Reserpin

organische Verbindung, Alkaloid, Naturstoff, Arzneistoff
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Strukturformel
Allgemeines
Name Reserpin
Andere Namen Alserin, Eskaserp, Hiserpia, Orticalm, Quiescin, Reserpex, Reserpoid, Rivasin, Sandril, Sedaraupin, Serfin, Serolfia, Serpasil, Sermix, Serpate, Serpen, Serpine, Serpiloid, Methyl-[11,17α-dimethoxy- 18β-(3,4,5-trimethoxybenzoyloxy)- 3β,20α-yohimban-16β-carboxylat]
Summenformel C33H40N2O9
CAS-Nummer 50-55-5
Kurzbeschreibung prismatische, farblose Kristalle
Eigenschaften
Molmasse 608,7 g/mol
Schmelzpunkt 264–265 °C
Löslichkeit gut in Chloroform, weniger in Wasser, Benzol, Essigester, kaum in Aceton, Methanol, Ether
Lipidlöslichkeit LogP = 3,3
Toxizität
LD50 (Ratte) 15 mg/kg (i.v.)

Reserpin ist ein Indolalkaloid einiger Rauwolfiae aus der Familie der Hundsgiftgewächse, das früher in der Psychiatrie als Neuroleptikum bei Schizophrenie eingesetzt wurde, heute jedoch hauptsächlich als Antihypertonikum, also als Arzneistoff in der Bluthochdrucktherapie, angewandt wird. Aufgrund seines Wirkmechanismus, der auf der Beeinflussung der Aktivität des sympathischen Nervensystems beruht, wird es auch als Antisympathotonikum bezeichnet. Doch auch hier hat Reserpin, wie viele Antisympathotonika, einiges an seiner früheren Bedeutung verloren, da zahlreiche Nebenwirkungen es zum Mittel der ferneren Wahl machen.

Herkunft

Reserpin wird aus den Wurzeln von Kletterpflanzen der Unterfamilie Rauwolfioideae gewonnen, primär aus der indischen Rauwolfia serpentina, aber auch aus der mexikanischen Rauwolfia heterophylla und der australischen Bitterrinde („Iodstrauch“; Tabernaemontana orientalis, auch Asternia constricta).[1]

Geschichte

In Indien findet die Wurzel der Rauwolfia serpentina, welche auch Yohimbin enthält, bereits seit Jahrhunderten als Beruhigungsmittel Verwendung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde berichtet, dass eines der über 20 Alkaloide der Pflanze eine blutdrucksenkende Wirkung besäße. Der erste Artikel, der sich mit dem psychiatrischen Einsatz von Reserpin auseinandersetzte, wurde im Jahr 1931 von den Indern Sen und Bose veröffentlicht, welche von guten Behandlungserfolgen bei Geisteskrankheiten mit gewalttätigen und manischen Symptomen zu berichten wussten.[2][3]

Reserpin wurde erstmals 1952 durch Emil Schlittler aus der Rauwolfia serpentina isoliert; ihm gelang kurze Zeit später auch die Aufklärung der chemischen Struktur. Zwei Jahre später wurde es zum ersten Mal klinisch eingesetzt, zwei Jahre nach Chlorpromazin, gegen das es sich als Mittel bei schizophrenen Psychosen nicht durchzusetzen vermochte. 1956 entwickelte Robert Burns Woodward die (konstitutionelle) Totalsynthese von Reserpin, eine stereospezifische Totalsynthese gelang erstmalig 1989 Gilbert Stork.[4][5] In Großbritannien wurde es aufgrund seiner enormen Nebenwirkungen für einige Jahre vom Markt genommen. Ende der 1970er war Reserpin weitläufig durch neue, bessere Wirkstoffe ersetzt.[1][6]

Heute ist Reserpin nur noch in Kombinationspräparaten mit Diuretika im Handel (als Briserin®, Darebon®, Disalpin®, Modmol®, Tri-Thiazid-Reserpin®).[7] Seit einiger Zeit gibt es Versuche, Reserpin-Derivate zu entwickeln, denen eine bessere Verträglichkeit beschieden sein soll als ihrem Vorgänger. Einen Ansatz hierfür, Reserpin-Methonitrat, stellten die Inder Sreemantula, Boini und Nammi 2004 vor.[6]

Pharmakologie

Wirkmechanismus

Reserpin ist ein Antisympathotonikum, dessen Wirkung auf einer Verarmung des Neurotransmitters Noradrenalin im postganglionären Sympathikus beruht. Als Folge dieser Hemmung des Sympathikus kann neben einer Senkung der Herzfrequenz (Bradykardie) auch die gewünschte Senkung des Blutdrucks beobachtet werden. Die antipsychotische Wirkung des Reserpins wird mit einer beobachteten Verringerung der Dopamin- und Serotoninkonzentration im Zentralnervensystem in Verbindung gebracht.

