Ritualmordlegende

Verschwörungstheorie, nach der Juden Christen rituell getötet hätten
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Eine Ritualmord-Legende ist eine Legendenbildung, die unaufgeklärte Todesfälle, meist von Kindern, als Ritualmord deutet und kolportiert. Sie dient zur Verleumdung bestimmter gesellschaftlich abgelehnter und unterdrückter Gruppen. Solche Legenden entstanden schon in der Antike unter Griechen und Römern, um die ihnen fremden Religionen der Juden und Christen abzuwerten. Im vom Christentum beherrschten Europa wurden sie seit dem 12. Jahrhundert zum festen Bestandteil der Verfolgung Andersgläubiger: vor allem von Angehörigen des Judentums, seltener auch bei Ketzer- und Hexenverfolgungen.

Zu den hartnäckigsten Stereotypen des Antijudaismus im Mittelalter gehört die angebliche jüdische Gier nach dem Blut von Christenkindern, das sie für ihre Pessach-Mazzen bräuchten. Dies behaupteten Christen oft vor oder während einer Karwoche als Motiv für angebliche jüdische Ritualmorde. Solche Anklagen lösten oft Lynch- und Justizmorde an den Beschuldigten und Pogrome an ihren Angehörigen und Gemeinden aus. Dabei wirkten eine Jahrhunderte lange kirchliche Indoktrination, Volksfrömmigkeit, Aberglauben, soziale Unzufriedenheit und wirtschaftliche Krisen zusammen.

Die antijüdische Ritualmord-Legende wurde von den Nationalsozialisten zur Vorbereitung und Rechtfertigung des Holocaust verwendet und ist bis zur Gegenwart der wohl konzentrierteste Ausdruck antisemitischer Volksverhetzung.

Vorchristliche Antike

Der Vorwurf gegen Andersgläubige, sie würden in geheimen Riten Menschen ermorden, war schon in der Antike ein probates Mittel zu deren Dämonisierung und Unterdrückung. Im ersten vorchristlichen Jahrhundert behaupteten unabhängig voneinander etwa Ptolemaios Apion, König von Kyrene, und Damokritos, Stratege des Achaischen Bundes, dass die Juden jedes Jahr oder alle sieben Jahre griechische Knaben schlachten würden. Dies war Teil der im hellenistischen Bildungsbürgertum üblichen antiken Judenfeindschaft.

Als das Christentum um 200 im Römischen Reich immer mehr Anhänger gewann, griffen gebildete Römer die christliche Eucharistiefeier als eine Art von Kannibalismus an, bei dem Christen angeblich Kinder ermordeten und ihr Blut tränken. Sie denunzierten sie zudem als Brunnenvergifter und Schadenszauberer, die alles mögliche Unheil verursachten. Diese Polemik gipfelte in lokalen, regionalen und schließlich reichsweiten staatlichen Christenverfolgungen.

Patristik

Die Kirchenväter schufen bereits theologische Anknüpfungspunkte für spezifisch christliche Ritualmordlegenden. Zwar wurden Menschenopfer wie im Judentum abgelehnt und ihr Verbot aus dem Selbstopfer Jesu Christi heraus begründet. Aber dieses wird im orthodox-katholischen Sakramentsverständnis vergegenwärtigt und wiederholt. Das Judentum lehnte den Glauben an die Göttlichkeit Jesu und Heilswirkung seines Todes ab und wurde daraufhin zum Hauptfeind des Christentums erklärt.

Der Tanach, die Hebräische Bibel, verbietet Menschenopfer wiederholt und streng (Ex 13,2.12f; 22,28f; 34,19f; Num 3,1ff; 18,15; Dtn 15,19). Sie gelten in der Tora als Götzendienst, Blasphemie (Lev 18,21), für die Religion der Nachbarvölker typischer „Gräuel" (Dtn 12,31; Jer 7,31; Ez 20,25; 2 Kön 3,27; 16,3 u.a.) und wurden mit Todesstrafe bedroht (Lev 20,2-5). Dies leitete ihre Tabuisierung ein, die die Christianisierung in Europa verbreitete. - Auch Tieropfer reglementiert die Tora streng und verbietet Juden u.a. den Blutgenuss, da im Blut das Leben sei und dieses ausschließlich Gott gehöre (Gen 9,4; Lev 3,17; 7,26f; 17,10-14). Damit wurde ein Hauptgrund für Opfer - das Hingeben und Einverleiben fremder Lebenskraft - entkräftet.

