Antijudaismus im Neuen Testament
Ob es Antijudaismus im Neuen Testament gibt, ist eine offene Frage der heutigen historischen Exegese des Neuen Testaments (abgekürzt NT). Unter Antijudaismus wird dabei jene systematische christliche Judenfeindlichkeit verstanden, die die Christentumsgeschichte von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert hinein begleitet hat.
Dabei berief sich die traditionelle kirchliche Exegese oft auf Texte des NT, die eine Ablehnung und „Verwerfung" des gesamten erwählten Gottesvolkes Israel nahezulegen scheinen. Damit rechtfertigten Kirchen, christliche Regierungen und Bevölkerungsmehrheiten häufig Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Minderheiten in der Geschichte Europas. Ein Teil der dadurch zustande gekommenen antijudaistischen Vorurteile und Klischees bereitete den späteren Antisemitismus vor und wirkte mit diesem zusammen bis hin zum Holocaust an den europäischen Juden.
Seit etwa 1900, verstärkt jedoch erst seit 1945 im Kontext des Dialogs zwischen Judentum und Christentum wird die Rolle von NT-Texten bei der Entstehung dieses Antijudaismus kritisch hinterfragt.
Die Frage des Antijudaismus im Neuen Testament
- In der Kompliziertheit seiner Entstehungsgeschichte findet sich wohl auch die Erklärung für die Tatsache, daß die Forschung bisher noch keine eindeutige Antwort geben konnte auf die Frage, ob das Neue Testament antisemitische Stellen enthält und ob diese Stellen, evtl. im Zusammenhang mit anderen antichristlichen Texten gelesen, den Erweis der Existenz eines urchristlichen Antisemitismus erbringen.[1]
Das NT entstand in einer Zeit, als das vom Hellenismus geprägte Bildungsbürgertum des Römischen Reiches bereits eine Antike Judenfeindschaft kannte. Doch im NT findet sich kein klarer Beleg dafür, dass dieser von den Urchristen übernommen wurde.[2] Auch eine Unterscheidung der Begriffe "Antisemitismus" und "Antijudaismus" hat nicht zur Lösung des Problems beigetragen.[3]
Deshalb fragt die heutige NT-Forschung von der Wirkungsgeschichte aus zurück nach den Ursprüngen des Christentums: Enthielt Jesu Auftreten bereits einen Widerspruch zur Existenz Israels als Volk Gottes? War insbesondere seine Hinrichtung am Kreuz durch diesen religiösen Widerspruch mitverursacht? Haben neutestamentliche Aussagen, die Israels Führer des Prophetenmords und der Christenverfolgung anklagen, einen tatsächlichen Grund?[4].
Prophetenmord und Schuldzuweisung im Neuen Testament
In einigen NT-Texten wird dem Volk Israel eine Kollektivschuld am Tod Jesu zugewiesen. Sie ordnen diesen Tod in die innerjüdische Tradition des Prophetenmords ein. Diese war im Tanach als Bußpredigt von Juden an andere Juden bereits seit Jahrhunderten bekannt (z.B. 1Kön 19,10; Jer 2,30; Neh 9,26; Esr 9,11). Auch Jesus selbst stellte die Hinrichtung Johannes des Täufers in diese Tradition.
Die Adressaten solcher Schuldzuweisungen sind das jüdische Volk (1Thess 2,15f), der Sanhedrin (Apg 4,10; 5,30; 7,52) und Jerusalems Einwohner (Apg 2,23.36; 3,13-15; 13,27-29), die zugleich als Zeugen des Unrechts beansprucht werden (Apg 2,36; 4,10). Wo Israels damalige Führungsgruppen als Täter hervorgehoben werden (Lk 23,12; Apg 4,27f), dort wird die Einmütigkeit ihres Todesurteils betont.
Nur einmal, in 1Kor 2,7f, wird die Verantwortung am Tod Jesu den „Herrschern dieser Welt“ angelastet, hinter denen Satan steht; dies kann als Hintergrundfolie für den „Triumph des Kreuzes“ (Kol 2,14f) betrachtet werden.
