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Novemberpogrome 1938

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Mit den Novemberpogromen 1938 steigerte das national-sozialistische Regime die mit dem Judenboykott und den Nürnberger Gesetzen begonnene Ausgrenzung der in Deutschland lebenden Juden zu systematischer Verfolgung, die ihre Enteignung, Vertreibung und spätere Vernichtung zum Ziel hatte.

Unterschiedliche Bezeichnungen

Wie man die Ereignisse angemessen bezeichnen soll, ist umstritten. Die BezeichnungReichskristallnacht” lässt zeitbedingt widersprüchliche Mitbedeutungen anklingen, hat sich eben deswegen bald durchgesetzt und war jahrzehntelang gebräuchlich, auch in der deutschen und ausländischen Wissenschaft (siehe Literatur). Die zur richtigen Deutung unentbehrliche Kenntnis der verwickelten Zusammenhänge ist heute aber nicht mehr selbstverständlich. Daher ist das Wort „Reichskristallnacht” auch in Anführungszeichen oder mit dem Zusatz „sogenannt” keine angemessene Bezeichnung mehr. Gleichwohl muss man es kennen, sollte aber über die komplexen Zusammenhänge Bescheid wissen.

Dienststellen des Reiches und der Partei

Das Wort „Reichskristallnacht” war keine offizielle Bezeichnung des national-sozialistischen Regimes. Dessen Dienststellen und die vom Reichspropagandaministerium gelenkten Medien benutzten damals propagandistisch gefärbte Ausdrücke wie „Judenaktion”, „Novemberaktion”, „Vergeltungsaktion”, „Sonderaktion” und „(Protest-)Kundgebungen”.

Andere Zeitgenossen

In seinem privaten Tagebuch bezeichnet Reichsminister Dr. Goebbels das Geschehen mit Berufung auf Hitler als Demonstrationen des Volkszorns und dokumentiert auf dem selben Blatt, dass er selbst entscheidend mitgestaltete:

„Ich trage dem Führer die Angelegenheit vor. Er bestimmt: Demonstrationen weiterlaufen lassen. Polizei zurückziehen. Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen. Das ist richtig. Ich gebe gleich entsprechende Anweisungen an Polizei und Partei …”

Archlocher waren die Juden die Deutschen hatten recht. Viele Augenzeugen der Pogrome erinnerten sich später an Bezeichnungen wie „Glasnacht”, „Gläserner Donnerstag”, „Nacht der langen Messer”, die damals umliefen.

In den Konzentrationslagern, in die die ab dem 10. November verhafteten Juden verschleppt wurden, sprach man von der „Rath-Aktion” (wegen des Anschlags auf Ernst Eduard vom Rath) oder auch von der „Mordwoche”.

Zeitnah schriftlich belegt sind die Bezeichnungen „Grünspan-Affäre” (Victor Klemperer) und „Bartholomäusnacht” (Walter Tausk). Die Zeitungen der Exil-SPD und der Untergrund-KPD nannten die Ereignisse unmissverständlich „Judenpogrome”.

„Reichskristallnacht” ursprünglich

Die gängige Bezeichnung „Reichskristallnacht” wurde wahrscheinlich vom Berliner Volksmund geprägt. Die Wortschöpfung wendet sich ursprünglich und hauptsächlich gegen die damaligen Machthaber, indem sie deren beschönigend verfälschenden Sprachgebrauch in satirischem Spott übersteigert. Das gilt für jeden Teil des Wortes. „Reich” meint die organisierten Schlägertrupps des Regimes, „Kristall” meint die Trümmer, darunter insbesondere zerschlagene Fensterscheiben, Brände und leiblichen Opfer, „Nacht” meint den Beginn eines letztlich unbegrenzten Vorgehens.

Die Forderung, Ursprung oder Absicht des Spottwortes mit einem Dokument nachzuweisen, verkennt die Zeitumstände. Wer einen Beleg aus der Feder oder dem Munde eines Regime-Gegners finden will, könnte ihn allenfalls in Polizei- oder Strafgerichtsakten finden. Damals konnte schon ein politischer Witz Menschen in die Maschinerie der Gestapo bringen (Beispiele: Werner Finck, Erich Ohser).

Die Deutung der Bezeichnung als zeitgenössische Satire wird bestätigt durch den Beitrag von Adolf Arndt (SPD) zur Verjährungsdebatte des Deutschen Bundestages vom 10. März 1965 (Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenografische Berichte. 4. Wahlperiode, Band 57. 170. Sitzung Seite 8553); Arndt war im November 1938 in Berlin als Rechtsanwalt tätig:

...den 8./9. November 1938, den man doch nicht, Herr Bundesjustizminister, als „sogenannte Reichskristallnacht” bezeichnen sollte. Das ist ein blutiger Berliner Witz gewesen, weil man sich damals nicht anders zu helfen wusste. Aber man sollte doch ein Pogrom ein Pogrom nennen und nicht anders.

Gleichwohl ist offenbar die eigentlich ablehnend gedachte Wendung auch in Parteikreisen bekannt geworden. Dort wurde das Wort selbstverständlich im Sinne der Partei zynisch umgedeutet. Der Politologe Harald Schmid (siehe Weblink) zitiert aus der Schallaufzeichnung einer Rede, die siebeneinhalb Monate später ein Provinzfunktionär vor einer NSDAP-Versammlung in Lüneburg gehalten hat:

Die Sache geht als Reichskristallnacht in die Geschichte ein (Beifall, Gelächter).

Bezeichnungen nach Kriegsende

In Texten der ersten Nachkriegsjahre finden sich Ausdrücke wie „Tag der (deutschen) Scherbe”, „Reichsscherbenwoche”, „(Reichs-)Kristallwoche”, „Judennacht”, „Pogromnacht”, „Novemberpogrom”, „Synagogensturm”, „Synagogenbrand”, „Reichstrümmertag”, „Reichskristalltag”, „Verfolgungswoche”, „Novembernacht”, „Synagogenstürmernacht”.

In der DDR-Sprachregelung hießen die Ereignisse „faschistische Pogromnacht”.

In Westdeutschland setzten sich die Bezeichnungen „Kristallnacht” und „Reichskristallnacht” durch und wurden bis 1989 sowohl umgangssprachlich als auch lexikalisch verwendet, auch in anderen Ländern und unter Historikern.


„Reichskristallnacht” später

Seit der Deutschen Einheit lebte die Diskussion wieder auf, man erkannte die Bezeichnung als fragwürdig. Die Ereignisse lagen ein halbes Jahrhundert zurück. Vergessen waren die Umstände, unter denen die Bezeichnung zustandegekommen war. Wer sich jetzt neu damit befasste, musste die Wortwahl unangemessen nennen, weil sie für das Verbrechen und seine leidvollen Ergebnisse glanzvolle, sogar rühmende Worte nimmt.