Das Neue Testament begründet dieses Menschenopferverbot mit dem Kreuzestod Jesu Christi, in dem Gottes Versöhnung mit der Welt geschehen sei (Joh 3,16). Das stellvertretende Selbstopfer des Sohnes Gottes habe alle weiteren Opfer überflüssig gemacht (Hebräerbrief).

Nachdem die Kirche in ihrer orthodoxen, später katholischen Form Staatsreligion des Römischen Reiches geworden war, beanspruchte sie auch politisch die Alleingeltung des christlichen Glaubens. Dieser Absolutheitsanspruch wurde durch die kleine, aber allen Bekehrungsversuchen gegenüber resistente Minderheit der Juden in Frage gestellt. Sie war schon vor der Konstantinischen Wende religiös enteignet und auf die Rolle der unterlegenen, zum Aufgehen im Christentum bestimmten „Satanssynagoge" festgelegt worden. Dies wurde aus dem Glaubenszentrum der Christen, der Passionsgeschichte Jesu, begründet.

Dies zeigt etwa der Bildfrevel, den christliche Prediger Juden andichteten, wobei sie das biblische Bilderverbot ignorierten. So schrieb Athanasius von Alexandria (†373) den Juden von Berytos (Beirut) zu, Jesu Marterung und Kreuzigung an einem Christusbild nachzuvollziehen; das Bild habe begonnen, zu bluten und Wunder zu wirken; dies habe die Juden zur Taufe bewegt. Diese Legende wurde später im Mittelalter weit verbreitet und vielfach abgewandelt: etwa in der Weltchronik des Sigebert von Gembloux († 1112), aber auch im evangelischen Bereich z.B. von Hieronymus Rauscher († 1569). Sie lebt als Wallfahrtslegende in Oberried (Breisgau) bis heute fort.

Hochmittelalter

Im Zeitalter der Kreuzzüge tauchte im englischen Norwich 1144 erstmals der Vorwurf auf, Juden hätten zum Pessachfest ein vermisstes christliches Kind - William von Norwich - entführt und gemartert wie Christus am Kreuz. Das Gerücht löste ein lokales Judenpogrom aus. Eine Heiligenlegende von Thomas von Monmouth legte 1173 die Grundzüge der antijudaistischen Ritualmordanklage für jahrhundertelange Nachahmung fest:[1]

Seinerzeit kauften die Juden vor Ostern ein Christenkind und taten ihm all die Martern an, die unser Gott erlitten hat; und zu Karfreitag hängten sie es an ein Kreuz wegen unseres Gottes und dann beerdigten sie es. Sie dachten, es würde nicht entdeckt werden, aber unser Gott offenbarte, daß der Knabe ein heiliger Märtyrer sei, und die Mönche nahmen ihn und bestatteten ihn zeremoniell im Kloster, und Dank unseres Gottes tut er großartige und vielfältige Wunder, und er wird St. William genannt.

Die Anklage war frei erfunden; sie ignorierte das biblische Verbot des Menschenopfers und Blutgenusses für Juden und diente nicht nur zur Rechtfertigung vergangener Judenpogrome, sondern auch dazu, wundergläubige Pilger anzuwerben und so Einkünfte an den Ort der Verehrung zu bringen. Ferner ließen sich mit solchen Schauermärchen Juden allerlei ungelöste Morde, Unglücksfälle oder vermisste Kinder anlasten und soziale Unzufriedenheit kanalisieren.

Seit der Dogmatisierung der Transsubstantiationslehre durch das 4. Laterankonzil im Jahre 1215 konnte sich der Ritualmord-Vorwurf mit dem Vorwurf der Hostienschändung verbinden: Weil sich Wein und Brot bei der Eucharistie in den realen Blut und den Leib Christi verwandeln sollten, schrieb man der Hostie magische Kräfte zu. Ihr Missbrauch konnte im Aberglauben der Bevölkerung - vergleichbar mit Vorgängen des Voodoo-Zaubers - weitreichende Folgen haben.

Beide seit dem 12. Jahrhundert aufkommenden Motive, Ritualmord und Hostienfrevel, unterschieden sich von der antiken Anklage auf kultische Menschenopfer: Denn sie bezogen ihre Motive aus der in der Volksfrömmigkeit tief verankerten Passionsgeschichte Jesu, dem Glaubenszentrum der Christen. Sie gehen letztlich auf die These vom „Gottes-" bzw. „Christusmord" zurück, mit dem sich das Judentum für alle Zeit verflucht habe. Deshalb sei es geradezu seine Natur, das ultimative Verbrechen an christlichen Symbolen oder lebenden Christen ewig zu wiederholen. Die Fluchtheorie war schon im Neuen Testament angelegt (Mt 27,25) und wurde ebenfalls wurde von christlichen Theologen seit dem 2. Jahrhundert ständig neu aufgelegt und verbreitet.

