Berliner Antisemitismusstreit

öffentliche Debatte über den Einfluss des Judentums im Deutschen Reich (1879–1881)
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Der Berliner Antisemitismusstreit von 1879/1880 war eine öffentliche Debatte im Kaiserreich über den Einfluss des Judentums, damals als Judenfrage bezeichnet. Auslöser war ein Aufsatz des Historikers Heinrich von Treitschke, gegen den verschiedene Politiker und Akademiker Stellung bezogen, darunter sein Kollege Theodor Mommsen.

Der Streit machte das Schlagwort Antisemitismus, das der Journalist Wilhelm Marr im selben Jahr in Umlauf brachte, und die Forderungen des Berliner Hofpredigers Adolf Stöcker nach Begrenzung der Judenemanzipation landesweit publik. Damit wurde Antisemitismus zu einer diskutierbaren Haltung im Bildungsbürgertum und an den Universitäten. Die zeitgleich gestartete Antisemitenpetition, die Juden von allen Staatsämtern ausschließen und jüdische Einwanderung begrenzen wollte, erhielt dadurch Aufmerksamkeit und Zustimmung.

Entwicklung

16. September 1879 Rede des Hofpredigers Stöcker: “Unsere Forderungen an das Judentum.“

Im Jahre 1879 veröffentlichte der ehemals liberale Berliner Geschichtsprofessor Heinrich von Treitschke in den von ihm selbst herausgegebenen Preußischen Jahrbüchern einen rassistischen und antisemitischen Artikel unter dem Titel „Unsere Aussichten“, in dem er die deutschen Juden angriff. Durch ihr Verhalten provozierten sie eine Haltung, durch die der Ruf „... die Juden sind unser Unglück“ ertönen könne. Der Antisemitismus im Kaiserreich wurde so auf einer „wissenschaftlichen“ Ebene in die Öffentlichkeit gerückt.

Im Herbst 1880 veröffentlichte der Berliner Althistoriker und spätere Nobelpreisträger Theodor Mommsen als Antwort auf Treitschkes „Ein Wort über unser Judenthum“ seine Gegenschrift „Auch ein Wort über unser Judenthum“, in dem er Treitschkes Ansichten als diffamierend und unwahr kritisierte und seine Thesen zu widerlegen suchte.

Erklärung der 75 (u.a. Droysen, Mommsen und Wattenbach) . Treitschke wurde an der Berliner Universität isoliert. Selbst alte Studienfreunde wie beispielsweise Levin Goldschmidt, selbst jüdischer Religion, wandten sich von Treitschke ab.

Die öffentliche Diskussion über Antisemitismus erhielt in den späteren Forschung den Namen (Berliner) Antisemitismusstreit.

Begriffe und Forderungen

Adolf Stöcker und auch Treitschke unterschieden zwischen guten Juden und schlechten, zwischen deutschen und nichtdeutschen. Er distanzierte sich vom offenen und pöbelhaften Rassismus eines Wilhelm Marr, aber durch seinen Namen und sein Ansehen trug er einen wesentlichen Anteil zur Hoffähigkeit des Rassismus bei. Mit Treitschke hatte der Antisemitismus die Berliner Universität erobert.

Drei Forderungen von Stöcker, die von Treitschke übernommen wurden

  • ein klein wenig bescheidener
  • ein klein wenig toleranter
  • Bitte etwas mehr Gleichheit

Begriffe, die von Treitschke geprägt wurden

  • „unser Unglück“, Juden als kulturzersetzendes Element
  • „Deutsch redende Orientalen“ ,Unsere Aussichten
  • „natürliche Ungleichheit der Menschen“ ,Der Socialismus und seine Gönner bezogen auf die Gleichheit aller Menschen, die von den Sozialisten gefordert wurde
  • Gegensatz zwischen „dem schwerfälligen und doch so wunderbar tiefen und schöpferischen germanischen Wesen und diesem beweglichem und doch so unfruchtbarem Semitentum“, Das constitutionelle Königthum in Deutschland

Treitschke brachte keinen Beweis für seine Behauptungen, sondern er zog sich auf völkische Phrasen zurück.

  • stürmische deutsche Welt
  • Erwachen des Volksgewissens
  • germanisches Wesen
  • natürliche Reaction des germanischen Volksgefühles
  • nationale Ideologie, die nach einer althergebrachten Tradition für das junge Reich suchte è Germanen

Man versuchte die gerade erst gewonnene und noch sehr labile Einheit künstlich durch Völkerhass und Rassenhass zu stabilisieren. Treitschke sah sich daher nicht als Antisemit an. Seine Schriften waren eher nationalistisch als antisemitisch gedacht. Er fühlte sich missverstanden von seinen Kollegen. Die antisemitischen Parolen des Heinrich von Treitschke klangen eher gemäßigt, aber ihre ganze Tragweite wurde erst sichtbar, als sich professionelle Antisemiten auf Treitschke ebenso wie auf Stöcker, Glagau und Marr beriefen und forderten, woran er nie zu fordern gedacht hätte, so z.B. die industriemäßige Vernichtung der Juden, wie sie im Dritten Reich von den Deutschen vollzogen wurde.

Werke mit antisemitischen Inhalten

  • Wilhelm Marr, Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum - Vom nicht confessionellen Standpunkt betrachtet, Bern 1879
  • Heinrich von Treitschke, Unsere Aussichten, Preußische Jahrbücher, 1879
  • Heinrich von Treitschke, Herr Graetz und sein Judentum, Preußische Jahrbücher, 1879
  • Heinrich von Treitschke, Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage, Preußische Jahrbücher, 1880
  • Wilhelm Endner, Zur Judenfrage, Berlin 1880
  • Heinrich von Treitschke, Zur inneren Lage am Jahresschlusse, Preußische Jahrbücher, 1880

Werke zur Verteidigung der Juden

  • Heinrich Graetz, Erwiderung an Herrn von Treitschke, Schlesische Presse, 1879
  • Heinrich Graetz, Mein letztes Wort an Professor von Treitschke, Schlesische Presse, 1879
  • Theodor Mommsen, Brief an die Redaktion der Nationalzeitung, 1880
  • Theodor Mommsen, Auch ein Wort über unser Judenthum. Berlin 1880
  • Breslau, Cohen, Joell

Literatur

  • Walter Boehlich (Hrsg.): Der Berliner Antisemitismusstreit. Insel-Verl., Frankfurt am Main 1965. Ebda., 1988. ISBN 3-458-32798-3
  • Karsten Krieger (Bearb.): Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879 - 1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition. 2 Teile. Saur, München 2003. ISBN 3-598-11622-5 ISBN 3-598-11688-8