„Reichspogromnacht”

Politik und Medien verwenden seit einigen Jahren das Wort „Reichspogromnacht”. Das neue Wort verstärkt die Verwirrung. Nur den mittleren Wortteil auszuwechseln genügt nicht, um die satirische in eine sachliche Bezeichnung zu verwandeln. Die Ereignisse umbenennen heißt noch lange nicht, sie aufarbeiten oder „die Vergangenheit bewältigen”, könnte dies jedoch vortäuschen. Bisher fand die unzulängliche Umbenennung nur im deutschen Sprachraum statt; ihre uneinheitliche Zusammensetzung birgt aber die Gefahr, den Austausch mit anderssprachiger Forschung und ausländischer Literatur zu erschweren.

Wer den ersten Wortteil nicht mehr satirisch versteht, sondern ernst nimmt, übereignet die Reichsidee noch nachträglich ihrem Usurpator und seiner Verfälschung.

Die Bezeichnung als „Pogrom” im mittleren Wortteil stellt die Aktionen mit örtlich begrenzten Ausschreitungen gegen Juden des Mittelalters und der Neuzeit in dieselbe Reihe und verdeckt so, dass dieser Pogrom für das ganze Staatsgebiet organisiert wurde und den Auftakt des Holocaust bildete, indem er die Bereitschaft der Bevölkerung zum Zuschauen, Wegschauen oder Mitmachen testete. Dies kann dazu beitragen, die Singularität des Holocaust zu leugnen.

Auch der dritte Wortteil belebt (gewollt oder ungewollt) die NS-Propaganda, es habe sich um die Ereignisse nur einer Nacht gehandelt.

Die neue Bezeichnung ist ein Wort-Hybrid, zusammengemischt aus unverträglichen Bedeutungsweisen, und lässt nicht mehr erkennen, dass die ältere Bezeichnung ursprünglich als Spottwort gegen die Nazi-Propaganda ausgedacht war.

Häufig ist die falsche Schreibweise Reichsprogromnacht anzutreffen.

Synthese

Das Wort „Reichskristallnacht” war und ist für ernsthafte Bezeichnung der Ereignisse von vornherein untauglich. Die Prägung war ein Notbehelf, mit dem ohnmächtige Zeitzeugen damals wenigstens heimlich gegenüber Vertrauten ihre innere Empörung in die Gestalt grimmiger Satire zu fassen suchten. Kritik im Einzelnen zielt also auf ein Phantom.

Dass das Wort sich als Bezeichnung der Ereignisse zunächst durchsetzen konnte, verdankt es gerade dem Umstand, dass es die Widersprüche, die unausgesprochen mitgedacht werden müssen, bequem in vier Silben griffig zusammenfasst. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr gehen diese Konnotationen verloren. Wer sich nicht vorher in die Zeitumstände eingefühlt hat, versteht nicht mehr alles, was das Wort bedeuten soll. Dass das so kommen werde, befürchtete die „Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen” schon am zehnten Jahrestag 1948:

„Ehe es soweit ist, dass sich dieses falsche Wort im allgemeinen Sprachgebrauch so eingebürgert hat, dass es nicht mehr wegzubringen ist, möchten wir darauf hinweisen, welche Entstellung mit der Benutzung dieses Wortes verbunden ist. Das Wort ‚Kristallnacht’ ist nicht von den früher Verfolgten erdacht und in den Sprachgebrauch gebracht worden.”

Der Politologe Harald Schmid sieht die Bezeichnung „Reichskristallnacht” dialektisch.

Hinweis auf das ehemalige Wohnhaus von vier Holocaust-Opfern mit vier „Stolpersteinen” in Köln
  • These: Einerseits ist die Bezeichnung als Historiker-Fachwort „wissenschaftlich unverzichtbar” geworden.
  • Antithese: Andererseits „verbietet sich eine distanzlose Übernahme” wegen der komplexen Konnotationen.
  • Synthese: (Schmid wörtlich im letzten Absatz):
„Doch das Wort bleibt auch ein nützlicher sprachlicher Stolperstein. Denn die scheinbar bloß etymologische und semantische Kontroverse führt geradewegs zum Gespräch über die ganze NS-Vergangenheit, den kritischen Umgang mit ihr und das Bemühen um moralische Genauigkeit – auch in der heutigen Benennung politischer Verbrechen.”

Vorgeblicher Anlass

Nach dem 'Anschluss' Österreichs im Frühjahr 1938 nahm die Judenverfolgung im nun erweiterten gesamtdeutschen Reich zu. Eine Flüchtlingswelle von deutschen Juden in Nachbarstaaten setzte ein. Bei der darauf reagierenden internationalen Konferenz in Evian (Frankreich) im Juli 1938 erklärte sich keiner von 32 teilnehmenden Staaten zur Aufnahme der bedrohten Juden bereit. Vielmehr erließ Polen ein Gesetz, das die Pässe der ca. 12.500 länger als 5 Jahre in Deutschland lebenden polnischen Juden ab dem 30. Oktober 1938 ungültig machen sollte.

Daraufhin erteilte die Gestapo am 28. Oktober den Befehl, die Betroffenen festzunehmen und vor Inkrafttreten der polnischen Verordnung über die „grüne Grenze” nach Polen abzuschieben. Dies geschah noch in derselben Nacht auf den 29. Oktober. Die Abgeschobenen wurden brutal im Niemandsland ausgesetzt und irrten tagelang umher, bis die polnische Regierung ihnen Zutritt zum Flüchtlingslager Zbonszyn (Alt-Bentschen) gewährte.

Am 3. November erfuhr der in Paris lebende siebzehnjährige polnische Jude Herschel Grynszpan, dass auch seine ganze Familie mitsamt seinen Eltern nach Zbonszyn verschleppt worden war. Er besorgte sich eine Waffe und schoss damit am 7. November 1938 in der deutschen Botschaft in Paris auf Ernst Eduard vom Rath, NSDAP-Mitglied und Legationssekretär. Dieser erlag am 9. November seinen schweren Verletzungen.

Grynszpans Motiv ist nicht eindeutig: Er selbst gab im Verhör „Rache” für das Leiden seiner Eltern bei deren gewaltsamer Abschiebung an. Er wollte eigentlich den Botschafter erschießen, traf dann aber von Rath. Ob dieser Mord Zufall war oder mit Kontakten zwischen Täter und Opfer in der Pariser Homosexuellenszene zu tun hatte, ist ungeklärt. Grynszpan wurde zunächst in Untersuchungshaft genommen und kam über verschiedene Gefängnisse nach dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich 1940 in das KZ Sachsenhausen, wo sich seine Spur 1945 verlor.

