Jahre der Entscheidung. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung ist eine politisch-philosophische Schrift von Oswald Spengler. Sie erschien 1933 bei C. H. Beck in München. Vorarbeiten zu ihr leistete (wie bei Spengler öfters zu beobachten) die Vortragstätigkeit des Philosophen. Mit den Jahren der Entscheidung korrespondiert Spenglers Vortrag Deutschland in Gefahr (3 . Februar 1930, vor der Patriotischen Gesellschaft in Hamburg).
Die Schrift intendiert eine Aufklärung über die Notwendigkeiten deutscher Politik, speziell der Außenpolitik in der Situation der großen Zivilisationskrise. Spengler beschreibt den Kontext der weltpolitischen Lage, wie sie (seiner Meinung nach) wirklich ist. Er beschwört die Gefahren, die sich daraus ergeben. Die Reflexionen akzentuieren indes nicht den tagespolitischen Aspekt. Sie umgreifen vielmehr die krisenhaften Zuspitzungen, die seit dem Ersten Weltkrieg jedermann sichtbar geworden sind. Sie wollen den Weg in die Zukunft, mindestens des kommenden Jahrhunderts, weisen.
Kontext des Nationalsozialismus
Entstehungsgeschichte
Diktat, Niederschrift und Drucklegung fallen im Wesentlichen ins Jahr 1932. Spengler beabsichtigte zu diesem Zeitpunkt noch, das Buch (analog zu seinem Vortrag) Deutschland in Gefahr zu nennen. Die Drucklegung war nach Spenglers Angaben bis zur Seite 106 der Erstauflage gediehen, als die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 die Macht im Deutschen Reich übernahmen. Spengler beließ daraufhin zwar den Text unangetastet, änderte jedoch den Titel, um Missverständnisse zu vermeiden:
„Nicht die nationale Machtergreifung ist eine Gefahr, sondern die Gefahren waren da, zum Teil seit 1918, zum Teil sehr viel länger, und sie bestehen fort, weil sie nicht durch ein Einzelereignis beseitigt werden können, das erst einer jahrelangen und richtigen Fortentwicklung bedarf, um ihnen gegenüber wirksam zu sein.“
Antinazistische Tendenz
Die Umstände der Machtergreifung Hitlers blieben nicht ohne Eindruck auf Spengler, den genauen politischen Beobachter seiner Zeit. Dennoch zeigt sich der Philosoph (für damalige Leser sensationell) reichlich skeptisch und reserviert gegenüber der ‚Bewegung’. Er konzediert der Nazipartei zwar einige Potenziale fernerer Wirksamkeit, meint aber zugleich, die Gefahren seien durch die nationale Revolution keineswegs geringer geworden.
So missfällt Spengler der vordergründige politische Effekt, der mit der Machtübernahme einen neuen Stil des Klamauks in die Politik einschleuste. Darin wittert der Philosoph die verderbliche Haltung des Dilettanten: „Es ist keine Zeit und kein Anlaß zu Rausch und Triumphgefühl. Wehe denen, welche die Mobilmachung mit dem Sieg verwechseln! (…) Ich sehe mit Bedenken, daß sie täglich mit so viel Lärm gefeiert wird.“
Spengler hält darüber hinaus die Großsprecherei und die Pose des Herrenmenschen für unangebracht. „Richtige Gedanken werden von Fanatikern bis zur Selbstaufhebung übersteigert. Was als Anfang Großes versprach, endet in Tragödie oder Komödie.“ Unverblümt zeiht Spengler die braune Bewegung der fanatischen, daher politisch gefährlichen Haltung.