Weitere Ritualmord-Anklagen folgten bald und wurden stets zur Karwoche oder nahe dem Pessachtermin erhoben. Sie behaupteten in vielen Ausschmückungen immer die Folterung eines christlichen Knaben, die das Leiden Christi abbildete, so in:

In Blois fand aufgrund einer gefälschten Ritualmordanklage erstmals ein Prozess gegen 40 Juden statt. Man bot ihnen Straffreiheit an, falls sie sich taufen ließen. Doch sie weigerten sich mit der Begründung, ein Religionsübertritt könne das Unrecht an ihnen nach ihrem Glauben nicht ungeschehen machen. Obwohl die Anklage nicht bewiesen werden konnte, verbrannte man sie auf dem Scheiterhaufen.

Dessen angebliche Marter stellte der Engländer Matthaeus Paris († 1259) in seiner Chronik in grausamen Details analog zur Passion Jesu dar. Auf diese Legende beriefen sich Ankläger in ähnlichen „Fällen", so z.B. der Stadtprediger von Celle, Sigismund Hosemann, noch 1699 in seinem Pamphlet Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz.

Andere Mordanklagen gegen Juden zeigen, wie sich der Vorwurf aus seinem rituellen Kontext (Knabenentführung oder -kauf, passionsähnliche Marter, Blutopfer) löste und verselbständigte. Sie tauchten nach Leichenfunden von christlich getauften Mädchen auf:

Die bildhafte Ausgestaltung der Ritualmordlegende lehnte sich vielfach an volkstümliche Passionsspiele an. Bilder zeigen, wie Juden den kreuzförmig ausgestreckten Leib ihres angeblichen Opfers mit Messern oder Lanzen verletzen oder schächten, ihm Blut entziehen, dieses auffangen usw.; oft auch nach einer vorherigen Beschneidung, so auf dem Herrenberger Altarbild von Jörg Ratgeb (1518). Im 13. Jahrhundert trat - parallel zur Entfaltung einer christlichen Blutmystik - neben die Analogiebildung zum Leiden Jesu jedoch immer öfter die Erklärung, Juden bräuchten Christenblut für ihre Mazzen oder für Zauberei oder zur Heilung von ihnen angeborenen Leiden: so in Fulda 1235, wo der Tod einiger Kinder bei einem Brand örtlichen Juden angelastet wurde, die wiederum ohne Beweise verbrannt wurden.

Auch Werner von Oberwesel sollte 1287 aus solchen Motiven von Juden ermordet worden sein. Die Legende entstand um 1288 und diente als Vorwand für blutige Verfolgungen der Juden im ganzen Rheingebiet. In Bacharach wurden deswegen 26 Juden ermordet. Heinrich Heine erinnerte in seiner fragmentarischen Erzählung Der Rabbi von Bacharach an dieses Ereignis. - Um die Leiche des Jungen entstand ein Kult: Man schrieb ihr besondere Leuchtkraft zu und weigerte sich zunächst, sie zu beerdigen. Um 1370 berichtete eine lateinische Chronik, Juden hätten ihn an den Füßen aufgehängt, um eine Hostie, die er gerade verschlucken wollte, zu erlangen. Daraufhin wurde Werner als Märtyrer mit einem Fest jedes Jahr am 19., später am 18. April verehrt. Dieser Kult wurde im Bistum Trier erst 1963 eingestellt. - Ein weiteres kindliches Mordopfer war Rudolf von Bern, für dessen Tod am 17. April 1294 die Berner Juden verantwortlich gemacht wurden. Auch er wurde später als Märtyrer verehrt.