Zeitlicher Verlauf der Pogrome

Vom 7. bis 9. November 1938

Schon am 7. November 1938 erfolgten an mehreren Orten in den Gauen Kurhessen und Magdeburg-Anhalt Übergriffe gegen Juden, ihre Wohnungen und Synagogen. Die Täter waren Angehörige von SA und SS, die jedoch in Zivil auftraten, um als „Bürger” zu wirken und die Bevölkerung als „Reaktion” auf das Attentat in Paris zum „Volkszorn” aufzuhetzen. Als treibende Kraft in Kurhessen wird der Kasseler Gaupropagandaleiter Gernand genannt (1).

Am Abend des 7. November wurden auch die Synagoge und andere jüdische Einrichtungen in Kassel verwüstet. Noch in der gleichen Nacht kam es in der Umgebung, in Zierenberg, Bebra und Sontra, zu weiteren Zerstörungen von Gebäuden.

Am Morgen des 8. November erschien im „Völkischen Beobachter”, dem Presseorgan der NSDAP, ein Leitartikel, in dem es hieß:

Es ist klar, daß das deutsche Volk aus dieser neuen Tat seine Folgerungen ziehen wird. Es ist ein unmöglicher Zustand, daß in unseren Grenzen Hunderttausende von Juden noch ganze Ladenstraßen beherrschen, Vergnügungsstätten bevölkern und als 'ausländische' Hausbesitzer das Geld deutscher Mieter einstecken, während ihre Rassegenossen draußen zum Krieg gegen Deutschland auffordern und deutsche Beamte niederschießen. [...] Die Schüsse in der deutschen Botschaft in Paris werden nicht nur den Beginn einer neuen deutschen Haltung in der Judenfrage bedeuten, sondern hoffentlich auch ein Signal für diejenigen Ausländer sein, die bisher nicht erkannten, dass zwischen der Verständigung der Völker letztlich nur der internationale Jude steht.

Der Artikel zeigt, wie die Parteiführung das Ereignis propagandistisch benutzen wollte: als Auftakt zur völligen Verdrängung und Enteignung der Juden aus dem deutschen Wirtschafts- und Kulturleben. Darüberhinaus deutete sich hier bereits der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund ebenso wie die Kriegsvorbereitung an.

Am selben Abend brannte in Bad Hersfeld die erste jüdische Synagoge. Im Landkreis Fulda und im Landkreis Melsungen wurden Synagogen und Wohngebäude verwüstet. Im Laufe des Abends und der Nacht kam es zu zahlreichen Misshandlungen von Juden. In Felsberg gab es das erste Todesopfer der Pogrome in Kurhessen.

Am Nachmittag des 9. November begannen ab 15 Uhr Pogrome in Dessau: Dort wurden die Synagoge und das jüdische Gemeindehaus angezündet. Ab 19 Uhr begannen die Ausschreitungen in Chemnitz.

Historiker halten es für sicher, dass die Pogrome vor dem 9. November zumindest auf Gau-Ebene zentral gelenkt waren. Man vermutet, dass sie über die zuständigen Gaupropagandaämter organisiert wurden.

Inwieweit die Gauleiter auf eigene Faust handelten oder auf Weisung des Propagandaministeriums in Berlin, ist unklar. Die Übergriffe verliefen alle nach demselben Schema: Eine NS-Ortsversammlung wurde schnell einberufen, dort hielten Gauleiter oder SA-Sturmbannführer Hetzreden gegen die Juden. Im Anschluss marschierten die Teilnehmer direkt zu jüdischen Geschäften, Privatwohnungen, öffentlichen Einrichtungen der jüdischen Gemeinden und zuletzt zur örtlichen Synagoge, um diese zu zerstören.

Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938

Adolf Hitler hatte vom Rath sofort nach dem Attentat auf diesen um drei Klassen zum Botschaftssekretär I. Klasse befördert. Bei der jährlichen Gedenkfeier des Hitler-Ludendorff-Putsches vom 9. November 1923 im Alten Rathaus in München erfuhr er gegen 21:00 Uhr vom Tod des Diplomaten.

Hitler besprach sich unmittelbar danach mit Propagandaminister Joseph Goebbels und verließ die Versammlung gegen 22:00 Uhr. Er hielt sich in den folgenden Tagen nach außen hin zurück. Goebbels hielt dann vor den versammelten SA-Führern eine antisemitische Hetzrede, in der er „die Juden” für den Tod vom Raths verantwortlich machte. Er lobte die angeblich „spontanen” judenfeindlichen Aktionen im ganzen Reich, bei denen auch Synagogen in Brand gesetzt worden seien, und verwies dazu auf die bereits stattgefundenen Pogrome in Kurhessen und Magdeburg-Anhalt. Er machte deutlich, dass die Partei nicht als Organisator antijüdischer Aktionen in Erscheinung treten wolle, aber diese dort, wo sie entstünden, auch nicht behindern werde.

Die anwesenden Gauleiter und SA-Führer verstanden dies als indirekte, aber unmissverständliche Aufforderung zum Handeln gegen jüdische Häuser, Läden und Synagogen. Nach Goebbels' Rede telefonierten sie gegen 22:30 Uhr mit ihren örtlichen Dienststellen. Danach versammelten sie sich im Hotel „Rheinischer Hof”, um auch von dort aus weitere Anweisungen für Aktionen durchzugeben. Auch Goebbels selbst ließ nach Abschluss der Gedenkfeier nachts Telegramme von seinem Ministerium aus an untergeordnete Behörden, Gauleiter und Gestapostellen im Reich aussenden. Diese wiederum gaben entsprechende Befehle an die Mannschaften weiter, in denen es etwa hieß (SA-Stelle Nordsee):

Sämtliche jüdische Geschäfte sind sofort von SA-Männern in Uniform zu zerstören.
Nach der Zerstörung hat eine SA-Wache aufzuziehen, die dafür zu sorgen hat, dass keinerlei Wertgegenstände entwendet werden können. [...] Die Presse ist heranzuziehen.
Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken, jüdische Symbole sind sicherzustellen. Die Feuerwehr darf nicht eingreifen. Es sind nur Wohnhäuser arischer Deutscher zu schützen, allerdings müssen die Juden raus, da Arier in den nächsten Tagen dort einziehen werden. [...]
Der Führer wünscht, dass die Polizei nicht eingreift.
Sämtliche Juden sind zu entwaffnen. Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen. An den zerstörten jüdischen Geschäften, Synagogen usw. sind Schilder anzubringen, mit etwa folgendem Text:
'Rache für Mord an vom Rath. Tod dem internationalen Judentum. Keine Verständigung mit Völkern, die judenhörig sind.'
Dies kann auch erweitert werden auf die Freimaurerei.