Spenglers perspektivischem Blick über die Jahrhunderte der Weltgeschichte behagt zudem das Befangensein der Nazis in ihren Augenblicks-Vorstellungen nicht. Er diagnostiziert einen Mangel an Nüchternheit, die doch das Gebot der politischen Stunde sei: „Die Gefahr der Begeisterten ist es, die Lage zu einfach zu sehen. Begeisterung verträgt sich nicht mit Zielen, die über Generationen hinaus liegen. Mit solchen beginnen aber erst die wirklichen Entscheidungen der Geschichte.“
Spenglers Wendung gegen den Nationalsozialismus wird allerdings durch seine unverhohlene Sympathie für Mussolini getrübt. Diesen hält Spengler, anders als Hitler, für einen großen Tatsachenmenschen, der es verstehe, die faschistische Bewegung – so schreibt Spengler allen Ernstes – zu zähmen.
Zurückweisung der Rassenideologie
Spengler erwähnt im Hauptteil seiner Schrift das Dritte Reich mitsamt seinem ‚Führer’ überhaupt nicht. Er impliziert allerdings immer wieder deutliche Kritik. Sie zielt vor allem auf den Rassismus der Nationalsozialisten.
Spengler wehrt sich gegen den biologistischen Rassenbegriff und gegen den auf ihm fußenden Antisemitismus. Die Jahre der Entscheidung enthalten folgende Klarstellung: Der Begriff ‚Rasse’ sei „nicht in dem Sinne gemeint, wie er heute unter Antisemiten in Europa und Amerika Mode ist, darwinistisch, materialistisch nämlich. Rassereinheit ist ein groteskes Wort angesichts der Tatsache, daß seit Jahrtausenden alle Stämme und Arten sich gemischt haben (…) Wer zuviel von Rasse spricht, der hat keine mehr. Es kommt nicht auf die reine, sondern auf die starke Rasse an, die ein Volk in sich hat.“
Diese Sätze enthalten nichts Geringeres als eine Zurückweisung des biologistischen Rassenwahns. Überdies sprechen sie den Nazis implizit ihre ‚Rasse’ ab; denn nur sie können mit denen gemeint sein, ‚die zu viel über Rasse sprechen’.
Weltanschauliche Grundlagen
Spenglers weltanschauliches Fundament entspricht im Wesentlichen den Vorgaben seines Hauptwerkes Der Untergang des Abendlandes (1918/1922) und Der Mensch und die Technik (1931). Allerdings erfährt es eine Zuspitzung, die wohl der kontinulierlichen Verschärfung der abendländischen Zivilisationskrise geschuldet ist.
Lebensphilosophie
Die Ablehnung nationalsozialistischen Rassendenkens besagt nicht, dass für Spengler ‚die Rasse’ kein Element der weltgeschichtlichen Zusammenhänge sei. Spengler versteht ‚Rasse’ als Lebensimpuls einer Menschengemeinschaft, der sich (in Kindern oder in Eingegliederten) durch die Geschichte fortpflanzt. Geschichtsmächtig ist die starke Rasse, weil in ihr der „Wille des Stärkeren, die gesunden Instinkte, die Rasse, der Wille zu Besitz und Macht“ überwiegen.
Spengler plädiert, mit seinem Vorbild Friedrich Nietzsche, für einen Pessimismus der Stärke, der sich von dem der Feigen und Müden absetzt. Das Leben ist beständiger Krieg, wenn auch nicht immer in den Formen der physischen Gewalt: „Der Mensch ist ein Raubtier“, und „der Kampf ist die Urtatsache des Lebens, ist das Leben selbst“. Die Verwandtschaft solcher Gedanken mit denen des traditionellen Sozialdarwinismus des 19. Jahrhunderts ist nicht zu leugnen.
Im Besonderen hält Spengler die Überwindung des Rationalismus für unerlässlich, vor allem in seinen Aspekten der Philanthropie. Darin eingeschlossen ist die – nach Spengler – Unmöglichkeit der Völkerverständigung.
Zyklische Kulturentwicklung
Spenglers morphologisch fundierte Geschichtsphilosophie (hierzu bes. Art. Oswald Spengler) geht vom notwendigen Zerfall aller Hochkulturen aus. Diesen Niedergang verzeichnet der Philosoph für das Abendland gerade eben jetzt, im 20. Jahrhundert. Er entspricht der Zeit der Spätantike, vom Zweiten Punischen Krieg (218-202 v. Chr.) an.