Auf zellulärer Ebene beruht der Wirkmechanismus des Reserpins auf der „Entspeicherung“ biogener Amine wie den Botenstoffen Dopamin, Serotonin und Noradrenalin. Es hemmt die nicht selektiven vesikulären Monoamintransporter in den Membranen der Speichervesikel, wodurch die Botenstoffe nicht mehr in die Vesikel der präsynaptischen sympathischen Nervenendigungen aufgenommen werden können. Außerhalb dieser werden biogene Amine vom Enzym Monoaminoxidase („MAO“) zu Aldehyden, Ammoniak und Wasserstoffperoxid abgebaut, was zur Folge hat, dass die Menge an Noradrenalin, die bei Erregung freigesetzt werden kann, verringert wird. Zu hohe Dosierungen führen zu einer irreversiblen Schädigung der Speicherversikel, welche daraufhin neugebildet werden müssen, was einige Tage bis Wochen dauert.

Pharmakokinetik

Reserpin hat eine Bioverfügbarkeit von 50 %; die Plasmaproteinbindung beträgt 62 %.[8] Die Metabolisierung, also die enzymatische Umwandlung zu polaren und damit besser ausscheidbaren Substanzen, findet im Darm und in der Leber statt. 62 % werden mit dem Kot, 8 % mit dem Urin ausgeschieden.

Da Reserpin nicht nur peripher wirkt, sondern auch in der Lage ist, in das Zentralnervensystem (ZNS) einzudringen, kann es bei der Behandlung mit Reserpin über Beeinträchtigung des zentralnervösen Speichervermögens für biogene Amine zu depressiven Zuständen kommen.

Reserpin-Methonitrat (RMN) überwindet die Blut-Hirn-Schranke aufgrund des quartärnisierten Amins – ein Amin, das mit vier Kohlenstoff-Atomen (C) verbunden ist – erheblich schwerer, was dazu führt, dass deutlich weniger Substanz in das ZNS eintritt, als es bei Reserpin der Fall ist, und zentralnervöse Nebenwirkungen (Parkinson-Symptomatik, Sedierung) stark vermindert werden.[6]

Nebenwirkungen

Wie die der meisten Antisympathotonika kann auch die Reserpingabe eine Reihe schwerwiegender Nebenwirkungen mit sich ziehen, von Schwellung der Nasenschleimhaut (durch seröse Sekretion in diese, sog. „Reserpin-Schnupfen“), Durchfall, Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre, Libido- und Potenzverlust sowie Appetitsteigerung bis hin zu extrapyramidalmotorischen Störungen, Parkinsonismus, Sedierung und Depression.[9] Diese Nebenwirkungen können einerseits auf die Hemmung des Sympathikustonus (z. B. Nasenschleimhautschwellung und Magengeschwüre) und andererseits auf eine Verringerung der Dopamin- und Serotoninkonzentration im synaptischen Spalt zurückgeführt werden (z. B. Parkinsonismus).

Kinder, deren Mütter im letzten Drittel der Schwangerschaft Reserpin genommen haben, leiden später häufiger an Trink- und Atemstörungen. Ebenso kann Reserpin in die Muttermilch übergehen und Menstruationsstörungen hervorrufen.[10]

Mit hohen Dosen an Nagetieren durchgeführte Studien zeigten, dass Reserpin Fibroadenome und bösartige Tumore unter anderem der Samenblasen verursachen kann. Frühere Vermutungen, dass Reserpin bei Frauen Brustkrebs verursache, haben sich dagegen nicht bestätigt.[11]

Fußnoten

  1. a b Giebelmann, von Meyer: Kulturgeschichtliches zu Hundsgiftgewächsen (2003).
  2. Sen, Bose: Rauwolfia serpentina, a new Indian drug for insanity and high blood pressure. In: Indian Med World (1931); 2: Seiten 194–201
  3. Serpasil. Auf: www.epsy.de.
  4. Taber, DF. (2006): "The Stork Synthesis of (-)-Reserpine", Org. Chem. Highlights
  5. Gauchet, J. (1992) (Synthese-Varianten im schematischen Vergleich / Englisch, pdf)
  6. a b c Sreemantula, Boini, Nammi: Reserpine methonitrate, a novel quaternary analogue of reserpine augments urinary excretion of VMA and 5-HIAA without affecting HVA in rats. In: BMC Pharmacology, 16. November 2004.
  7. Lüllmann, Mohr, Wehling: Pharmakologie und Toxikologie (15. Auflage)
  8. DrugBank: APRD00472
  9. Lüllmann, Mohr, Hein: Taschenatlas Pharmakologie (5. Auflage)
  10. Stiftung Warentest: Handbuch Medikamente (6. Auflage)
  11. Reserpine; Artikel der englischsprachigen Wikipedia in der Version vom 25. März 2006.