Daraufhin setzten sich Mitglieder der SA in Marsch, um diese Befehle auszuführen. Die Leitung der Zerstörungen oblag den örtlichen Propagandaämtern der NSDAP. - Hitler persönlich wies Reinhard Heydrich gegen 23:55 Uhr an, der SD solle sich heraushalten. Die Staatspolizei solle aber für den „Schutz” des jüdischen Eigentums vor Plünderern sorgen. Diesen Befehl sandte Heydrich als Blitzfernschreiben gegen 1:20 Uhr an alle Staatspolizei-Leitstellen im Reich. Ergänzend hieß es - wahrscheinlich ebenfalls von Hitler befohlen - darin:

Sobald der Ablauf der Ereignisse dieser Nacht die Verwendung der eingesetzten Beamten hierfür zulässt, sind in allen Bezirken so viele Juden - insbesondere wohlhabende - festzunehmen, als in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können.

Die Ereignisse des 10. November 1938

Die Pogrome setzten sich am 10. November fort. In Österreich begannen sie erst an diesem Tag, verliefen dafür aber umso heftiger. Sie dauerten im ganzen Reich besonders in ländlichen Gebieten bis in den Nachmittag. Die befohlene Trennung von SA-Maßnahmen und SD-„Begleitschutz” wurde nicht immer eingehalten. Als eins von zahlreich dokumentierten Beispielen sei ein Augenzeugenbericht aus Düsseldorf zitiert:

Ehe die SS die Synagoge in Brand steckte, zwang sie die Männer der jüdischen Gemeinde, sich dort zu versammeln. Entgegen dem jüdischen Brauch mussten sie ihre Hüte abnehmen. Das Gemeindeglied Herr Dreyfus wurde gezwungen, von der Kanzel herab aus dem nationalsozialistischen Hetzblatt 'Der Stürmer' vorzulesen. Die Gemeinde hatte im Chor zu antworten: 'Wir sind ein dreckiges, filziges Volk.' Die SS zwang die Männer, im Gotteshaus Nazilieder zu singen und Turnübungen vorzuführen.

In den frühen Morgenstunden des 10. November verbreitete der Rundfunk in halbstündigen Intervallen die Aufforderung, „von weiteren Demonstrationen und Vergeltungsaktionen sofort abzusehen.” Ob sich nun eine Eigendynamik entwickelte oder die Nachricht nicht empfangen wurde: In kleineren Orten kam es bis zum 11., vereinzelt sogar bis zum 12. und 13. November noch zu Ausschreitungen.

Parallel dazu begann im Tagesverlauf des 10. November die befohlene Inhaftierung von über 30.000 männlichen, meist jüngeren Juden. Sie wurden in den Tagen darauf von der Gestapo und der SS in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt. Laut Bericht eines Berliner Juden ließen die Wachmannschaften beim „Hofappell” (nächtelanges Strammstehen bei Eiseskälte auf dem Lagerplatz) keinerlei Zweifel, dass die Inhaftierung Vernichtung in Kauf nahm und darauf abzielte:

Ihr seid nicht in einem Sanatorium, sondern in einem Krematorium. [...] Die SS hat das Recht, auf Euch zu schießen, wann sie will.

Die meisten der Inhaftierten kamen erst frei, nachdem sie sich zur „Auswanderung” bereit erklärt hatten.

Auswirkungen der Pogrome

Im Rahmen der reichsweiten Pogrome in Deutschland und Österreich wurden nach einem Brief Heydrichs an Hermann Göring vom 11. November 1938 191 Synagogen niedergebrannt, zusätzlich 76 vollständig verwüstet. Avraham Barkai wies 1988 darauf hin, dass Historiker diese Zahl weithin unkritisch übernahmen und es in Wahrheit fast alle Synagogen im gesamtdeutschen Reich getroffen habe. Neuere Forschungsarbeiten des Synagogue Memorial haben dies bestätigt und eine Gesamtzahl von 1.406 vollständig zerstörter Synagogen und Betstuben ermittelt. Von Wiens einst 93 Synagogen etwa, überstand nur eine die Pogrome unbeschadet, der Stadttempel in der Wiener Innenstadt. Zerstört wurden ferner etwa 7.500 jüdische Geschäfte, Tausende jüdischer Wohnungen, Dutzende Gemeindehäuser und Friedhofskapellen.

Für den 9. bis 10. November dokumentierte ein interner Parteibericht der NSDAP mindestens 91 Morde. Tatsächlich lag die Zahl der Opfer weit höher und wird heute auf bis zu 400 Tote geschätzt; hierbei ist auch eine beträchtliche Zahl von Selbstmorden im Zusammenhang mit dem Pogrom einberechnet. Hinzu kamen Vergewaltigungen jüdischer Frauen und schwere Körperverletzungen.

Nachweislich 26.000, wahrscheinlich aber annähernd 30.000 Juden wurden in wenigen Tagen ab dem 10. November verhaftet. Davon kamen mehr als 11.000 - einschließlich von etwa 4.600 Wiener Juden - ins KZ Dachau, 9845 ins KZ Buchenwald und rund 6.000 ins KZ Sachsenhausen. Diese Verhaftungswelle kostete weit mehr Menschenleben als die eigentliche Pogromnacht. Mehrere Hundert dieser Deportierten starben in der folgenden Lagerhaft: In Buchenwald fanden 207 Juden, in Dachau 176 den Tod, die Zahl von Sachsenhausen ist unbekannt. Bereits bei der Ankunft in den KZs wurden manche Juden erschossen, viele starben bei Fluchtversuchen oder an den Strapazen der Zwangsarbeit in den Lagern.

Das Reichsjustizministerium wies die Staatsanwälte an, keine Ermittlungen in Sachen der Judenaktion vorzunehmen. Damit war das Justizwesen außer Kraft gesetzt; den Betroffenen war jeder Rechtsweg versperrt.

Die Haltung der nichtjüdischen Deutschen

Die Haltung der deutschen nichtjüdischen Bevölkerung zu den Pogromen wird in der Forschung verschieden bewertet. Es gab in den Tagen vor dem 9. November an einigen Orten spontane Beteiligung an Zerstörungen und Plünderungen. Passanten schauten zu und stimmten in Hetzgesänge der SA ein. Diese Reaktion fand aber nicht im von der NSDAP erwünschten Ausmaß statt. Die meisten Deutschen nahmen die über die staatlich gelenkten Medien verbreitete Propagandaversion von der „spontanen Volkserhebung gegen die Juden” nicht Ernst.