Europa tritt ins Zeitalter der Weltkriege ein, mit dem die Entwicklung seiner Kultur unwiderruflich schließen wird. Das 20., vielleicht auch noch das 21. Jahrhundert wird, so Spenglers düstere Prognose, unausdenkliche Katastrophen mit sich bringen, was die rein kriegerische Seite der Ereignisse angeht. Spengler spricht allerdings nicht mit Schaudern von diesen trüben Aussichten, sondern eher mit dem Stolz dessen, der „es als Glück (empfindet), dabei zu sein“. Das Schicksal hat es so gewollt und dem Menschen aufgegeben, es zu vollziehen – oder am Leben zu verzweifeln.
Übergang zur Zivilisation
Die Unterscheidung von Kultur und Zivilisation bedeutet bei Spengler, dass jede Kultur nach etwa 1000 Jahren in ihren greisenhaften Endzustand, die ‚Zivilisation’ übergeht. Im Zuge dieses Überganges zerfällt die Bindekraft der Kultur, und das alte Barbarentum der Vorzeit wacht wieder auf. Die große Zivilisationskrise (auch Zeit der kämpfenden Staaten genannt) bringt jedes Mal den Aufstand primitiver Machtwillen gegen den Materialismus des Geldes und Geistes. Am Ende aber triumphiert der Cäsarismus über die zerschlagenen Formen der einstmaligen Hochkultur.
Wie sich das Schicksal des Abendlandes erfüllen wird, steht darum nicht in allen Einzelheiten fest. Spengler glaubt, trotz aller Verfallserscheinungen bestehe noch die Hoffnung der Aktivierung besagten Ur-Impulses, vor allem in den derzeit verschütteten Wikingerseelen der Bevölkerung Westeuropas.
Der politische Horizont
Spengler bemängelt an seinen Zeitgenossen einen tief greifenden Mangel an Einsicht in die wirkliche politische Lage. Deutschland krankt im Besonderen an einem höchst provinziellen Erbe. Mit dem Horizont der Eliten in den anderen westeuropäischen Staaten steht es kaum besser. Spengler spricht, drastisch genug, von der umfassenden „Belanglosigkeit der leitenden Staatsmänner“, einer schweren Hypothek für die künftige Weltpolitik.
Globalanalyse
Demgegenüber versucht Spengler seinerseits eine Skizzierung der Weltlage (etwa 1930). Diese Lage steht im Zeichen umfassender Bedrohungen der abendländischen Völker und insbesondere Deutschlands. Die Bedrohungen gehen, so Spengler, von den Randgebieten des Abendlandes aus. Europa hat aufgehört, politisch-militärischer Weltmittelpunkt zu sein.
Russland beginnt sich von der westlichen, der petrinischen Pseudomorphose zu befreien und ist innerlich-seelisch ‚von Asien’ zurückerobert worden. Asien reicht mittlerweile wieder bis an die Weichsel. Damit gerät Deutschland in die Rolle eines kulturellen Grenzlandes gegen den Osten hin.
Die Vereinigten Staaten von Amerika stellen auf der anderen Seite des Globus eine aufstrebende Macht dar. Spengler verhält sich etwas zurückhaltend in der Beurteilung, was deren Zukunftsperspektiven anbelangt. Für heutige Leser eher befremdlich, arbeitet Spengler die Parallelen zwischen dem kapitalistischen Amerika und dem bolschewistischen Russland heraus (Schutz durch natürliche Grenzen, Weite des Raumes, Unangreifbarkeit).
Überdies wächst die Bedrohung durch die Heraufkunft eines neuen Selbstbewusstseins bei den „Farbigen (Dritte Welt), die nicht länger die Vorherrschaft der Weißen ertragen wollen“.