Im 15. Jahrhundert nahmen Ritualmord-Anklagen enorm zu: 30 „Fälle“ sind allein im deutschen Sprachraum dokumentiert. Sie endeten fast alle mit Pogromen und Hinrichtungen der Angeklagten. War die Anklage einmal erhoben, dann wurden die Begründungen dafür beliebig ausgetauscht, bis das durch Folter erpresste Geständnis das gewünschte Ergebnis „bestätigte“. Ein Verhörprotokoll aus Endingen am Kaiserstuhl (1470) spiegelt die verzweifelte Suche des mit dem christlichen Aberglauben wenig vertrauten Juden Merklin nach der „richtigen“ Antwort, die seine Qual beenden würde: Er und seine Angehörigen bräuchten das Christenblut als heilsame Arznei; dann für die Fallsucht eines seiner Söhne; dann als Odor gegen ihren üblen Körpergeruch; dann als Chrisam (Salböl) für die Beschneidung. - Dieser „Blutaustausch“ „bewies“ aus Sicht seiner Ankläger endlich, dass Merklin sich die Wiederaufnahme seiner Familie in Gottes Bund durch das Blut von Erwählten anzueignen versuchte. Dies galt als todeswürdig, weil Israels Erwählung zum Bundesvolk nach der seit 70 verfestigten Substitutionstheologie durch Jesu Blutopfer beendet und den Christen übergeben worden sei, so dass die Beschneidung ihre Wirksamkeit verloren habe. Deshalb vollzogen die Christen die längst beschlossene Verdammung der Juden dann auf dem Scheiterhaufen.

Wenige Jahre darauf wurde die Geschichte des Simon von Trient in ganz Deutschland und Oberitalien bekannt und besonders folgenreich. In Trient hatten Juden und Christen bislang friedlich zusammengelebt. 1475 jedoch begann der berühmte Prediger Bernhardin von Feltre als neu ernannter Prior des Franziskanerklosters eine Serie von Hetzpredigten gegen die Juden der Stadt. Als am Gründonnerstag (23. Mai) der zwei- bis drei Jahre alte Simon verschwand, gab Feltre öffentlich den Juden die Schuld daran und prophezeite, sie würden noch vor dem bevorstehenden Osterfest ihre Bosheit beweisen. Man durchsuchte alle ihre Häuser. Der jüdische Hofbesitzer Samuel fand am Karsamstag im Bach vor seinem Haus Simons Leiche und meldete den Fund den Behörden. Diese nahmen ihn und weitere Vertreter der jüdischen Gemeinde fest.

Der Tridentiner Bischof Johannes Hinderbach leitete das zwei Jahre dauernde Verfahren; er ließ alle verfügbaren, wie üblich durch Folter erpressten „Geständnisse“ von Ritualmorden im Bodenseegebiet zusammentragen und benutzte sie dann für seine eigenen „Verhöre“. An der exzessiven Folter starben vorzeitig vierzehn der Angeklagten; die übrigen hatten gestanden. Doch ihre widersprüchlichen Aussagen und Druckwerke, die von Hinderbach noch vor Prozessende in Auftrag gab, um die Marter Simons zu illustrieren, veranlassten Papst Sixtus, den Fall neu aufzurollen. Er übergab einem Freund da Feltres den Vorsitz der päpstlichen Untersuchungskommission. Dieser stellte zwar fest, man habe die Juden durch Folter zum Geständnis eines Ritualmords gebracht, behauptete gleichwohl aber die Richtigkeit ihrer Festnahme und der Anklage. Diese wurde ergebnislos fallengelassen. - Parallel dazu wurden „Augenzeugenberichte“ und drastische Holzschnitte über das Leiden Simons in Umlauf gebracht. Simon wurde schließlich heilig gesprochen. Zur Verbreitung seiner Geschichte trug wesentlich die 1493 in Nürnberg gedruckte Chronik Hartmann Schedels, das Liber chronicarum, bei. Ein Standbild in Frankfurt am Main zeigte das gemarterte Kind und die Juden mit dem Teufel, um an „der Juden Schelmstück" zu erinnern. Erst 1965 stellte eine päpstliche Kommission einen „Justizirrtum" fest und hob Simons Heiligsprechung auf.

Nachdem es in Trient zu Pilgerströmen zum Grab des Simon gekommen war, erinnerte man sich auch anderswo an unaufgeklärte Todesfälle von Kindern, um eine einträgliche Heiligenverehrung in Gang zu bringen. So „entdeckte“ man in den Folgejahren weitere angebliche Ritualmorde, u.a. in:

