationalistischer und sozialistischer Tendenzen, sowie mit ein Grund für die beiden Weltkriege.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Organisationen und Bündnisse wie WTO, IWF, Weltbank, OECD, EFTA, NAFTA, EWG (EU), GATT gegründet bzw. beschlossen, mit dem Ziel, Handelsbeziehungen zu intensivieren und so mehr Wohlstand für mehr Menschen zu schaffen und Gründe für Kriege abzubauen. Zwar führten Freihandelsabkommen wie die NAFTA oder die EU zum Abbau innerer Handelhemmnisse, dafür wurden die Abschottungsbestrebungen nach außen hin größer.
Gegnerschaft zum Manchestertum und Freihandel
Kritik von Friedrich List und seitens anderer politischer Strömungen
Die Kritik am Manchesterliberalismus kommt sowohl von konservativer als auch von nationalistischer und sozialistischer Seite. Die Argumente der Gegner sind teilweise ähnlich.
Friedrich List und sein Erziehungszoll
Der Reutlinger Ökonom Friedrich List war im Prinzip ein Anhänger des Freihandels, hielt aber den Freihandel nur für entwickelte Staaten sinnvoll. Für schlechtentwickelte Nationen befürwortete er einen sogenannten Erziehungszoll. Dieser Zoll sollte der Industrie in einem schlechtentwickelten Land auf die Beine helfen und sie wettbewerbsfähig machen. List sah dabei selbst die negativen Auswirkungen beim kurzfristigen Konsumverzicht und benannte sie.
Die Konservativen
Die Konservativen sahen im Freihandel eine Bedrohung des gesellschaftlichen Gefüges, denn der Freihandel, wie auch der Kapitalismus, stellte die herkömmliche gesellschaftliche Ordnung, z. B. die Stellung des Adels, in Frage.
Darüber hinaus sahen die Konservativen im Freihandel auch die Interessen ihrer Klientel bedroht. So waren es doch die adligen Großgrundbesitzer, die von den Kornzöllen profitiert hatten. Und auch konservative Industrielle profitierten von den Handelbeschränkungen. Die Beschäftigten in den durch Schutzzoll geschützen Branchen (z. B. Landarbeiter) unterstützten im allgemeinen die Forderungen ihrer Arbeitgeber.
Die Sozialisten
Die marxistische Theorie analysierte das gesellschaftliche Verhältnis von Unternehmern (Kapitalisten) und Lohnarbeitern (Proletariern). Nach dieser Analyse bereichert sich der Kapitalist am Mehrwert, der die Differenz zwischen der Arbeitsleistung und dem Arbeitslohn darstellt; der Arbeitslohn werde sich im idealtypischen Kapitalismus auf die zur Reproduktion des Arbeiters (und seiner Familie) nötige Höhe bewegen. Dieses Missverhältnis von Arbeitslohn und Arbeitsleistung wurde von sozialistischen Kritikern als Ausbeutung bezeichnet.
Damit stellte die marxistische Theorie das vom Manchesterliberalismus propagierte Ideal freier Märkte und freier Unternehmertätigkeit in Frage.
Obwohl durch den Fall der Kornzölle und vieler Handelbeschränkungen wohl auch die Arbeiter profitierten, bildete sich eine vom Liberalismus unabhängige Arbeiterbewegung.
Fehlurteile
Heute wird der Begriff Manchesterliberalismus oft mit „Raubtierkapitalismus“ oder mit der Ideologie des reinen Egoismus gleichgesetzt, der die sozialen Belange der Menschen, vor allem der Arbeiter, außer Acht lässt. Diese Vorwürfe kommen von links wie von rechts. Ferdinand Lassalle war einer der bedeutendsten antimanchesterlichen Vertreter und sehr viele Staatsmänner (Disraeli, Bismarck) suchten in der Kanalisierung des Hasses auf den Manchesterliberalismus Vorteile für sich.