Vorgeschichte der Krise
Die europäische Pentarchie des 19. Jahrhunderts trug in sich bereits den Keim der Selbstzerfleischung der faustischen Völker Westeuropas. Im Prinzip hätte der Erste Weltkrieg schon 1878 beginnen können. Eine überlegene Diplomatie (vor allem Otto von Bismarcks) hat ihn verhindert, dafür aber auf die Zukunft verschoben und in seiner Wucht nur noch verstärkt.
Der Erste Weltkrieg selbst kannte, so Spengler, keinen eindeutigen Sieger. Er brachte nicht wirklich eine Entscheidung in der Grundfrage der Vorherrschaft. Allein Frankreich gibt sich, so Spengler, dieser Illusion hin. Hier zeigt sich, dass Spenglers antifranzösische Ressentiments, die seit der Schrift Preußentum und Sozialismus (1919) virulent waren, auch in den frühen 1930er Jahren kaum etwas von ihrer Schärfe eingebüßt haben.
Prognosen
Spengler sagt vor diesem Hintergrund die kommenden Kämpfe um die Weltherrschaft voraus. Dazu gehört die Einsicht ins aufstrebende Ostasien, vor allem Japans.
Dagegen bescheinigt Spengler Frankreich und England eine innere Schwäche. England steigt zurzeit von seinem Rang als Weltmacht ab: „Jenseits von Singapur ist die einstige Stellung Englands schon aufgegeben, und wenn Indien verloren geht, hat auch die Stellung in Ägypten und im Mittelmeer keinen eigentlichen Sinn mehr.“ (Spengler nimmt hier in der Tat den Gang der späteren Entkolonialisierung vorweg.) Und Frankreichs Hauptstadt ist „im Begriff (…), eine historische Sehenswürdigkeit zu werden wie Wien und Florenz, und Athen in der Römerzeit.“ Das Erbe der einstmaligen ‚grande nation’ fällt im Gebiet des Mittelmeers und Nordafrikas vermutlich der Beutelust Mussolinis anheim. (In diesem Punkt irrte Spengler.)
Spengler schreibt jedoch auch, verblüffend hellsichtig: „Wir stehen vielleicht schon dicht vor dem zweiten Weltkrieg mit unbekannter Verteilung der Mächte und nicht vorauszusehenden – militärischen, wirtschaftlichen, revolutionären – Mitteln und Zielen.“
Die weiße Weltrevolution
Russischer Bolschewismus
Die Panikstimmung, die in Europa im frühen 20. Jahrhundert herrschte, entzündete sich vor allem an der Furcht vor der Revolution. Der Sieg der Sowjets gab dieser Stimmung zusätzliche Nahrung. Spengler legt folglich sein Augenmerk auf die Verhältnisse im Osten. Denn dort verortet er das Gebiet, in dem „die Welteroberer wachsen“.
Spengler hält das Bolschewistenregime in Moskau für eine primitive Form der Despotie – nicht wegen des marxistischen Westimportes, sondern aufgrund der Tradition der asiatischen Steppe, die bis zu Dschingis Khan zurückreicht. Die Machthaber im Kreml sind für Spengler Ausgeburten „einer herrschenden Horde – kommunistische Partei genannt – mit Häuptlingen und einem allmächtigen Khan und einer etwa hundertmal so zahlreichen unterworfenen, wehrlosen Masse. Von echtem Marxismus ist da sehr wenig, außer in Namen und Programmen.“
Spengler unterscheidet den westlichen von einem asiatischen ‚Bolschewismus’. Letzterer hat nichts mit irgendwelchen Ideologien (schon gar nicht mit dem marxistischen Sozialismus) zu tun. Er erwächst aus einem tief in der Wildheit der russischen Ebenen verwurzelten Gefühl des Vor-Zivilisatorischen.