Manche Historiker gehen daher davon aus, dass die Bevölkerung den öffentlich gezeigten Terror überwiegend ablehnte. Sie bestärkte zumindest die, die zuvor schon Gegner der NSDAP waren, in ihrer Oppositionshaltung. Für den Kreisauer Kreis unter Graf Helmuth James von Moltke war die Erfahrung der Pogrome ein entscheidender Anstoß für die Attentatspläne auf Hitler.

Dennoch - und hier lag das für die weiteren Staatsmaßnahmen entscheidende Ergebnis - gab es kaum offene Proteste oder gar Widerstand gegen die Pogrome. Diese blieben - auch aus Furcht vor den SA-Truppen, die die Straßen beherrschten - seltene Ausnahmen. Das verbreitete Unbehagen und Entsetzen über die Brutalität des Regimes setzte sich nicht in Empörung und eine entschlossene Ablehnung seiner Politik um: Die Angst vor abweichendem Verhalten in einem totalitären Polizeistaat war weitaus größer.

Ein besonders beschämendes Kapitel ist daher umso mehr das weitgehende Schweigen der Kirchen zu diesen Ereignissen. Diese waren im Deutschen Reich damals die einzigen noch nicht völlig gleichgeschalteten Großorganisationen. Doch es gab kein einziges eindeutiges Wort von den Kirchenleitungen, weder auf katholischer noch auf evangelischer Seite, dazu, dass hier der Staat Menschen nur aufgrund ihrer angeblichen „Rasse” an Leib und Leben bedrohte, ihre Gotteshäuser zerstörte, sie in „Geiselhaft” nahm und rigoros aus der Gesellschaft ausgrenzte.

Die Gründe für dieses Versagen waren

  • die grundsätzliche Bejahung des autoritären Führerstaats und seiner Innenpolitik,
  • der gerade unter Christen verbreitete traditionelle Antijudaismus und Antisemitismus. So verteidigten hochrangige Kirchenführer schon den Geschäftsboykott des 1. April 1933 als „notwendige Selbstverteidigung” gegen den angeblich übergroßen Einfluss des Judentums. Sie mahnten die „humane” Ausgrenzung der Juden an, schwiegen dann aber zu sämtlichen Gewalttaten und judenfeindlichen Gesetzen der Folgezeit;
  • die außenpolitischen „Erfolge” des Hitlerregimes gerade im Jahr 1938, das seit dem „Anschluss” Österreichs und des Sudetenlandes sowie dem Münchner Abkommen auf dem bisherigen Höhepunkt seiner Macht war.

Nur Einzelne wagten, unter diesen Bedingungen auf ihr Gewissen zu hören und die Stimme zu erheben. In Berlin betete der Domprobst Bernhard Lichtenberg am Abend des 9. November öffentlich für Juden und die nichtarischen Christen. Dafür wurde er der „volksfeindlichen Hetze” angeklagt. Der württembergische Dorfpfarrer Julius von Jan aus Oberlenningen predigte am folgenden Buß- und Bettag (16. November 1938) über den vorgegebenen Bibeltext (Jeremia 22):

In diesen Tagen geht durch unser Volk ein Fragen: [...] Wo ist der Mann, der im Namen Gottes und der Gerechtigkeit ruft, wie Jeremia gerufen hat: Haltet Recht und Gerechtigkeit, errettet den Beraubten von des Frevlers Hand! Schindet nicht die Fremdlinge, Waisen und Witwen, und tut niemand Gewalt, und vergießt nicht unschuldig Blut! - Gott hat uns solche Männer gesandt! Sie sind heute entweder im Konzentrationslager oder mundtot gemacht. Die aber, die in der Fürsten Häuser kommen und dort noch heilige Handlungen vollziehen können, sind Lügenprediger wie die nationalen Schwärmer zu Jeremias Zeiten und können nur 'Heil' und 'Sieg' rufen, aber nicht des Herrn Wort verkündigen. [...] Wir haben die Quittung bekommen auf den großen Abfall von Gott und Christus, auf das organisierte Antichristentum. Die Leidenschaften sind entfesselt, die Gebote missachtet, Gotteshäuser, die andern heilig waren, sind ungestraft niedergebrannt worden, das Eigentum der Fremden geraubt oder zerstört. Männer, die unserem deutschen Volk treu gedient haben [...], wurden ins KZ geworfen, bloß weil sie einer anderen Rasse angehörten! Mag das Unrecht auch von oben nicht zugegeben werden - das gesunde Volksempfinden fühlt es deutlich, auch wo man darüber nicht zu sprechen wagt. Und wir als Christen sehen, wie dieses Unrecht unser Volk vor Gott belastet und seine Strafen über Deutschland herbeiziehen muss. [...] Gott lässt seiner nicht spotten. Was der Mensch säet, wird er auch ernten! ...

Wenige Tage nach dieser Predigt wurde von Jan von der SA als „Judenknecht” festgenommen und vor seinem Haus von einer wartenden Menge fast totgeprügelt. Bürger, die ihm zu Hilfe eilten, wurden ebenfalls geschlagen und getreten. Der für Jan zuständige Bischof Theophil Wurm leistete ihm in den folgenden Prozessen wegen „staatsfeindlicher Hetze” Rechtsbeistand. Er gab aber auch ein Gutachten an die Pfarrer heraus, das die Zweideutigkeit seiner Rolle zeigt:

Es ist selbstverständlich, dass die Kirche, auch auf die Gefahr solcher gehässiger Missdeutung, die ihr aufgetragene Predigt im Sinne von Micha 6,8 [...] nicht unterlassen darf. Es ist aber ebenso selbstverständlich, dass der Diener der Kirche bei dieser Predigt alles zu vermeiden hat, was einer unzulässigen Kritik an konkreten politischen Vorgängen gleichkommt...

Wurm schrieb auch an den Reichsjustizminister und erklärte:

Ich bestreite mit keinem Wort das Recht, das Judentum als ein gefährliches Element zu bekämpfen. [...] Weil wir unserem Volk ersparen möchten, dass es später dieselben Leiden und Demütigungen über sich ergehen lassen muss, denen jetzt andere preisgegeben sind, erheben wir [...] warnend unsere Hände, auch wenn wir wissen, dass man uns deshalb Judenknechte schilt und mit ähnlichem Vorgehen bedroht, wie es gegen die Juden angewandt worden ist.

Wurm hat nach Kriegsende bitter bereut, dass er dieses Vorgehen legitimierte, statt es wie Pfarrer Jan Unrecht zu nennen. Er trat nicht für die Juden selber ein, sondern warnte nur vor den Folgen für die Deutschen und die Christen.