Doch nur einige davon lösten erfolgreich einen Kult aus, so die Legende um Anderl von Rinn. Nach den Erfahrungen von Trient ließ man 1475 seine Leiche ausgraben, um zu „beweisen", dass er am 12. Juli 1462 von ortsfremden Juden zum „Märtyrlein" gemacht worden sei. Sein Leichnam wurde mumifiziert ausgestellt. Doch erst 1620 stellte der aus Trient stammende Arzt Hippolyt Guarinoni exakt 5812 Wunden daran fest: Nun wurde der angebliche Tatort, der Judenstein bei Rinn, zum bedeutenden Wallfahrsort in ganz Tirol, Bayern und Kärnten. Jesuiten führten 1621 erstmals ein „Anderl-Spiel“ in Rinn auf, das in Orten der näheren und weiteren Umgebung nachgeahmt wurde und erheblich zum Aufschwung des Tiroler Volksschauspiels beitrug. Anderl wurde 1754 selig gesprochen; seine Gebeine wurden in der Pfarrkirche ausgestellt, seine angebliche Ermordung wurde in Figuren abgebildet und 200 Jahre lang regelmäßig szenisch aufgeführt. Dieser Kult wurde erst 1954 - gegen erhebliche Widerstände des Landesbischofs und der örtlichen Bevölkerung - eingestellt und 1994 von Bischof Reinhold Stecher offiziell verboten. Doch seine „Schlachtung" ist bis heute auf Decken- und Wandgemälden in der Ortskapelle sichtbar, und die Wallfahrten werden unter Beteiligung von Rechtsextremisten jährlich weiter fortgesetzt.

Frühe Neuzeit

Seit der Reformation trat der antijudaistische Ritualmord-Vorwurf in der kirchlichen Theologie Mitteleuropas zurück und konnte vor Gericht kaum noch durchgesetzt werden. Der Nürnberger Reformator Andreas Osiander hatte um 1540 anonym die erste exegetische und logische Widerlegung des Vorwurfs veröffentlicht: Ob es war und glaublich sey / daß die Juden der Christen Kinder heymlich erwürgen / vnd jr blut gebrauchen. Seine Schrift wurde von eines Ritualmords angeklagten Juden in Sappenfeld bei Eichstätt vor Gericht zitiert.

Dies veranlasste Johannes Eck 1541 zu einer heftigen Gegenschrift, die nochmals alle überlieferten „Beweise“ über den angeblichen religiösen Blutdurst der Juden vorführte. Doch Eck fand nun kaum noch gelehrte Unterstützer; auch katholische Theologen beriefen sich nun auf Papst Innozenz IV., der die Ritualmord-Beschuldigung schon 1247 verworfen hatte. Die Sappenfelder Juden wurden freigesprochen. 1563 fand der letzte Prozess zu einer Ritualmord-Anklage vor dem Reichskammergericht statt. Dort war von einem Bedarf der Juden an Christenblut keine Rede mehr, der Angeklagte wurde freigelassen.

Dagegen blieb der Vorwurf im Volksglauben weiterhin präsent. Besonders in Osteuropa - Litauen, Polen, Russland, Ungarn, Ukraine - kam es vom 16. bis zum 20. Jahrhundert immer wieder zu entsprechenden Anschuldigungen, Prozessen und Pogromen. Aber auch in Westeuropa überdauerte die Legende das Zeitalter der Aufklärung und die Französische Revolution. Sie lebte in ländlichen Gebieten nicht nur mündlich fort, sondern wurde durch allerlei schriftliche und bildliche Überlieferung gestützt und wachgehalten: vor allem in Form lokaler und regionaler Heiligenverehrung vermeintlicher früherer „Märtyrer“.

So waren die Wallfahrten zum Sarg des Werner von Oberwesel in Bacharach zwar 1545 beendet worden und seine Gebeine verschollen; doch bis 1834 zeigten Deckengemälden der Dorfkirche sein „Schicksal". Umgebende Orte ließen solche drastischen Darstellungen regelmäßig restaurieren, so ein Reliefbild und Altartafeln in der Spitalkirche von Oberwesel (1968 entfernt). In Trier wurde Werner 1761 in den örtlichen Heiligenkalender aufgenommen, sein angeblicher Todestag wurde bis 1963 jedes Jahr mit einer Prozession begangen. In Womrath, seinem angeblichen Geburtsort, wurde ihm noch 1911 eine neue Kapelle gewidmet, in der ebenfalls sein Martyrium abgebildet und als „Wernerfest" mit eigens komponierten Liedern jährlich gefeiert wurde. Sogar im Kölner Dom war er in das Chorgestühl eingeschnitzt, zusammen mit einem Judensau-Motiv.