Spengler hält demnach die Kommunistenherrschaft in Moskau für Blendwerk der Geschichte. In Wahrheit würde sich kaum etwas ändern, wenn Russland eines Tages das kommunistische Prinzip fallen ließe. Allenfalls die Namen: Die „Verwaltungszweige der Wirtschaftsorganisationen würden Konzerne heißen, die Kommissionen Aufsichtsräte, die Kommunisten selbst Aktienbesitzer. Im übrigen ist die westlich-kapitalistische Form längst vorhanden.“
Inzwischen hat Russland den von Spengler vorhergesagten Kurs tatsächlich eingeschlagen.
Nihilismus
Spengler interpretiert das revolutionäre Geschehen jedoch, anders als die Mehrheit seiner Zeitgenossen, nicht als ‚von Moskau ausgehend’. Er datiert die abendländische Weltrevolution weit zurück, er sieht sie schon im 19. Jahrhundert am Werk. Spengler untersucht die Umsturzbewegung, für sein Denken bezeichnend, in einem Seitenblick auf die analogen Prozesse der Antike, vor allem der Zeit der Gracchen bis zu Sulla.
Spengler deutet die Revolution zudem nicht unter Aspekten von Wirtschafts- oder Sozialfragen, sondern im Lichte der Vorstellung des Primates der Kultur. Revolution ist darin ein Symptom des Kulturzerfalls. Sie geht aus dem Übergang zur Zivilisation, zur weltstädtischen Intelligenz und zum Rationalismus der Spätzeiten hervor. Jede lebendige Kultur ist hierarchisch aufgebaut, Revolution aber verneint diese Lebenswirklichkeit und fördert die Einebnung der Gesellschaft – nicht zu den Gleichen und Gleichberechtigten, sondern zur formlosen Masse.
Spengler greift hierbei auf Nietzsches Verurteilung der Revolution zurück. „Der Bau der Gesellschaft“ solle mit ihrer Hilfe „eingeebnet werden bis herab auf das Niveau des Pöbels.“ Die demokratischen Bestrebungen des 19. Jahrhunderts sind Spengler zufolge bereits Bolschewismus gewesen. „Das Ideal des Klassenkampfes ist der berühmte Umsturz: nicht der Aufbau von etwas Neuem, sondern die Zerstörung von Vorhandenem. Es ist ein Ziel ohne Zukunft. Es ist der Wille zum Nichts.“
Instrumentalisierung des Sozialen
Spengler hält die ‚soziale Frage’ für künstlich aufgebauscht. Sie dient als Propagandamittel, um die Arbeiter zu ‚Proletariern’ zu erklären. Fatal ist, dass diese Interpretation gar noch vom Bürgertum akzeptiert wird. So vollendet sich nach Spengler die fälschende Ideologie im Dienst der Zersetzung. Die gesamte politische Boheme Westeuropas beteiligt sich am Zerstörungswerk. Selbst die Kirchen und der christliche Glaube tragen daran eine Mitschuld.
Sozialismus ist für Spengler nichts als der Kapitalismus der Unterklasse: ein bloßer Perspektivenwechsel unter sonst gleichen ‚ausbeuterischen’ Vorzeichen. Nur dass unter dem Druck der Diktatur des Proletariats eben allen anderen Gesellschaftsschichten (die bäuerlichen und bürgerlichen) Ausgebeutete sind.
Diktatur der Arbeiterparteien
Im frühen 20. Jahrhundert besitzen die Arbeiterparteien und Gewerkschaften für Spengler die faktische Macht. Sie führen das selbstpostulierte ‚Proletariat’ in Streiks und Straßenkämpfe. In den Parlamenten setzen sie ihren Willen durch.
Kennzeichnend für diese ‚Politik’ der Zersetzung sind vor allem eine maßlose Überschätzung der niederen Arbeit, brutale Eingriffe ins Wirtschaftsleben und horrende Lohnerhöhungen bzw. Arbeitszeitverkürzungen. Zu zahlen haben, so Spengler, die Zeche die Gesellschaft, das Bauerntum, die einfachen Handwerker und insgesamt die Vitalität des Staates.