Dabei hatten Menschen wie Richard Cobden, John Bright oder Schulze-Delitzsch vor allem eines im Sinn: Die Besserung der Lage der ärmeren Schichten. Es ist falsch, den Manchesterliberalen puren Egoismus vorzuwerfen, schließlich entwarfen sie auch freiheitsverträgliche Lösungen, z. B. das Genossenschaftswesen, für Probleme der ärmeren Schichten. Das, was heute im Allgemeinen für Manchesterliberalismus gehalten wird, hat mit dem tatsächlichen Manchesterliberalismus nicht viel gemeinsam.
Antisemitismus und Manchesterliberalismus
Der Manchesterliberalismus war im Deutschland des 19. Jahrhunderts verhasst. Gegner des Manchestertums machten sich daran, antisemitische Ressentiments zu Nutze zu machen, um Protektionismus politisch durchzusetzen.
Der Feldzug gegen den angeblichen „jüdischen Kapitalismus“ begann 1874/75. Die wirtschaftliche Krise dieser Jahre wurde von antisemitischen Kreisen in Zusammenhang mit dem „jüdischen Kapitalismus“, dem „jüdischen Manchestertum“, gebracht. Solche Thesen wurden von den antiliberalen Kräften bereits seit 1848 vertreten, jedoch wurden derartige Positionen erst mit der wirtschaftlichen Krise salonfähig. Das lag nicht zuletzt an dem zunehmenden Fortschritt und der zunehmenden Industrialisierung, die den Liberalismusgegnern neue Sympathisanten zuführte, z. B. Handwerker, die sich durch eine liberale Wirtschaftsordnung (ohne Zunftwesen, ohne Meisterzwang) bedroht fühlten, oder Händler, die sich vor der Konkurrenz der neu gegründeten Warenhäuser fürchteten.
Bekannte Vertreter
- Großbritannien: Richard Cobden, John Bright, Auberon Herbert, David Roche, Charles Pelham Villiers, Walter Bagehot, Joseph Hume, John Roebuck, Jane Haldimand Marcet, Harriet Martineau, Robert Giffen
- Frankreich: Frédéric Bastiat, Michel Chevalier, Jean-Baptiste Say, Charles Dunoyer, Jean-Gustave Courcelle-Seneuil, Gustave de Molinari, Charles Comte
- Deutschland: John Prince-Smith, Eugen Richter, Hermann Schulze-Delitzsch, Ludwig Bamberger, Karl Braun, Karl Heinrich Rau, Friedrich B.W. Hermann, Theodor Barth, Julius Faucher, Heinrich Bernhard Oppenheim, Alexander Meyer
- Amerika: Henry C. Carey, Francis Amasa Walker, Simon Newcomb, John Bates Clark, Charles Franklin Dunbar, William Graham Sumner, James Laurence Laughlin
- Italien: Francesco Ferrara
Literatur
- Julius Becker: Das Deutsche Manchesterthum, Karlsruhe, 1907
- Carl Brinkmann: Richard Cobden und Manchestertum, Berlin 1924
- Richard Cobden: Speeches on Questions of Public Policy by Richard Cobden, M. P., 2 *Bände, hrsg. v. John Bright, J. E. Thorold Rogers, London 1870
- Detmar Doering: Manchestertum - ein antisemitischer Kampfbegriff; in: liberal, Heft 3, August 2004
- Detmar Doering: Eine Lanze für den Manchesterliberalismus; in: liberal, Heft 3, August 1994
- Nicholas C. Edsall: Richard Cobden, Independent Radical, Cambridge/London, 1986
- Volker Hentschel: Die deutschen Freihändler und der volkswirtschaftliche Kongress 1858 bis 1885, Stuttgart 1975
- Norman McCord: The Anti-Corn Law League 1838-1846, Unwin University Books 1958
Weblinks
Siehe auch
Liberalismus, Wirtschaftsliberalismus, Neoliberalismus, Ordoliberalismus, Antisemitismus, Freihandel, The Economist