Nur in 1Thess 2,15f ist der Vorwurf des Prophetenmords mit antijüdischen Stereotypen verbunden, die aus antiken Ächtungstexten bekannt waren und sich auch im Tanach niederschlugen (z.B. Est 3,8ff). Paulus von Tarsus begründet diese mit dem Hindernis, das die Juden seiner Verkündigung entgegenstellen:
- Denn, Brüder, ihr seid Nachahmer der Gemeinden Gottes geworden, die in Judäa sind in Christus Jesus, weil auch ihr dasselbe von den eigenen Landsleuten erlitten habt, wie auch sie von den Juden, die sowohl den Herrn Jesus als auch die Propheten getötet und uns verfolgt haben und Gott nicht gefallen und allen Menschen feindlich sind, indem sie - um ihr Sündenmaß stets voll zu machen - uns wehren, zu den Nationen zu reden, damit die errettet werden; aber der Zorn ist endgültig über sie gekommen.
Das Gleichnis von den Weingärtnern
Das synoptische Gleichnis von den Weingärtnern (Mt 21,33-46; Mk 12,1-12; Lk 20,9-19) stellt Jesu Tod ebenfalls als Prophetenmord dar. Die Beschuldigung wird jedoch mit einem Psalmzitat Jesu als Gottes Vorsehung erklärt (Ps 118,22f):
- Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen.
Israels „Verwerfung" wurde aus den Schlussversen des Gleichnisses gefolgert (Mk 12,8; Lk 20,15):
- Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: 'Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein!' Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg. - Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben.
René Girard (Das Ende der Gewalt, S. 193f) hob hervor, dass in Mt 21,40-41 anders als bei Markus und Lukas nicht Jesus, sondern das Volk antwortet: Er wird jene Übeltäter übel umbringen, und den Weinberg wird er an andere Weingärtner verpachten ... W. Wiefel (a.a.O., S. 373) deutete dies analog zu Davids Antwort an Nathan in 2Sam 12,5-7 als Verlust der Erwählung Israels und deren Übergabe an das neue Gottesvolk. Denn der Weinberg ist schon im Tanach oft Metapher für Gottes Gabe der Erwählung.
Einige Exegeten deuten den Passus im Sinne der Substitutionstheologie als Ankündigung des Gerichts über Israel und des Übergangs der Verheißung an andere analog zu Gerichtsaussagen wie Mt 8,11ff; 12,41f; 19,28). Solche Aussagen seien gegen die ganze jüdische Volksgemeinde gerichtet, nicht nur gegen seine Führer.[5].
Als Nichttheologe hat René Girard das Weinberggleichnis und Psalm 118 auf den "Stein des Anstoßes" in Jes 8,14-15; 28,16-17 und das Motiv des "Ärgernisses" in den Evangelien bezogen. Was eigentlich verworfen werde, sei nur der so oft in den Evangelien und im Alten Testament offenbarte blutige Charakter der opferkultischen Religion. Dem ewigen Hindernis (skandalon) der Idolatrie für das Volk Israel folgt die Verurteilung des Opferkults durch die Propheten und die Offenbarung des Opfermechanismus durch Jesus, der die Rolle des Opfers vor aller Augen übernehme: Der offengelegte Mechanismus werde zum "Ärgernis" (skandalon), weil er nicht mehr funktioniere und nur noch Blutvergießen hervorbringe. In diesem Sinne seien aber die abschließenden Versen des Passus Und wer auf diesen Stein fällt, der wird zerschellen; auf wen aber er fällt, den wird er zermahlen (Mt 21,44; Lk 20,18) nicht als Verwünschung, sondern zusammen mit Mt 11,6; Lk 7,23 zu lesen: ... und selig ist, der nicht Ärgernis nimmt an mir.[6].
Die Selbstverfluchung
In Mt 27,25 folgt der Selbstentlastung des Pilatus von der Schuld am Tod Jesu wie in Mt 21,41 eine Selbstverurteilung der Volksmenge: Und das ganze Volk antwortete und sprach: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder! Auf alle Nachkommen Israels bezogen, wanderte der Satz als festes Stereotyp in die Adversos-Iudaeos-Literatur der Kirchenväter ein. Er prägte die christliche Volksfrömmigkeit und rechtfertigte seit dem 4. Jahrhundert die Ausgrenzung und blutige Verfolgung jüdischer Gemeinden im christianisierten Europa. Die oft im Kontext kirchlicher Passionsspiele ausgelösten Pogrome wurden dann als Erfüllung des "Fluchs" ausgegeben. Damit wurde die Schuld des Christentums am Leiden der Juden auf diese zurückprojiziert.