Neuzeit

Auch wo der Versuch, einen Kult zu stiften, weniger nachhaltig gelang - so im Fall des Johanneken von Troisdorf -, bedrohte vielerorts schon das bloße Gerücht eines Ritualmords die dorfansässigen Juden, z.B. in:

Im katholischen Rheinland wurden im 19. Jahrhundert dutzende Ritualmord-Anklagen laut, die am Niederrhein 1819, 1834 und 1891/92 zu Ausschreitungen gegen dort lebende Juden führten. In Dormagen wurde ein Mädchen am 12. Oktober 1819 Opfer einer Sexualstraftat, wie ein ärztliches Gutachten feststellte. Noch bevor die Todesursache bekannt wurde und danach griffen Mengen von Tausenden in Neuss, Grevenbroich, Hülchrath, Emmerich, Binningen (Eifel) und Rheinbrohl Synagogen, Friedhöfe und Häuser von Juden ihres Ortes an. Plünderungen jüdischer Geschäfte blieben aus. Im August und September 1819 hatten in größeren Städten und anderen Regionen die Hep-Hep-Unruhen stattgefunden.

In Neuenhoven, Bedburdyck, Stessen (heute Ortsteile von Jüchen) kam es 1834 nach einem weiteren Sexualverbrechen an einem Jungen (15. Juli) wiederum wochenlang zu schweren Exzessen gegen Juden, diesmal auch mit Plünderungen und Mordversuchen: u.a. in Grevenbroich, Neuss, Düsseldorf, Rommerskirchen, Güsten. Die Krawalle zogen sich bis Aachen und Xanten und konnten nur durch preußisches Militär beendet werden, da die örtliche Gendarmerie vielfach nicht eingriff.

Die Vorfälle wirkten in den Folgejahren nach: 1835 wurde in Willich bei Krefeld eine Kinderleiche gefunden, woraufhin sofort das Gerücht eines jüdischen Ritualmords in Umlauf kam. Ein Handwerkslehrling versuchte, damit einen jüdischen Kaufmann vor Ort zu erpressen: Er behauptete, er habe zwei Juden im Wald bei der Ermordung des Kindes beobachtet, und verlangte „Schweigegeld". Der Erpresser wurde jedoch inhaftiert und dann als der Mörder des Kindes überführt. - 1836 fand man in Düsseldorf eine Kindleiche; wieder wurden die Juden eines Ritualmords beschuldigt. Noch ein Jahr später behaupteten lokale Zeitungsartikel: Die Art der Ermordung ließ keinen Zweifel übrig, daß er von einem Juden hingeschlachtet worden sei, um das sogenannte Christenmarterblut zu gewinnen... - 1840 wurde in Jülich ein altes jüdisches Ehepaar eine Woche lang inhaftiert, weil es einen blutigen Mordversuch an einem neunjährigen Mädchen begangen haben sollte. Dieses fanden die Behörden jedoch bald darauf unverletzt auf; das Blut war bloß aufgetragen worden. Das Mädchen gab schließlich zu, von seiner Mutter und zwei Bekannten zu der Aussage angestiftet worden zu sein. Sobald die Anklage als fingiert entlarvt war, verlor der Fall für die Presse schlagartig seinen Sensationswert, und die anfangs groß aufgemachten Berichte darüber verebbten.

1862 in Köln entstand während der Karwoche eine regelrechte Hysterie in der Bevölkerung. Ein Mann, der sein eigenes Kind an der Hand führte, wurde von einer Menschenmenge als vermeintlicher jüdischer Kindesentführer bedroht und konnte sich nur mit Mühe als der Vater ausweisen. Andere als Kindesmörder verdächtigte Personen wurden schwer misshandelt. Ein katholischer Passant, dem Kinder nachgerufen hatten, er sie „Blutjude", wurde von herbeieilenden Erwachsenen fast totgeprügelt.

In den folgenden Jahrzehnten schien die Bedrohung von Juden im Niederrheingebiet abzunehmen. 1891 jedoch kam nach einem Leichenfund am 29. Juni in Xanten zur "Affäre Buschoff": Albert Buschhoff, der Metzger und Schächter der kleinen jüdischen Gemeinde, wurde eines Ritualmords verdächtigt. Zeugen behaupteten, sie hätten das tote Kind kurz vor der Tatzeit des Mordes vor seinem Haus spielen und dann hinein gehen sehen. Als die Behörden keinen Anlass sahen, Buschhoff festzunehmen, wurden Wohnungen und Läden von ortsansässigen Juden mit Steinen beworfen, einzelne Juden auf offener Straße misshandelt. Buschhoff bat um seine Verhaftung, um sich zu schützen und seine Unschuld zu beweisen. Die Behörden gingen darauf nicht ein, so dass er nach Köln floh. Die jüdische Gemeinde zog nun einen auswärtigen Kriminalbeamten hinzu. Dieser ermittelte, Buschhoff habe den Jungen bewusstlos geschlagen, in seine Scheune getragen und dort wahrscheinlich ermordet. Daraufhin wurde er festgenommen. Die gerichtliche Voruntersuchung ergab keine ausreichenden Indizien für einen Tatverdacht: Er wurde wieder freigelassen. Doch in ganz Deutschland führte die antisemitsche Presse mittlerweile eine Kampagne gegen die Justiz, der sie vorwarf, vom Judentum beeinflusst zu sein - sonst hätte man Buschhoff längst den Prozess gemacht. Diese Sicht teilten auch große christlich-konservative Blätter.