Wirtschaftskatastrophe
Spengler sieht die Weltwirtschaftskrise (seit 1929) als direkte Folge der weißen Weltrevolution an. Die Krise ist sogar ein taktischer Erfolg, vor allem für die Propagandisten des Umsturzes.
Das Ergebnis der Katastrophe der Weltwirtschaft rechnet Spengler in Zahlen vor. Danach ist die jährliche Mehrbelastung durch Erhöhung von Löhnen, Steuern und sozialen Abgaben einfach nicht zu verkraften. (Was Spengler damit beschreibt, deutet allerdings auf nichts Anderes als den Beginn des modernen Sozial- und Wohlfahrtsstaates.)
Die Katastrophe vollzieht sich auch durch die Abwanderung der Industriepotenziale in, so würden wir heute sagen, die Billiglohnländer. Die Luxuslöhne Westeuropas vertreiben die Arbeitsplätze: „Die mitleidlose Logik der Geschichte nimmt ihre Rache an den Rächern – dem gemeinen Denken, den Neidischen, den Träumern, den Schwärmern, die für die großen und kalten Tatsachen der Wirklichkeit blind gewesen sind. Dreißig Millionen weiße Arbeiter sind heute ohne Arbeit, trotz der großen Kriegsverluste, und abgesehen von weiteren Millionen, die nur teilweise beschäftigt sind.“
Am fernsten steht für Spengler diesem weißen Bolschewismus ausgerechnet – Russland.
Die farbige Weltrevolution
Zu dieser rein abendländischen (wiewohl den Globus tangierenden) weißen Revolution gesellt sich für Spengler die zweite, die ‚farbige’ Weltrevolution. Die Bedrohung von innen wächst durch die zusätzliche Schwächung des Abendlandes nach außen.
Die ‚Farbigen’
Spengler vermag es allerdings für heutige Bedürfnisse nur sehr unzureichend, definitorische Klarheit darüber herzustellen, wen er mit den ‚Farbigen’ eigentlich meint. Seine Aufzählung stiftet eher Verwirrung:
- die Afrikaner, die Indianer, nebst allen Negern und Mischlingen in Amerika,
- die islamischen Völker,
- China, Indien bis nach Java,
- Japan und Russland.
Zudem gesellen sich für Spengler manchmal auch noch Südspanier und Süditaliener zu den Farbigen. Sehr einsichtig ist dies nicht (mal ist die Hautfarbe ausschlaggebend, mal offenbar nicht).
Neues Selbstbewusstsein
Die Kriege der faustischen Völker untereinander zeitigten unter den Farbigen eine höchst ermutigende Wirkung: Ihre Volksmassen waren zum Teil in die Kämpfe involviert und konnten besichtigen, dass sie den weißen Herren keineswegs hoffnungslos unterlegen waren: „sie begannen die Weißen zu verachten wie einst Jugurtha das mächtige Rom.“
Das bedenkliche Anzeichen ist, dass sich die Weißen der natürlichen Überlegenheit begeben haben und dies nicht einmal bemerken. „Die weißen Herrenvölker sind von ihrem einstigen Rang herabgestiegen. Sie verhandeln heute, wo sie gestern befahlen, und werden morgen schmeicheln müssen, um verhandeln zu dürfen. Sie haben das Bewußtsein der Selbstverständlichkeit ihrer Macht verloren“.
Wirtschaftskrieg
Die Speersitze der farbigen Revolution, Russland und Japan, führt niedrige Löhne und politisch-soziale Propaganda als Mittel des Rasssenkampfes gegen den Westen. Diese Taktiken drohen die Zerstörung der abendländischen Zivilisation zu vollenden.