Heutige Exegeten wenden sich unter dem Eindruck dieser Wirkungsgeschichte dem Text zu. Einige sehen hier die Absicht des Evangelisten, Pilatus und die Hohenpriester und Ältesten als die eigentlichen Schuldigen des Mordsan Jesus anzuklagen, indem er zeigte, wie diese die Verantwortung dem jüdischen Volk aufbürdeten.[7]. Andere betonen, dass der Evangelist mit der todbringenden Verwerfung des Unschuldigen eben dessen Unschuld und nicht die Schuld des Volkes hervorheben wollte. Diese Schuldübernahme solle aber auch die heilgeschichtliche Wende vom alten zum neuen Gottesvolk bezeichnen.[8]. Klaus Haacker zufolge ist die Textstelle im Matthäusevangelium nicht als Selbstverfluchung wegen eines Justizmords zu deuten: Der Satz betone nur die Überzeugung der Menge, dass Jesus den Tod verdient habe. Das Einbeziehen der "Kinder" entspreche der traditionellen biblischen Auffassung, wonach ungesühntes Unrecht Auslöser für Unheil in der Folgegeneration sei (vgl. u.a. 1Kön 22; 2Kön 1 und 9; Est 7,10; 9,6-14).
Die Weherufe gegen Schriftgelehrten und Pharisäer
Die Pharisäer erscheinen in den Evangelien meist als einheitliche Gruppe und Vertreter einer streng orthodoxen Gesetzesobservanz. Sie treten oft zusammen mit den "Schriftgelehrten" als Gegner Jesu auf, die Anstoß an seiner Lehre nehmen. In Streitgesprächen nehmen sie die Rolle der rhetorisch spitzfindigen Frager ein, die Jesus in die Enge treiben wollen, um einen Grund für seine Verurteilung zu finden.
Gleichwohl bewahrte das NT die historische Nähe der Pharisäer zu Jesus und den ersten Christen: Gerade in Jerusalem erscheinen sie als seine Gesprächspartner, die seiner Toraauslegung zustimmten (Mk 12,28-34). Der damals berühmte Schriftlehrer Rabbi Gamaliel trat nach Apg 5,34-39 im Sanhedrin als Fürsprecher der Urchristen auf. Von ihm überliefert der Talmud (Berakot 28a) dieselbe Kritik an der Heuchelei, die die Evangelien Jesus in dem Mund legen: Lasst keine Schülerin und keinen Schüler (Jünger), die innerlich nicht das sind, was sie äußerlich sind, in das Lehrhaus eintreten.
Die umgangssprachliche Gleichsetzung von Pharisäern mit „Heuchlern" geht auf die sogenannten Weherufe gegen die Pharisäer in Mt 23,13-36; Lk 11,38-52 zurück. Sie werden mit der Formel Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, ... eingeleitet und münden in den Vorwurf des Prophetenmords (Mt 23, 29-31):
- ... Denn ihr baut die Gräber der Propheten und schmückt die Grabmäler der Gerechten und sagt: Wären wir in den Tagen unserer Väter gewesen, so würden wir uns nicht an dem Blut der Propheten schuldig gemacht haben. So gebt ihr euch selbst Zeugnis, daß ihr Söhne derer seid, welche die Propheten ermordet haben.
Diese Kritik folgt der Opferkritik der Propheten (z.B. Jes 1,11-16; Jer 6,20; Hos 5,6; 6,6; 9,11-13; Am 5, 21-25.). R. Girard zufolge[9] klagt Jesus keine bestimmte Gruppe des jüdischen Volks an, sondern das religiöse Blutvergießen, das der ganzen Menschheit gemeinsam ist:
- Mt 23,35: ...alles gerechte Blut, das auf der Erde vergossen wurde, ...
- Lk 11, 50: ...das Blut aller Propheten, das von Grundlegung der Welt an vergossen worden ist, ...
Nach Dagmar Henze u.a. (siehe Antijudaismus im Neuen Testament? Grundlagen für die Arbeit mit biblischen Texten) dienten die Pharisäer den Evangelisten hier nur als Hintergrundfolie, um Verhaltensweisen abzuwehren, die sie unter den Christen in den eigenen Gemeinden vorfanden.