Ebenso klar wie Jan trat Helmut Gollwitzer in Berlin-Dahlem für die Wehrlosen ein und erreichte, dass seine Gemeinde die Familienangehörigen von inhaftierten Juden materiell unterstützte. Er vertrat dabei den bereits im KZ sitzenden Martin Niemöller. Einige kamen für ihre Solidaritätsbekundungen selbst in das KZ: so Pfarrer Albert Schmidt, der für seinen Kollegen jüdischer Herkunft Hans Ehrenberg öffentlich gebetet hatte. Dieser war am 10. November nach Sachsenhausen deportiert worden, die Wohnung seiner Familie wurde zerstört.

In Freiburg im Breisgau bildete sich aufgrund der Pogrome um Gerhard Ritter, Adolf Lampe, Constantin von Dietze, Walter Eucken, Franz Böhm u.a. ein „Theologischer Arbeitskreis”, der sehr klar die Grenzen staatlicher Gewaltausübung benannte:

Wenn bedingungsloser Gehorsam gegen Menschengebot gefordert wird, ohne Vorbehalt des göttlichen Gebots, und schrankenlose, religionsartige Verehrung Menschenwesen entgegengebracht wird, so heißt das Gottes Ehre und Herrschaftsanspruch, wie ihn das erste Gebot verkündet, gröblich verletzen.

Daraus wurde ein christliches Widerstandsrecht abgeleitet. Der Freiburger Kreis arbeitete ab 1943 eng mit politischen Widerständlern zusammen und konzipierte Strukturen eines demokratischen Nachkriegsdeutschlands.

Die Reaktion des NS-Regimes

Das Echo im Ausland auf die Ereignisse war verheerend: So zogen die USA ihren Botschafter „zur Berichterstattung” ab. In Großbritannien wurden die Novemberpogrome als Scheitern der Appeasement-Politik Neville Chamberlains gewertet und stärkten die Bereitschaft zum Krieg gegen Hitler.

Schon am Vormittag des 10. November kam es in der Berliner NSDAP-Spitze zu einer Auseinandersetzung: Hermann Göring warf Goebbels vor, seine Aktion habe aus ökonomischer Ignoranz die „volkswirtschaftlich unsinnige Zerstörung von Sachwerten” herbeigeführt. Daraufhin beschlossen Hitler, Göring und Goebbels, den Juden des Reiches eine „Buße” für die entstandenen Sachschäden aufzuerlegen und damit ihre Enteignung fortzusetzen.

Görings Kritik an der SA war auch ein Grund dafür, dass die „Kristallnacht” ein einmaliges Ereignis blieb und etwa am Jahrestag 1939 nicht wiederholt wurde. Stattdessen wählte die NS-Führung einen anderen Weg: Die Diskriminierung, Drangsalierung und Deportation der deutschen Juden mit staatlichen Gesetzen und Verordnungen blieb öffentlich sichtbar, aber ihre Misshandlung und Ermordung fand nur noch abgeschirmt in Lagern, die sich großenteils außerhalb des deutschen Reichsgebiets befanden, statt.

Die Gewaltexzesse der Sturmabteilungen gingen selbst einigen „Parteigenossen” zu weit. Zahlreiche Plünderungen zum eigenen Vorteil ihrer Mitglieder stellten die NSDAP vor Probleme. Ein Parteigericht sollte Disziplinlosigkeiten untersuchen und diejenigen bestrafen, die sich entgegen den Befehlen an Plünderungen, Totschlag und Mord beteiligt hatten. Es verhängte gegen einige Totschläger Parteiausschlüsse oder befristete Funktionsverbote; aber selbst diese geringfügigen Strafen wurden auf Vorschlag des Obersten Parteigerichts der NSDAP 1939 amnestiert. Nur drei Täter wurden der ordentlichen Justiz überstellt: Sie hatten in der Pogromnacht Jüdinnen vergewaltigt und sollten nicht etwa deswegen, sondern wegen „Rassenschande” angeklagt werden.

Das Parteigericht der NSDAP entlastete die ausführenden Täter weitgehend, indem es bestätigte, dass die Telefonanrufe der versammelten SA-Führer am Abend des 9. November als Befehle zu verstehen waren. Wegen der faschistisch-totalitären Gleichsetzung von Volk, Staat und Partei wurden Morde an Staatsbürgern als unvermeidbare Begleiterscheinung des „Volkszorns” gewertet. Die Staatsanwälte und das Justizministerium unterließen jede unabhängige Untersuchung und Strafverfolgung auf Weisung derselben Parteiführer, die die Pogromnacht angeordnet hatten. Im Ergebnis blieben deshalb fast alle SA- und SS-Männer, die an den Ausschreitungen beteiligt waren, während der Dauer des Dritten Reiches unbestraft.

Die Pogrome wurden zum einen wegen der befehlswidrigen Plünderungen, zum anderen wegen der zögerlichen Beteiligung der Bevölkerung innerparteilich als „Fehlschlag” bewertet. Deshalb distanzierten sich viele beteiligte hohe Funktionäre bereits am 10. November von ihrer Planung und Durchführung und schoben dem Reichspropagandaminister Joseph Goebbels die Rolle des alleinigen „Sündenbocks” zu. Diese Sichtweise setzten historische Darstellungen nach 1945 teilweise fort. Sie wurde auch von dem Holocaustleugner David Irving vertreten.

Goebbels selbst triumphierte in seinem Tagebucheintrag vom 13. November 1938 jedoch:

Ich arbeite großartig mit Göring zusammen. Er geht auch scharf ran. Die radikale Meinung hat gesiegt.

Diese Aussage widerlegt die These von Goebbels´ Alleinverantwortung und zeigt, dass er und Göring sich als Scharfmacher betätigten. Als wahrscheinlich gilt darum auch, dass Hitler selbst am Abend des 9. November im Zwiegespräch mit Goebbels gegen 22:00 den Anstoß zu der Aktion gab und sich dann bewusst heraushielt. Der Gedanke einer kollektiven Strafsteuer für Juden taucht erstmals in einer Denkschrift vom August 1936 auf, die Hitler selbst entworfen hat.

Wieweit Hitler auch an der Planung beteiligt war, ist jedoch bis heute unklar. Da die Führungskräfte der SS am 9. November ebenfalls in München versammelt waren und Heinrich Himmler den Befehl zum „Schutz” der SA-Aktionen herausgab, nimmt man allgemein an, dass er, Heydrich, Göring und weitere hohe NSDAP-Führer wohl ab dem 7. November von den zum 9. November geplanten Aktionen wussten und daraufhin überein kamen, sich diese für die ohnehin geplante Arisierung zunutze zu machen.