Die farbige Gesamtrevolution kleidet sich in sehr verschiedene Tendenzen. Zuweilen wird der antiwestliche Kampf unter nationalen, mal unter wirtschaftlichen oder sozialen Vorzeichen geführt. Hier richtet er sich gegen Kolonial-Regierungen (wie in Indien), dort gegen weiße Oberschichten (Südamerika), oder allgemein gegen die Insignien der faustischen Macht, das britische Pfund oder den amerikanischen Dollar.
Demographischer Niedergang
Spengler registriert mit höchster Unruhe die elementare Fruchtbarkeit der Farbigen. Sie überflügelt längst den Geburtenstand im Westen. Der Bevölkerungsschwund ist im Abendland metaphysisch bedingt, ein Absinken der Kräfte der Kultur, die sich ganz konkret in der Kinderlosigkeit ihrer Angehörigen manifestiert.
Westliche Dekadenz drückt den Kinderwunsch auf ein unerträgliches Maß herab. Der Verfall der weißen Familie ist in vollem Gange. Damit verspielt das Abendland seine Zukunft. Noch beängstigender ist für Spengler die rassische Aufrüstung ehemals faustischer Völker wie Frankreich durch Millionen Schwarzafrikaner.
Spengler scheut sich nicht, für den Geburtenüberschuss der Farbigen auch die abendländische Medizin mitverantwortlich zu machen (denn eben diese verhindert eine natürliche Dezimierung der Farbigen durch Unglück, Krankheit oder Krieg). Überdies bemängelt Spengler an den Errungenschaften der modernen Humanität, sie habe nur die Anzahl der Geisteskranken und sonstiger defizienter Lebensformen ins Absurde hinein gedeihen lassen.
So wenig Spengler vom Nationalsozialismus hielt: In diesem Punkt stand er dessen inhumanem Biologismus durchaus nicht fern.
Verbindung der Revolutionen
Die Gefahr der Gefahren sieht Spengler für das Abendland darin, dass sich die innere weiße mit der äußeren farbigen Weltrevolution verbünden könnte. Hierfür sieht er bereits deutliche Anzeichen. Beunruhigt stellt der Philosoph fest: „In Rußland sind 1917 beide Revolutionen, die weiße und die farbige, zugleich ausgebrochen.“
Klassenkampf und Rassenkampf
Klassen- und Rassenkampf kennen gemeinsame Ziele: Alle Maßnahmen zur Destruktion der faustischen Kultur sind den Revolutionären auf beiden Seiten willkommen. Von daher erwartet Spengler, dass sich die Agitatoren der weißen und farbigen Revolution gegenseitig unterstützen werden.
„Wenn in den Vereinigten Staaten das weiße Proletariat losbricht, wird der Neger zur Stelle sein und hinter ihm werden Indianer und Japaner auf ihre Stunde warten. Das schwarze Frankreich würde in solchem Falle ebensowenig zögern, die Pariser Szenen von 1792 und 1871 zu übertreffen. Und würden die weißen Führer des Klassenkampfes je verlegen sein, wenn farbige Unruhen ihnen den Weg öffneten? Sie sind in ihren Mitteln nie wählerisch gewesen.“
Appell an den Selbstbehauptungswillen
Spengler hofft dennoch: nicht so sehr auf den Fortbestand des Abendlandes, denn dieser ist schon durch die Unausweichlichkeit des Kulturzerfalls ausgeschlossen. Vielmehr sinnt Spengler auf die Verzögerung des physischen Unterganges und auf die Stabilisierung in einem Imperium, wie es die Römer in der Antike (gegen den Widerstand der anderen antiken Völker und der fremdrassischen Germanen) eine Zeitlang durchsetzen konnten.
Spenglers Hoffnung richtet sich, wie schon im Untergang des Abendlandes, neuerlich auf die Deutschen. Deutschland muss seiner Meinung nach die große Politik erlernen und das ‚Endreich’, das germanisch-deutsche Imperium errichten: „Gerade in der germanischen Rasse, der willensstärksten, die es je gegeben hat, schlafen noch große Möglichkeiten.“
Rezeption
Spenglers Buch wurde ein ungeheurer Erfolg. Es erreichte binnen weniger Monate Rekorde an Verkaufszahlen. Der Affront gegen die mittlerweile regierenden Nationalsozialisten, den der Philosoph (sicher nicht mehr ganz ohne Gefahr für sein Leben) unternahm, dürfte dazu beigetragen haben.
