Der Antijudaismus in der Neuzeit ist jene vom Christentum geprägte Judenfeindlichkeit, die seit dem Entstehen der Kirche im 2. Jahrhundert das ganze Mittelalter durchzog, sich aber seit der Reformation und dem Dreißigjährigen Krieg differenzierte. Er entwickelte sich in den verschiedenen christlichen Konfessionen und Ländern unterschiedlich, bildete aber in Deutschland eine der entscheidenden Voraussetzungen für den säkularen, sozialdarwinistischen und rassistischen Antisemitismus.
Der Artikel setzt die Darstellung des Antijudaismus im Mittelalter voraus und stellt die Haltung zum Judentum in Europa seit dem Westfälischen Frieden von 1648 bis zur Gegenwart anhand ausgewählter Beispiele dar. Dabei greift er für andere Länder auch auf die mittelalterliche Vorgeschichte zurück.
Die Entwicklung in Mitteleuropa
Seit dem 17. Jahrhundert traten vermehrt philosemitische Stimmen auf, die eine generelle Verurteilung des Judentums ablehnten und auf seine Vorzüge hinwiesen: so beispielsweise Hugo Grotius, Simon Episcopius (1583-1643), Pierre Jurieu (1637-1713), Johann Christoph Wagenseil (1633-1705). Dieser verlangte sogar, die jüdische Literatur für die christliche Exegese der Bibel heranzuziehen. Im Pietismus wurde Israel als Gottes ersterwähltes Volk dann weithin anerkannt, jedoch umso mehr versucht, es zu Christus zu bekehren.
Einige aufgeklärte Philosophen und Theologen des 18. Jahrhunderts, beispielsweise Montesquieu und auf jüdischer Seite Moses Mendelssohn haben dann die rechtliche Gleichstellung der Juden verlangt. Diese Entwicklung ging jedoch mit der Abkehr von den biblischen Traditionen einher. Sie verallgemeinerte die Besonderheit von Juden- und Christentum zu einer humanen Idee, Moral und Religiösität.
Pietismus und Judenmission im 17. und 18. Jahrhundert
Kampf um die Judenemanzipation
Katholische Restauration seit der Gegenreformation
Kulturprotestantismus und katholischer Kulturkampf im Kaiserreich
Im Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts wurde es dann zur Regel, den angeblich überlegenen Universalismus und Moralismus der "absoluten" christlichen Religion am unterlegenen, engen, materialistischen, überholten Judentum zu profilieren. Gerade die idealistischen und romantischen Heroen des Geistes erwiesen sich als hilflos und anfällig für das Umsichgreifen des sozialdarwinistisch und rassistisch begründeten Antisemitismus. Dazu kam eine handfeste Politisierung des Christentums in lutherischer Tradition wie bei Adolf Stöcker. Luthers antijüdische Schriften wurden wiederentdeckt und weidlich ausgeschlachtet. Das gab der späteren Propaganda von Nazis wie Julius Streicher, Alfred Rosenberg und dem "Stürmer" genug Munition.
Dabei wurde allerdings Luthers theologischer und zeitgeschichtlicher Kontext stets ignoriert. Viel zu spät begann die evangelische Kirche seit 1945, zeitbedingte Judenfeindlichkeit und genuine Wort-Gottes-Theologie bei Luther auseinanderzuhalten.
Antijudaistische und rassistische Theologie in der Weimarer Republik
Die Novemberrevolution beendete mit der Monarchie die Oberaufsicht des Kaisers über die Kirche ("Summepiskopat") und das "landesherrliche Kirchenregiment", also das Recht der Landesregierungen, die höchsten Kirchenbeamten einzusetzen. Die Weimarer Verfassung gestattete den evangelischen Kirchen erstmals weitgehende Selbstverwaltung nach rein kirchlichen Gesichtspunkten. Das Synodalprinzip stärkte die Laien gegenüber Pastoren und Bischöfen.
1922 gründete sich der "Deutsche Evangelische Kirchenbund (DEK) als gemeinsames Dach bekenntnisgebundener Landeskirchen. Das Konzept einer "Volkskirche", deren Gemeinden auf kommunaler Ebene von der Bevölkerung getragen und für ihre Belange offen sein sollten, konnte sich nun entfalten.