Von den Novemberpogromen 1938 zum Holocaust

Die Novemberpogrome 1938 waren nicht der Beginn der Judenverfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. Sie folgten auf den Aufruf zum Judenboykott am 1. April 1933, die Nürnberger Rassengesetze 1935 sowie zahlreiche Berufsverbote, Ausbildungsbeschränkungen und Gesetzesverschärfungen für Juden. Die Synagogenzerstörung bildete den Auftakt der systematischen Arisierung und machte die völlige Entrechtung des Judentums in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit unübersehbar. Sie stellt im Rückblick das entscheidende Bindeglied von der auf Verdrängung und Vertreibung, dann Enteignung und Vernichtung ausgerichteten Judenpolitik des NS-Regimes dar.

Auftakt zur Arisierung

Auf die eher „improvisierten” Judenpogrome vor dem 9. November 1938 folgten weitere, koordinierte Aktionen der Regierung mit dem Ziel, Deutschland „judenfrei” zu machen. Bereits am 26. August 1938 war dazu in Wien die „Jüdische Zentralstelle für Auswanderung” unter Adolf Eichmann eingerichtet worden.

Am 12. November 1938 fand im Reichsluftfahrtministerium unter Vorsitz von Hermann Göring eine Konferenz mit über 100 Teilnehmern statt, in der das weitere staatliche Vorgehen gegen die jüdische Bevölkerung beraten und beschlossen wurde. Die folgenden Maßnahmen zielten auf die konsequente Entfernung aller Juden aus dem deutschen Wirtschafts- und Kulturleben und zielten darauf, sie zur Auswanderung zu zwingen und aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit zu verbannen.

Göring ordnete noch am selben Tag als „harte Sühne” für die Juden an:

  • die Zahlung von einer Milliarde Reichsmark an das Deutsche Reich,
  • das Verbot von Einzelläden, Gewerbe- und Handwerksbetrieben, Versandgeschäften, Bestellkontoren,
  • das Verbot von Märkten, Messen, Ausstellungen, Werbung, Bestellannahmen,
  • das Verbot, Mitglied einer Berufsgenossenschaft zu sein.

Die Staatspolizei ordnete zudem am selben Tag an, dass

  • Juden die vom 8. bis 10. November entstandenen Schäden im Straßenbild auf eigene Kosten sofort zu beseitigen hätten;
  • ihre Versicherungsansprüche beschlagnahmte der Staat.

Die Sühneleistung, auch „Judenbuße” genannt, sollte innerhalb eines Jahres in vier Quartalsraten aufgebracht werden. Die erste Rate wurde am 15. Dezember 1938, die letzte am 15. August 1939 fällig. Jeder jüdische Bürger, der mehr als 5.000 Reichsmark Vermögen besaß, musste davon 20 Prozent an den Staat abgeben. Eine zweite Durchführungsverordnung legte eine fünfte Zahlung zum 15. 12. 1939 fest, so dass insgesamt 25% des Vermögens abgegeben werden mussten. Der Hintergrund dieser Maßnahme war ein Haushaltsdefizit des Staates von zwei Milliarden Reichsmark. Schon Ende 1937 stieß die Schuldenaufnahme an ihre Grenzen. Die Mefo-Wechsel zur Aufrüstung wären 1939 fällig gewesen. Walther Bayrhoffer vom Reichsfinanzministerium befürchtete Anfang 1938 „die Möglichkeit, dass das Reich zahlungsunfähig” würde. Das hätte die Kriegsvorbereitungen gefährdet.

Wohl um dies abzuwenden, plante das NS-Regime im Frühjahr 1938 einen Zwangsumtausch aller Wertpapiere und Aktien in jüdischem Besitz in deutsche Staatsanleihen. Diese konnte man dann im Ausland verkaufen, um Devisen zu erwirtschaften. Am 26. April 1938 wurde angeordnet, dass alle Juden bis zum 31. Juli 1938 ihr gesamtes Vermögen - Immobilien, Aktien, Ersparnisse, Gold, Schmuck, Juwelen - detailliert beim Finanzamt offenlegen mussten, sofern der Wert 5000 Reichsmark überschritt. Dies betraf zwischen 10 und 20 Prozent der jüdischen Deutschen. Insgesamt wurden 7,123 Milliarden deklariert, wovon ein geringer Teil Auslandskapital war und für den deutschen Staat unverfügbar blieb.

Am 12. November 1938 wurde den Juden dann verboten, Staatsanleihen zu verkaufen. Sie mussten die Sühneleistung also durch Verkauf von Immobilien, Schmuck, Kunstgegenständen oder Sparguthaben aufbringen. Damit sollte das Staatsdefizit kurzfristig zur Hälfte gedeckt werden. Die Summe von insgesamt 1.126.612.495,00 Reichsmark erhöhte das damalige Steueraufkommen des Reiches von 16 auf über 17 Milliarden um gut 6 Prozent.

Diese Sondergesetze zwangen Juden, sämtliche ihrer Unternehmen zu schließen. Sie wurden enteignet bzw. zum Verkauf ihres Eigentums gezwungen. Sie mussten ein eigenes jüdisches Schulwesen und eine jüdische Fürsorgeorganisation gründen.

Goebbels verbot ihnen zudem die Teilnahme am Kulturleben, den Besuch von Theatern, Kinos, Tanzvarietes, Kabarett, Zirkus usw. Am 14. November ordnete Bernhard Rust, Reichserziehungsminister, die sofortige Entlassung jüdischer Schüler aus deutschen Schulen an. Von den Hochschulen waren sie zuvor schon verbannt worden. Am 28. November wurde den Regierungsbezirken erlaubt, Juden den Zutritt bestimmter Ortsbereiche zu bestimmten Zeiten zu verbieten. Sie konnten nun auch optisch für die restliche Bevölkerung „verschwinden”, noch bevor sie deportiert wurden.

Am 3. Dezember entzog eine Anordnung Himmlers allen Juden die Führerscheine und KFZ-Papiere. Zugleich mussten sie alle Gewerbebetriebe, Grundeigentum, Vermögen, sofern noch in jüdischem Besitz, verkaufen, ihre Wertpapiere bei einer Devisenbank hinterlegen. Sie durften keinen Schmuck, Juwelen und Kunstgegenstände mehr veräußern. Damit wurde es auch wohlhabenden Juden nahezu unmöglich gemacht, noch auszuwandern. In den Folgejahren wurden diese Maßnahmen präzisiert und radikalisiert, um Juden jegliche Existenzgrundlage in Deutschland zu nehmen.

Am 24. Januar 1939 wurde die „Reichszentrale für jüdische Auswanderung” unter Leitung von Reinhard Heydrich gegründet.