Die Nazis legten daraufhin eine Kampagne gegen Spengler auf. Johann von Leers Spenglers weltpolitisches System und der Nationalsozialismus verurteilte Spenglers Schrift als gegen die neue Bewegung gerichtet: In ihr erlebe das erwachte Deutschland den „ersten ganz großen ideologischen Angriff auf die nationalsozialistische Weltanschauung“.
Spenglers Jahre der Entscheidung wirkte zudem als Richtungsweiser für die antinazistischen Anhänger der Konservativen Revolution. Auch manch späterer konservativer Widerstand gegen Hitler speiste sich aus Spenglers Ideengut.
Bewertung
Spenglers Schrift ist für heutige Leser nur unter Schwierigkeiten rezipierbar. Ihre strikt antidemokratische, antiliberale, zuweilen auch antihumane Tendenz wirkt gleichermaßen antiquiert wie (aus begreiflichen Gründen) der Faschismus-Nähe verdächtig.
In den 1950er Jahren machte das Vordringen der bolschewistischen Revolution bis nach Ost- und Mitteldeutschland den Westen des Landes tatsächlich, wie Spengler schrieb, zum Grenzland gegen den Osten: Dies empfanden die Westmächte ganz ähnlich. Waren sie während der Zeit des Dritten Reiches noch von der Idee ge- und verleitet, Hitler gewähren zu lassen, weil der ‚Führer’ ihnen als Bollwerk gegen den Kommunismus nützlich erschien, setzte nach 1945 der Kampf unter der Maxime ‚Europa oder Asien’ ein, ganz auf der Linie Spenglers. Dieser Komplex gegenüber dem (angeblich) wilden, barbarischen Osten, der tief in der Vorstellungswelt des europäischen Westens verwurzelt war, macht verständlich, weshalb der Bolschewismus in der frühen Bundesrepublik Deutschland als ‚asiatisch’ empfunden worden ist, wie etwa durch Konrad Adenauer.
Gleichwohl thematisiert Spengler durchaus aktuelle Fragestellungen. Sie integrieren sich heute in die Debatten um die Globalisierung (im Grunde beschreibt Spengler, wenngleich angstvoll, genau dieses Phänomen). Probleme der Selbstbehauptung gegenüber den Ländern mit niedrigen Sozialstandards sind jedermann geläufig. Die Gefahr der Konkurrenz durch Verlagerung von Arbeitsplätzen gehört sogar zu den Modethemen unserer Zeit.
Im Übrigen schreibt uns Spengler ins Stammbuch, welche Folgen die Abdankung der Eigenverantwortung und die Hingabe an die Staatsgläubigkeit mit sich bringen: „Die entartende Wirkung dieses Freiseins von der großen Sorge, wie man sie an Kindern sehr reicher Familien beobachtet, hat die gesamte Arbeiterschaft gerade in Deutschland ergriffen: sobald sich irgendeine Not zeigt, ruft man den Staat, die Partei, die Gesellschaft, jedenfalls ‚die anderen’ zu Hilfe. Man hat es verlernt, selbst Entschlüsse zu fassen und unter dem Druck wirklicher Sorgen zu leben.“
Ausgaben
- München: C. H. Beck, 1933
- München: C. H. Beck, 1953
- München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1961
- München: Deutscher Taschenbuch-Verlag, 1980 (Vorwort von Heinz Friedrich)
Siehe auch
Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Nationalsozialismus, Rassismus, Konservative Revolution, Bolschewismus, Sozialismus, Faustische Kultur
Literatur
- Anton Mirko Koktanek: Oswald Spengler in seiner Zeit, München: C. H. Beck, 1968