Diese ungewohnte Unabhängigkeit vom Staat verunsicherte viele evangelische Pastoren, die sich in der Kaiserzeit im deutschnationalen Bürgertum heimisch gefühlt hatten. Ein Großteil war von Theologen ausgebildet worden, die den 1. Weltkrieg mittrugen. Die Pfarrer waren häufig in antisemitischen Studentenverbindungen wie dem Verein Deutscher Studenten organisiert. Seit Adolf Stoecker und Paul de Lagarde hatten sich Teile des Luthertums dem rassistischen Antisemitismus geöffnet und diesen als politisches Programm über das Kriegsende hinaus etabliert.
In der Nachkriegsnot erhielten der rückwärtsgewandte Nationalismus und Antisemitismus enormen Auftrieb. Juden wie Hugo Preuß oder Walter Rathenau, die seit der Revolution in Führungspositionen aufsteigen konnten, wurden zur Zielscheibe des Hasses. Neue bürgerliche Parteien wie die DNVP propagierten die Dolchstoßlegende und lasteten alle Krisenphänomene dem "zersetzenden" Einfluss des "internationalen Judentums" an.
Eine Flut von Veröffentlichungen stärkte diese Propaganda. Typisch für den Zeitgeist war Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes: Er stellte das Judentum als grenzen- und heimatloses, nur materiellen Zielen verhaftetes, unter die Völker zerstreutes "Fremdvolk" dar, das wie ein Naturgesetz den Niedergang der "Wirtvölker" und damit Hass und blutige Konflikte erzeugen würde. Das konnte nur als Rechtfertigung rassistischer "Lösungen" der Judenfrage wirken.
Viele Protestanten standen der deutsch-völkischen Bewegung nahe, die die tragenden politischen Kräfte der Weimarer Republik, Sozialdemokratie, Liberalismus und katholisches Zentrum, erbittert bekämpfte. In ihren Augen bedrohten die "Gottlosen" im Verbund mit Katholiken und Juden die Verbindung von Volkstum und evangelischer Religion. Dabei behielt die Mehrheit Vorbehalte gegen den unverblümten Rassismus und wollte das Christentum dem Volkstum überordnen.
Eine Minderheit wandte sich jedoch der nun aufstrebenden "deutschchristlichen Bewegung" zu, die das Alte Testament als "jüdische Religionsurkunde" abwertete und das Christentum "entjuden" wollte, um es mit "germanischer" Verehrung von "Blut und Boden" zu verschmelzen. Von beiden Seiten aus wurden so die Grenzlinien zwischen christlichem Antijudaismus, der den Juden die Tür zur Kirche offenhielt, und rassistischem Antisemitismus, der sie aus dem Volksglauben geistig und politisch "ausmerzen" wollte, immer mehr verwischt.
Antijudaistische und rassistische Theologie im "Dritten Reich"
Siehe auch Antisemitismus bis 1945
Von diesen Strömungen in der Weimarer Republik (siehe oben) und bestimmten Strömungen im Kulturprotestantismus während des Kulturkampfes im Kaiserreich (siehe oben) ausgehend, hatte es der staatliche Antisemitismus als Antijudaismus leicht, in den Kirchen Fuß zu fassen.
Luthers antijüdische Schriften wurden wiederentdeckt und wie schon durch Adolf Stöcker ausgeschlachtet. Das gab der Propaganda von Nazis wie Julius Streicher, Alfred Rosenberg und dem "Stürmer" genug Material.
Aufgrund der angestrebten sog. Arisierung der protestantischen Pfarrerschaft, also der Ausschliessung von christlichen (getauften) Pfarrern jüdischer Abstammung kam es zur Gründung des Pfarrernotbundes, aus der später die "Bekennende Kirche" hervorging. Der Pfarrernotbund organisierte die Weiterbeschäftigung christlicher Pfarrer jüdischer Abstammung. Der sog. Kirchenkampf, der sich an dieser Frage entzündete, fand zwischen der "Bekennende Kirche" und den sog. "Deutschen Christen", die der NSDAP nahe standen, statt. Die "Bekennende Kirche" setzte sich jedoch nie konsequent für nicht-christliche Menschen (jüdischen Glaubens bzw. Atheisten) jüdischer Abstammung ein und war generell eher um Verteidigung der Kirche gegen staatliche Eingriffe als um Systemkritik an den Nazis interessiert. Dietrich Bonhoeffer, der sich dem politischen Widerstand anschloss, ist eine Ausnahme in der deutschen Theologenschaft dieser Zeit. Nur vereinzelt versteckten Christen Menschen jüdischer Abstammung.