Die Juden des Johannesevangeliums
Das Johannesevangelium bezeichnet Jesu Gegner, die ihn als Offenbarer des Willens Gottes ablehnen, oft als „die Juden“. Dies erklärt die historisch-kritische NT-Exegese aus der aktuellen Trennung christlicher Gemeinden Kleinasiens – aus deren Tradition das Johannesevangelium stammt – vom Judentum.
Joh 8, 43ff wurde in der antijudaistischen Exegese oft herangezogen, um eine satanische Abkunft aller Juden zu behaupten:
- Warum versteht ihr meine Sprache nicht? Weil ihr mein Wort nicht hören könnt. Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel, und die Begierden eures Vaters wollt ihr tun. Jener war ein Menschenmörder von Anfang an und stand nicht in der Wahrheit, weil keine Wahrheit in ihm ist. Wenn er die Lüge redet, so redet er aus seinem Eigenen, denn er ist ein Lügner und der Vater derselben. Weil ich aber die Wahrheit sage, glaubt ihr mir nicht.
Der Satz scheint das Judentum als Satansbrut zu verdammen und als teuflischen Gegenspieler Jesu zu fixieren. In der heutigen Exegese wird jedoch betont, dass Jesus hier nur die Mordabsichten seiner Gegner anprangert: Sofern sie den Willen Gottes tun, sind sie Gottes Kinder - andernfalls handeln sie als Werkzeuge des Teufels. Andere Stellen des Johannesevangeliums, z.B. Joh 4, 22, heben Israels Erwählung zum Volk Gottes - gerade auch gegenüber Heiden - ausdrücklich hervor.
René Girard weist auf die Verbindung zwischen Mord, Lüge und Satan in Joh 8,43ff hin: Jesus offenbare hier den Sinn der Mordabsichten seiner Gegner. Die Prophetenmorde und der Mord an Abel (Gen 4) kommen in den synoptischen Evangelien nur als Menschenmord und Ergebnis der Lüge der opferkultischen Gewalt zum Vorschein, wenn man den „Menschenmörder von Anfang an“ mit dem Prinzip der heiligenden Gewalt identifiziere. So lege es jeder Hinweis auf Satan im NT nahe.[10]
Antijudaismus und Neues Testament nach 1945
Angesichts der nachhaltigen Wirkungsgeschichte des christlich motivierten Antijudaismus hat in der christlichen Exegese und Theologie der letzten Jahrzehnte ein tiefgreifendes Umdenken eingesetzt. Jahrhunderte lang eingeübte antijudaistische Vorurteile beim Auslegen des NT werden revidiert. Verstärkt wird darauf geachtet, den ursprünglichen Sinn und Kontext der NT-Aussagen, die antijudaistisch gedeutet wurden, freizulegen und sie gegebenenfalls theologisch zu kritisieren.
Jules Isaac
Das Werk des französischen Historikers Jules Isaac hat das tiefgreifende Umdenken in den christlichen, vor allem den katholischen, Kirchen nach dem 2. Weltkrieg stark beeinflusst. Sein Buch Jésus et Israël, das er während des Kriegs schrieb, löste nach seinem Erscheinen im Jahr 1948 feindselige, aber auch begeisterte Reaktionen aus.
Darin analysierte Isaac die Evangelien und formulierte zusammenfassend 21 Argumente, wonach jeder Widerspruch, jede Ablehnung oder Verurteilung im Verhältnis zwischen Jesus und seinem Volk auszuschliessen sei. In der exegetischen Betrachtung dieses Verhältnisses gehe die fließende, verschwimmende Tradition ohne dogmatischen oder "normativen" Charakter, stets über den Wortlaut des Evangeliums hinaus, interpretiert ihn willkürlich und tendenziös. Sie zerfällt in eine Reihe von Mythen, in denen sich einzelne Wahrheiten mit einer Menge von Unwahrheiten vermischen.[11]. Das als Fortsetzung geschriebene Buch Genesis des Antisemitismus analysiert aufgrund rein historischer Erörterungen die Erscheinungsformen und Auswirkungen des Antisemitismus in der Antike und im Mittelalter, um festzustellen, dass von allen Spielarten des Antisemitismus der christlich motivierte alle anderen hinsichtlich Dauer, Aufbaus des Systems, schädlicher Wirkung, Umfangs und Tiefe weit übertrifft.[12]
Der interreligiöse Dialog
Das eingeleitete Umdenken hat dazu beigetragen, die Voraussetzungen für die Erneuerung des Dialogs zwischen Christen und Juden zu schaffen. Im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland intensivierte sich dieser Dialog seit den Kirchentagen der 1960er Jahre: Während christliche Historiker und Theologen die neutestamentliche Verkündigung stärker aus dem Alten - heute auch genannt: Ersten - Testament erklärten, setzte auch auf jüdischer Seite eine „Heimholung“ des Rabbis (Tora-Lehrers) Jesus von Nazaret ins Judentum ein.