Im April 1892 wurde Buschoff schließlich wegen Mordes angeklagt. 160 Zeugen wurden verhört; ihre Aussagen hatten sich seit den ersten Vernehmungen erheblich verändert, die Vorwürfe waren immer präziser und schärfer geworden. Doch Buschoff konnte ein lückenloses Alibi vorweisen und wurde am 14. Juli freigesprochen. Einen Tag zuvor war sein Haus in Xanten vollständig zerstört worden, seine Existenz war vernichtet und er konnte nicht mehr nach Xanten zurückkehren. - Während des Prozesses und danach kam es nicht in Xantens Umgebung, aber erneut wie 1819 und 1834 in den Kreisen Neuss und Grevenbroich zu schweren judenfeindichen Ausschreitungen. Jüdische Freidhöfe wurden verwüstet, Fensterscheiben eingeworfen, Bäume umgehauen, Gärten zerstört, von Juden bewohnte Häuser angezündet und versucht, die Synagoge von Grevenbroich zu sprengen. Ein Viertel der jüdischen Einwohner von Neuss verließen damals den Ort und zogen in andere Gegenden.

Zeit des Nationalsozialismus

Während des Nationalsozialismus erfuhr die Ritualmordlegende eine Wiederbelebung. Das antisemitische Hetzblatt „Der Stürmer", herausgegeben von Julius Streicher, benutzte sie permanent für seine besonders abstoßenden Karikaturen, um Juden als heimtückische „Blutsauger" darzustellen. „Meldungen“ und „Berichte“ über verschwundene oder tot aufgefundene Kinder wurden stets mit Hinweisen auf das „jüdische Blutritual" verknüpft. Bereits im Juli 1926 erschien aus Anlass eines Doppelmordes in Breslau ein Heft, das sich ausschließlich mit angeblichen Ritualmordfällen befasste.

Am 17. März 1929 fand man bei Manau den Jungen Karl Kessler tot auf: In der folgenden Nummer des Stürmer schrieb der Zahnarzt Otto Hellmuth als „Sonderberichterstatter" einen Leitartikel, der behauptete:[2]

Die Sektion der Leiche ergab, daß der Körper völlig ausgeblutet war. ... Damit ist der Beweis einwandfrei geliefert, daß es sich hier nur um einen jüdischen Blutmord handeln kann.

Der Untersuchungsrichter widersprach öffentlich jedem Detail des frei erfundenen Textes. Doch Hellmuth hielt im ganzen Landkreis gut besuchte Vorträge zum Thema „Blutmord in Manau - Jüdische Moral und Blutmyterien". Daraufhin wurden zahlreiche Juden der Umgebung festgenommen und mussten ein Alibi nachweisen. Am Fundort der Leiche wurde eine Tafel, später ein Gedenkstein mit der Aufschrift „Karl Kessler - Opfer eines Ritualmordes" aufgestellt. Dort hielten örtliche NS-Aktivisten nun jährlich Gedenkfeiern ab. Hellmuth stieg zum Gauleiter von Mainfranken auf und betrieb 1934 und 1937 die „Aufklärung" des Falls, um seine Verdienste für das Gau aus der Zeit vor der Machtergreifung hervorzuheben. Nach einer großen „Gedenkfeier“ am 19. März 1937 verhaftete die Gestapo neun Juden in Würzburg und Erlangen, die gestreute Gerüchte mit dem Tod des Jungen verbanden. Obwohl alle Beschuldigten ein hieb- und stichfestes Alibi vorweisen konnten, wurden sie bis November 1937 inhaftiert.