- Der nationalsozialistischen Ideologie des Antisemitismus waren die Kirchen aufgrund eigenen jahrhundertelangen antijudaistischen Redens, Denkens und Predigens wehrlos ausgeliefert und haben diese ursächlich mitzuverantworten.
- Gegen den Völkermord am europäischen Judentum, der Shoa, leisteten die christlichen Kirchen keinen Widerstand.
Aufarbeitung dieser Geschichte für die Landeskirche Nordelbien hier: [[1]].
Antijudaistische Theologie nach Ende des "Dritten Reiches"
Auch nach Ende des sog. "Dritten Reiches" blieb und bleibt ein latenter Antijudaismus in der christlichen und vor allem deutschen Theologie bestehen. Ein erstes Signal ist das Fehlen der Erwähnung der Shoa im Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945, was auf eine Verdrängung dieser spezifischen Schuld hindeutet. Erst später gelingt es unter Einflüssen von Theologen wie Karl Barth, Helmut Gollwitzer und Friedrich-Wilhelm Marquardt zu einer Neubestimmung des Verhältnisses Kirche-Judentum (Kirchen und Judentum nach 1945) zu gelangen.
Luthers theologischer und zeitgeschichtlicher Kontext wurde wahrgenommen und die evangelische Kirche seit 1945 beginnt, zeitbedingte Judenfeindlichkeit und genuine Wort-Gottes-Theologie bei Luther auseinanderzuhalten.
Ein Meilenstein war der "Synodalbeschluß zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden" der Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland von 11. Januar 1980 unter dem Leitwort aus dem Römerbrief "Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich" (Römer 11,18b) ([[2]]). Verschiedene Landeskirchen folgen mit ähnlichen Erklärungen und Änderungen der landeskirchlichen Verfassungen (meist der Präambeln). In bewegender Weise hat eine Gruppe jüdischer Gelehrter auf diese Bemühungen der christlichen Seite hin reagiert und DABRU EMET veröffentlicht, zu deutsch: Redet Wahrheit, "Eine jüdische Stellungnahme zu Christen und Christentum" des National Jewish Scholars Project aus dem Juli 2002 ([[3]]).
Insgesamt stehen aber solche Veränderungen der christlichen Theologie noch am Anfang und bestimmte Begriffe, die sich noch heute finden, haben einen antijudaistischen Hintergrund und harren ihrer Ideologiekritik. Zu nennen sind hierbei Begriffe wie "äußerliche Gesetzesfrömmigkeit", "Kasuistik" oder der v.a. lutherische Gegensatz von "Gesetz" (als Tora Grundkonstante des jüdischen Glaubens) und "Evangelium", die Luther zwar beide positiv fasst, die aber dennoch ein Gefälle aufweisen. Hier ist das Judentum weiterhin negative Folie oder wird verzerrt dargestellt.
Siehe vor allem: Kirchen und Judentum nach 1945.
Die Lage der Juden in verschiedenen europäischen Ländern
Polen war seit 1306 ein eigenes Königreich und wurde von Kasimir dem Großen politisch und ökonomisch gefestigt. 1367 erlaubte er Juden die freie Ansiedlung, Gewerbe- und Steuerfreiheit. Dies war damals außergewöhnlich und bewirkte einen Zustrom von jüdischen Einwanderern aus ganz Europa.
Sie blieben hier nicht auf das Geldgeschäft beschränkt und stellten bald in ganz Polen einen Hauptanteil an der Schicht des Kleinbürgertums. Zudem lebten sie meist in eigenen Stadtbezirken, dem "Stedl", und hatten dort ihre eigene Verwaltung, die "Kahale". So standen sich Juden und Polen wie zwei Volksgruppen gegenüber.