Während auf katholischer Seite das 2. Vatikanische Konzil 1965 eine neue Hinwendung zu Israel und eine Auseinandersetzung mit dem christlichen Schuldanteil am Holocaust begründete, setzte auf evangelischer Seite der Rheinische Synodalbeschluss von 1980 einen Meilenstein für die Revision und Präzisierung kirchlicher Lehraussagen. Diesen Prozess haben inzwischen eine Reihe von evangelischen Landeskirchen in Deutschland nachvollzogen. Kernaussage ist das Bekenntnis zum "ungekündigten Bund": Israel sei und bleibe das erwählte Volk Gottes, das als solches die Wurzel der Kirche sei. Nur auf diesem Grund sei die Botschaft von Jesus Christus Gnade für alle Völker. Die Auswirkungen dieser theologischen Klärung auf sämtliche kirchliche Aufgabenbereiche wie auch den staatlichen Religionsunterricht und den allgemeinen Religionsdialog sind noch nicht absehbar.
Theologische Ansätze
Einige Theologen haben die Frage ins Zentrum gerückt, ob die Ablehnung des Judentums für das NT und die Entstehung des Christentums notwendig und konstitutiv war. In der Holocausttheologie der USA vertritt etwa Rosemary Radford-Ruether die These, Judenfeindschaft sei von Beginn an ein Wesensmerkmal des christlichen Glaubens gewesen. Auch der deutsche Neutestamentler Ulrich Wilckens hält Anti-Judaismus für ein unaufgebbares Implikat der urchristlichen, besonders der paulinischen Lehre. Sein Kollege Peter von der Osten-Sacken plädiert deshalb für einen "theologischen Besitzverzicht": Christen sollten auf die Rede vom „Messias Israels“ verzichten, da diese Grundaussage ihres Glaubens nur als gegen die Existenz des Judentums gerichtet zu verstehen sei.
Die Mehrheit der christlichen Historiker und Theologen widerspricht dieser Ansicht jedoch und hebt hervor, dass gerade der urchristliche Glaube eine fundamentale Bejahung des Judentums beinhalte und fordere. Nur von daher sei eine gründliche Revision der europäischen Kirchengeschichte und eine Erneuerung des Verhältnisses zu Israel möglich. Die Kirchen sind dieser Linie in den letzten Jahrzehnten gefolgt und haben ihr Verhältnis zum Judentum dogmatisch wie ethisch, liturgisch wie praktisch einer gründlichen Prüfung unterzogen.
Der anthropologische Ansatz René Girards
Der katholische Literaturwissenschaftler und Anthropologe René Girard erforscht in vielen seiner Bücher die alt- und neutestamentlichen Texte; besonders jene Aspekte, die von der modernen Exegese entweder kaum betrachtet oder explizit verworfen werden: die Figur des Satans, den kollektiven und einträchtigen Mord, die kollektive Schuld an dem Mord.
Nach Girard hat sich eine traditionelle Lesart der entsprechenden Texte eingebürgert, die dem Antijudaismus ausgeliefert ist, weil sie das eigentliche anthropologische Objekt der biblischen Lehre ausblendet. Natürlich könne man die neutestamentlichen Schuldzuweisungen des Antijudaismus verdächtigen, aber nur solange man sie voneinander getrennt lese und die Offenlegung des Sündenbockmechanismus als Leitfaden aller dieser Texte nicht wahrnehme. Doch dabei handle es sich um einen verhängnisvollen Teufelskreis:
- Wenn die wahre Bedeutung dieser Texte noch immer verkannt wird, so liegt das gerade an der antijüdischen Deutung, die man ihnen unterstellt. ...