Im Mai 1939 gab der „Stürmer“ eine „Sondernummer“ zum Thema Ritualmord heraus, die wie die Chroniken des Mittelalters „historische Zeugnisse" vorführte. Ein Aufruf an die Leser, der Redaktion Materialien über ähnliche frühere oder aktuelle Fälle zuzusenden, erzielte jedoch nicht das gewünschte Echo. Neue spektakuläre Anklagen blieben aus, so dass nur die Neuauflage altbekannter Legenden blieb. Umso mehr intensivierte der Stürmer seine Hetzpropaganda mit Kriegsbeginn: Der Krieg wurde als letzter Ritualmord des „Weltjudentums“ und „Geheimplan zur Völkervernichtung“ dargestellt. So war es kein Zufall, dass NS-Pamphlete während des Krieges immer wieder den Zusammenhang betonten, den Adolf Hitler in seiner Januarrede 1939 konstruiert hatte:[3]

...Ritualmorde zu begehen, blieb dem von Natur aus niedrigen, verbrecherischen Instinkt der Juden vorbehalten - Morde, um ihrer Blutgier zu frönen, Morde, um ihren unstillbaren Haß gegen die Gojim zu befriedigen, Morde, um das Gesetz des Glaubens zu befolgen. Was muß das für ein Gott sein, der solche blutigen Opfer von seinen Anhängern verlangt? ... Noch glaubt der Jude, einen letzten Trumpf in der Hand zu haben, da es ihm gelang, den jüdischen Bolschewismus im Verein mit dem nicht minder jüdischen Kapitalismus der Engländer und Amerikaner seinen Interessen dienstbar zu machen. Aber ... der von den Juden entfesselte Krieg wird mit der radikalen Vernichtung des Judentums enden... Ein dunkles Kapitel menschlicher Geschichte, unverständlicher Dummheit und Verblendung geht damit zu Ende, und eine bessere judenfreie Zeit bricht an.

Zu diesem Zeitpunkt war der Holocaust in vollem Gang. Die Ritualmordlegende war aufgrund ihrer historischen Konstanz, Volkstümlichkeit und Verankerung im kollektiven Unbewussten hervorragend zu seiner Rechtfertigung geeignet. Hellmut Schramm gab 1943 eine 475 Seiten starke „historische Untersuchung" dazu heraus, die sich als Summe aller vorangegangenen Hetzschriften präsentierte: Der jüdische Ritualmord. Heinrich Himmler befahl nach der Lektüre dem Chef des Reichssicherheitshauptamts, Ernst Kaltenbrunner, in den von Deutschland besetzten Gebieten Nachforschungen über Ritualmorde anzustellen. Er wollte diese als Radiopropaganda benutzen. Zugleich bestellte er eine Auflage des Buchs und ließ es an die mit Massenerschießungen beauftragten Untergebenen versenden:[4]

Ich übersende Ihnen mehrere 100 Stück, damit Sie diese an Ihre Einsatzkommandos, vor allem aber an die Männer, die mit der Judenfrage zu tun haben, verteilen können.

Ritualmord-Vorwürfe im Bereich des Islam

Seit der Damaskusaffäre 1840, die als erstes Zeichen einer globalisierten Mediengesellschaft gelten kann, wurde der Vorwurf öfter auch im Bereich des Islam laut. Judenfeindliche Agitatoren versuchten ihn nach dem Vorbild christlicher Gruppen zu nutzen, fanden aber in der muslimischen Bevölkerung wenig Glauben, so dass daraus selten Pogrome folgten.

Die Regierungszeitung Saudi-Arabiens, Al Riad, schrieb im März 2002:

Sie [die Juden] werden bezichtigt, nichtjüdische Kinder und nichtjüdische Erwachsene an sich zu locken, sie zu schlachten und ihnen das Blut abzuzapfen. Sie werden bezichtigt, dieses Blut in die Mazzen (ungesäuertes Brot) zu verbacken...Das jüdische Volk ist verpflichtet, für dieses Fest Menschenblut aufzutreiben, damit ihre Geistlichen dieses Gebäck für die Feiertage vorbereiten können.

Quellen

  1. Rohrbacher/Schmidt, Judenbilder S. 18
  2. Rohrbacher/Schmidt, a.a.O. S. 355
  3. Rohrbacher/Schmidt, a.a.O. S. 358
  4. Rohrbacher/Schmidt, a.a.O. S. 359

Literatur

  • Susanna Buttaroni, Stanislaw Musial: Ritualmord. Böhlau Verlag 2002, ISBN 3205770285
  • Johannes T. Groß: Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden im Deutschen Kaiserreich (1871-1914) Berlin: Metropol, 2002. ISBN 3932482840
  • Christoph Nonn: Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2002, ISBN 3525362676
  • Helmut Walser Smith: Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt. Wallstein Verlag, Göttingen 2002, ISBN 3892446121
  • Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Rowohlt, Reinbek 1991, ISBN 3-499-55498-4 (S. 269-291: Ritualmord und Hostienfrevel)

Siehe auch

  1. Sündenbockmechanismus und Mimetische Theorie von René Girard