Im 16. Jahrhundert machten polnische Adelige Juden häufig zu ihren Gutsverwaltern und Geschäftsführern. Nach der Union mit Litauen (1569) wurden Juden meist Landpächter ukrainischer Bauern und zogen sich als "Ausbeuter", "Fremde" und "Ungetaufte" deren Hass zu. Der Kosakenaufstand von 1649 ging mit Massakern der Bauernheere an etwa 10.000 polnischen Juden und Katholiken einher. Beide fochten in der Schlacht von Beresteczko 1651 Seite an Seite dagegen.
Im 18. Jahrhundert zerfiel Polen als Staat. Das beendete dort die Toleranz gegen andere Religionen und Minderheiten. Es kam zu zahlreichen Ritualmord-Prozessen und Lynchmorden an Juden. Nach einer Beschwerde ihres Vertreters und einer Empfehlung des mit der Untersuchung der Vorwürfe beauftragten Kardinals Ganganelli, des späteren Papstes Clemens XIV., verdammte Papst Benedikt XIV. 1758 die "Blutlüge". Der polnische König August III. bestätigte dies 1763 und setzte damit den Pogromen vorerst ein Ende.
Im Zuge der von der Aufklärung inspirierten Gleichstellung wurde 1764 die jüdische Selbstverwaltung in Polen abgeschafft. Zudem spaltete sich das polnische Judentum in Chassidim ("Fromme") und Mitnaggedim (populäre Mystiker und orthodoxe Talmudisten). Der Haidamakenaufstand 1768 brachte erneute Bauernmassaker an Juden.
Der "Vierjährige Reichstag", der von 1788 an Staats- und Wirtschaftsreformen beschloss, änderte nichts an der Lage der Juden. Das polnische Bürgertum lehnte ihre Gleichstellung ab, wollte sie aber zugleich zur Assimilation zwingen. Selbst progessive Reformer wie Pater Stanislaw Staszic sahen sie als "Heuschreckenplage" und "Schmarotzerhaufen".
Um ihren Patriotismus zu zeigen, nahmen viele Juden 1794 am Aufstand von Tadeusz Kosciuszko gegen die dritte Teilung Polens teil. Ein jüdisches Regiment fiel am 4. November im Kampf für Polens Freiheit und Einheit gegen die russischen Eroberer.
Napoleon gründete 1807 das Herzogtum Warschau. Doch er nahm die im Code Napoleon verankerte Gleichberechtigung der Juden schon 1808 wieder zurück. Dem folgte der Herzog Friedrich August von Sachsen mit einem Dekret, das den Juden die Bürgerrechte für 10 Jahre aberkannte, bis sie sich assimiliert hätten. Juden, die sich im Lebensstil ganz den Christen anpassten, erhielten jedoch zur Antwort:
- Wie können aber die sich zu den mosaischen Gesetzen Bekennenden dieses Land als ihr Vaterland ansehen? Sind sie nicht von dem Wunsche beseelt, in die Heimat ihrer Vorfahren zurückzukehren? Fühlen sie sich nicht als eine Nation für sich? Mit der Änderung der Tracht ist es noch lange nicht getan.
So wurde das Judentum in Polen weniger als Religionsgemeinschaft denn als eigenes Volk betrachtet und ausgegrenzt. Daran knüpfte der polnische Nationalismus und Antisemitismus im 19. Jahrhundert fast nahtlos an.
Österreich seit dem Judenprivileg 1244
Siehe auch
Literatur
- Karl Heinrich Rengstorf, Siegfried von Kortzfleisch (Hrsg.): Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. 2 Teilbände, dtv/Klett-Cotta-Verlag, München 1988, ISBN 3423044780
- Wolfgang Benz: Bilder vom Juden, C.H.Beck Verlag, München 2001, ISBN 3406475752
- Peter Blastenbrei: Johann Christoph Wagenseil und seine Stellung zum Judentum, Harald Fischer, Erlangen, 2004 ISBN 3-89131-409-4
- Michael Ley: Holokaust als Menschenopfer, ISBN 3825864081
- Peter von der Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden, 2002.
- EKD, Christen und Juden I-III, Gütersloher Verlagshaus 2002.