- Die Evangelien sind nicht judenfeindlich, doch solange man die Bedeutung des grundlegenden Mordes in den Testen, aus denen sich der christliche Antisemitismus nährt, nicht allgemein anerkannt ist, werden sich viele Christen auch weiterhin genötigt fühlen, zwischen einem antisemitischen Evangelium und dem Evangelium überhaupt zu wählen. Man darf nicht den Evangelien die verengte antijüdische Lektüre vorwerfen, der man sie unterzieht. Die Ankläger der Evangelien halten es für zweifelsfrei, daß die traditionelle Lesart die richtige und einzig mögliche ist. Ihr negativer Konservativismus wäscht die Christen völlig von ihrem eigenen Antisemitismus rein, der wohlgemerkt höchst real ist...[13]
Nur wenn man diese antijudaistische traditionelle Lesart aufgebe - so Girard -, könne man den wahren Sinn des Opfers Jesu wahrnehmen und so die unvermeidbar universelle Tragweite aller biblischen Mordanschuldigungen erkennen. Die biblisch-christliche Offenbarung hätte nicht den Wert, den man ihr zuerkenne, wäre sie gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen gerichtet gewesen.
Referenzen
- ↑ Theo C. de Kruijf, Antisemitismus: III. Im Neuen Testament. In: Theologische Realenzyklopädie, Band III (1978), S. 122f
- ↑ de Kruijf, a.a.O., S. 123
- ↑ J.N. Sevenster, The Roots of Pagan Anti-Semitism in the Ancient World, 1975, zit. a.a.O., 123.
- ↑ de Kruijf, a.a.O., S. 124
- ↑ W. Wiefel, Das Evangelium nach Matthäus, S. 369ff; dort zitiert: G. Bornkamm/G. Barth/H.J. Held, Überlieferung
- ↑ "Livre III" in Des choses cachée depuis la fondation du monde (Buch III fehlt in der dt. Übersetzung Das Ende der Gewalt)
- ↑ de Kruijf, a.a.O., S. 126
- ↑ W. Wiefel, a.a.O, S. 471 und 474. Für die theologische Reflexion über dieses Thema und die Kritik am Begriff der "Selbstverfluchung" siehe die dort angegebene Literatur
- ↑ R. Girard, Die Frage des Antisemitismus in den Evangelien, in: Die verkannte Stimme des Realen, S. 115
- ↑ R. Girard, Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz
- ↑ J. Isaac, Genesis des Antisemitismus, S. 14
- ↑ J. Isaac, a.a.O., S. 16
- ↑ R. Girard, Die verkannte Stimme des Realen, S. 127-128
Siehe auch
Literatur
- Schalom Ben-Chorin: Antijüdische Elemente im Neuen Testament. In: Evangelische Theologie (Zeitschrift) Band 40, 1980, S. 203-214
- René Girard, Das Ende der Gewalt, Herder, Freiburg 1983
- René Girard, Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz, Hanser, München 2002
- René Girard, Die verkannte Stimme des Realen, Hanser, München 2005
- Klaus Haacker: Versöhnung mit Israel. Exegetische Beiträge. Neukirchener Verlag 2002, ISBN 3788718366
- Dagmar Henze, Claudia Janssen, Stefanie Müller, Beate Wehn: Antijudaismus im Neuen Testament? Grundlagen für die Arbeit mit biblischen Texten. Christian Kaiser Verlag, TB 149, Gütersloh 1997, ISBN 3579051490
- Jules Isaac, Genesis des Antisemitismus, Europa Verlag, Wien, 1968
- Rainer Kampling: Neutestamentliche Texte als Bausteine der späteren Adversos-Judaeos-Literatur. In: H. Frohnhofen (Hrsg.): Christlicher Antijudaismus und jüdischer Antipaganismus. Hamburg 1990, S. 121-138
- Rainer Kampling: Im Angesicht Israels. Studien zum historischen und theologischen Verhältnis von Kirche und Israel. Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2002, ISBN 3460004711
- Rosemary Radford Ruether: Brudermord und Nächstenliebe. Die theologischen Wurzeln des Antisemitismus. Christian Kaiser, München 1987, ISBN 3459011319
- Theologische Realenzyklopädie, W. de Gruyter, Berlin-New York, 1976-2005
- Carsten Peter Thiede, Urs Stingelin: Die Wurzeln des Antisemitismus. Judenfeindschaft in der Antike, im frühen Christentum und im Koran. Brunnen-Verlag, Gießen 2002, ISBN 3765512648
- Wolfgang Wiefel, Das Evangelium nach Matthäus (Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament; 1), Evang. Verl.-Anst., Leipzig, 1998