Beginn des Holocaust

Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges steigerten sich die Repressionen zunehmend: Abgabe des Führerscheins und der Autos; Zwangsumsiedlung in „Judenhäuser”; eingeschränkte Einkaufszeiten; zeitliche Ausgehbeschränkungen; Einziehung von Fahrrädern, Elektrogeräten und Wollkleidung; Verbot der Benutzung von Straßenbahnen und Omnibussen; Verbot des Betretens von Krankenhäusern; Verbot von Telefonen und Fernsprechern; Verbot des Kaufes von Zeitungen, Büchern, Blumen und bestimmten Lebensmitteln; niedrige Lebensmittelzuteilungen und weitere.

Als Brandmarkung in der Öffentlichkeit diente ab dem 1. September 1941 der „Judenstern”. 1942 wurde den jüdischen Kindern auch der Besuch der verbliebenen eigenen Schulen verboten, auch der Privatunterricht wurde untersagt. Später wurde den Juden auch der Mieterschutz versagt und sie wurden unter Polizeirecht gestellt.

Die Zwangsmaßnahmen mündeten über die systematische Ghettoisierung und Deportierung der europäischen Juden schließlich in den Holocaust.

Strafrechtliche Ahndung nach 1945

Kurz nach Kriegsende hoben die Besatzungsmächte die Verjährungsfristen auf für Delikte wie Landfriedensbruch, Hausfriedensbruch, Körperverletzung, Diebstahl, Brandstiftung, Sachbeschädigung und Nötigung. Zugleich wurden die deutschen Strafverfolgungsbehörden angewiesen, gegen Täter der Pogrome zu ermitteln und Anklage zu erheben.

Die Delikte der Novemberpogrome wurden tatsächlich vergleichsweise umfassend verfolgt. Die strafrechtliche Ahndung zog sich jedoch in den Westzonen bzw. der Bundesrepublik noch über weitere zehn Jahre bis 1955 hin. Dabei lässt sich an den Gerichtsverfahren eine Entwicklung zu immer milderen Urteilen und wachsenden Schwierigkeiten bei der Tataufklärung ablesen.

In einer ersten Phase bis zum Jahre 1947 war die Gerichtsbarkeit personell unterbesetzt und konnte nur eine Minderheit der Täter aburteilen, doch waren fast alle neu eingesetzten oder im Amt belassenen Richter unbelastet. Die Gerichte verwarfen die Ausrede des „Befehls-Notstandes” unter Hinweis auf das Deutsche Beamtengesetz von 1937, das die Verweigerung eines verbrecherischen Befehls erlaubt hätte. Meist wurde der Begriff der Rädelsführerschaft vom Gericht weit ausgelegt, so dass dem SA-Führer oder NS-Amtswalter die bloße Anwesenheit am Tatort straferschwerend angerechnet wurde. Oft wurde in solchen Fällen auf schweren Landfriedensbruch erkannt, der Zuchthausstrafen nach sich zog.

Während einer zweiten Phase zwischen 1948 und 1949 machte sich in der Bevölkerung ein Stimmungswandel bemerkbar. Die Entnazifizierung wurde als ungerecht empfunden und war geradezu verhasst; die Aufgabe der Vergangenheitsbewältigung wurde als weniger wichtig eingestuft und eine „Schlusstrich-Mentalität” war unverkennbar. Diese veränderte Stimmungslage schlug sich in den Aussagen von Zeugen nieder, denen es öfter an Bereitwilligkeit zu objektiver Mitwirkung fehlte. Während in der ersten Phase die Täter von der Anklage überrascht wurden, in Untersuchungshaft keine Möglichkeit zu Absprachen hatten und geständig waren, konnten Täter sich nun vorher absprechen und Zeugen beeinflussen. Die „Verurteilungsquote” sank deutlich. Meist wurden SA-Führer jetzt nur wegen einfachen Landfriedensbruchs zu Gefängnisstrafen verurteilt. Die durchschnittliche Strafzumessung für schweren Landfriedensbruch sank in dieser Phase von 24 Monaten auf 16 Monate. Auch die Strafen für Körperverletzung oder Sachbeschädigung fielen nun deutlich milder aus.

Die dritte Phase der strafrechtlichen Ahnung der Novemberpogrome begann mit dem „Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit”, das die Bundesregierung am 31. Dezember 1949 gegen die Bedenken des Hochkommissars John Jay McCloy erließ und alle Strafen unterhalb von sechs Monaten amnestierte. Dieses politische Signal wurde von der Richterschaft, die inzwischen wieder belastete ehemalige Nationalsozialisten in ihren Reihen hatte, nicht überhört. Mehrere Verfahren wurden eingestellt, zu einer Anklageerhebung kam es deutlich seltener und lediglich die Fälle von schwerem Landfriedensbruch wurden noch regelmäßig vor Gericht abgeurteilt.

Literatur

  • Günter Brakelmann: Evangelische Kirche und Judenverfolgung. Drei Einblicke. Hartmut Spenner Verlag, Waltrop 2001, ISBN 3933688531
  • Hans-Jürgen Döscher: „Reichskristallnacht”. Die Novemberpogrome 1938. Econ Tb. 2000, ISBN 3612267531
  • Thorsten Eitz: Reichskristallnacht. In: Georg Stötzel/Thorsten Eitz: Zeitgeschichtliches Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Hildesheim/Zürich/New York 2003 ISBN 3487117592
  • Max Eschelbacher: Der zehnte November 1938. Klartext-Verlag, Essen 2001, ISBN 388474724X
  • Hartmut Metzger: Kristallnacht. Stuttgart 1978
  • Emanuel Feinermann, Rita Thalmann: Die Kristallnacht. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3434462112
  • Wolf-Arno Kropat: Reichskristallnacht. 1997, ISBN 3921434181
  • Dieter Obst: „Reichskristallnacht”. Ursachen und Verlauf des antisemistischen Pogroms vom November 1938. Bern 1991, ISBN 3631434812
  • Dieter Obst: Die „Reichskristallnacht” im Spiegel westdeutscher Nachkriegsprozessakten und als Gegenstand der Strafverfolgung. In: Geschichte ín Wissenschaft und Unterricht 44 (1993), Seite 205-217
  • Eberhard Röhm, Jörg Thierfelder: Juden - Christen - Deutsche. Besonders: 1938-1941: Ausgestoßen. Calwer Verlag 1995, Teilband 3/1: ISBN 3766833936, Teilband 3/2: ISBN 3766833987
  • Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt/M 2005 (zur „Judenbuße”: S. 60-66), ISBN 3100004205
  • Israel Gutman, Eberhard Jäckel, Peter Longerich: Enzyklopädie des Holocaust. Argon Verlag 2002, Band 1-3, ISBN 3870243007
  • Uwe Dietrich Adam: Judenpolitik im Dritten Reich. Droste Verlag, Düsseldorf 1972 ISBN 3-7700-0317-9 (S. 160ff: Hitlers Plan einer Judenstrafsteuer)