Die Kirche St. Martinus und Maria, meist nur „St. Martin“ genannt, ist die Stadtpfarrkirche der Kreisstadt Biberach an der Riß in Baden-Württemberg. Es handelt sich um eine Simultankirche[1], die von der katholischen und der evangelischen Kirchengemeinde genutzt wird. Sie befindet sich in zentraler Lage inmitten der Biberacher Altstadt und ist die älteste und zugleich die größte Kirche Biberachs. Die Gemeinde gehört zur Diözese Rottenburg-Stuttgart[2]



Mittelalter
Aufgrund des St.-Martin-Patroziniums wird darauf geschlossen, dass es hier schon im 7. Jahrhundert eine Kirche oder Kapelle gegeben haben muss. Der Standort der Vorgängerbauten ist nicht geklärt, archäologische Grabungen zur Erforschung stehen noch aus.[3]
Um 1100 wurde dann eine romanische Kirche errichtet und zwischen 1320 und 1370 durch eine gotische, dreischiffige Basilika ersetzt. Die an den Chor angrenzenden Kapellen und dessen Einwölbung stammen aus dem 15. Jahrhundert. Nach vorgenommenen Stilvergleichen steht fest, dass in der Zeit zwischen 1320 und 1330 mit dem Bau des Chores begonnen wurde. Das Dachgebälk über dem Chor wurde um 1337/1338 gezimmert, das über dem Schiff um 1365/66. Es entstand eine gotische Basilika mit drei Schiffen. Die Achteckpfeiler ruhen auf spitzbogigen Scheidbögen. Der Dreiachtelchor ist eingezogen, der Westturm ist mit einem Dachhelm mit vier Giebeln bekrönt. Der Bau war in seiner Schlichtheit zu Anfang den nüchternen Sakralbauten der Bettelorden verpflichtet. Wohl in den vierziger Jahren übernahm wahrscheinlich der Baumeister Heinrich Kädeli die Bauleitung. Es wurde der Fassadenturm angefügt. Im 15. Jahrhundert wurden an den Chor eine Sakristei und zwei Nebenkapellen angebaut. Die Patriziern Eberhard II von Brandenburg und Martin Weißhaupt stifteten eine Gesellschaftskapelle, die 1449 an der Nordseite angefügt und geweiht wurde. Der städtische Werkmeister Hans Hartmann wölbte von 1475 bis 1476 den Altarraum mit einer halbrunden Tonne mit steilen Stichkappen ein. Auf den vier Schlusssteinen sind auch die beiden Kirchenheiligen zu sehen. Der Biber-Schlussstein wird im Museum ausgestellt.[4]
Reformation
Die Reformation in Biberach gipfelte in einem Bildersturm, bei dem am 29. Juni 1531 unter anderem der Hochaltar der Kirche mit Tafeln von Martin Schongauer zerstört wurde. Die römisch-katholische Messe wurde verboten, durch das Augsburger Interim von 1548 aber wieder zugelassen. Gesellschaftlich stand in der Stadt Biberach zu dieser Zeit eine überwiegend protestantische Bevölkerungsmehrheit von etwa 90 % einer römisch-katholisch verbliebenen Adelsschicht von etwa 10 % gegenüber. So nutzten Protestanten und Katholiken die Kirche seit dem 13. August 1548 gemeinsam. Das galt vor allem für das Kirchenschiff, der Chor blieb rein römisch-katholisch. Dieser Zustand wurde durch den Westfälischen Frieden, der sich auf das Normaljahr 1624 bezog, festgeschrieben und besteht noch heute. 1584 wurde die Kirche nach einem Brand, verursacht durch einen Blitzschlag, schwer beschädigt; dabei verbrannten die Orgel und die Uhr. Der Werkmeister Hans Fischer beseitigte zusammen mit dem Maurer Hans Kuzberger innerhalb eines Jahres die Schäden. Hans Baumhauer malte eine Brandtafel, nach der das Westwerk in etwa sein heutiges Aussehen erhielt.[5]
Neuzeit
Ausgestaltung
Ein Blitzschlag verursachte 1775 Schäden am Dach des Turmes und an der Orgel. Hierbei wurden auch die Chororgel und der Stuckzierrat beschädigt. Der Orgelbauer Joseph Höß aus Ochsenhausen baute dann neue Pfeifenwerke. 1746 wurde die gotische Kirche im Innern weitgehend barockisiert, erhielt Rundbogenfenster und Johannes Zick malte das Deckenfresko im Mittelschiff. Es zeigt die Geschichte des Jesus von Nazareth von der Geburt bis zur Himmelfahrt.[6] Ein Jahr später wurden die Seitenschiffe ausgestaltet. Die eindrucksvollen Deckengemälde im Stil des Rokoko haben im (bikonfessionell genutzten) Kirchenschiff Themen, die für beide Konfessionen tragbar waren, im Chor dagegen – ausschließlich von den Katholiken genutzt - herrscht ein römisch-katholisches Bildprogramm, das etwa eine Allegorie der Kirche zeigt, gekrönt von der päpstlichen Tiara.[7] Unter der Leitung des Stadtbaumeisters Richard Preiser wurde von 1880 bis 1881 eine neue Empore aufgestellt und eine neue Orgel angeschafft. Mit Unterstützung beider Konfessionen wurden die Altäre, das Tafelgemälde, die Heiligenfiguren, die Deckenfresken, der Ölberg, die Beichtstühle, das Chorgestühl, die Windfänge, die Türen, die Fenster, die Wendeltreppe, die Bänke und die Fußböden umfassend reonoviert.[8] Eine zweite evangelische Sakristei wurde bei der Renovierung von 1963 bis 1967 in den sogenannten Nonnenschopf gebaut. Es wurden neue Fenster eingebaut und die Orgelempore erweitert. Die Deckengemälde waren verwittert und mussten verfestigt und restauriert werden. In dieser Zeit wurden auch alle Stuckarbeiten und die Wandgemälde renoviert; der Ambo und der Volksaltar wurden aufgestellt. Der Außenbau wurde von 1985 bis 1986 nach Befund gestaltet. ref>Otto Beck: Stadtpfarrkirche St. Martinus und Maria Biberach a. d. Riß. 5. Auflage. Schnell und Steiner, Regensburg 2006, ISBN 3-7954-4322-9 Seiten 5 und 6</ref>
Simultaneum
Die Kirche wird auch heute noch von beiden Konfessionen nach dem überkommenen Schlüssel genutzt. Die römisch-katholische Gemeinde besitzt zudem zwei Gemeindehäuser in unmittelbarer Nachbarschaft zur Kirche, das Gemeindehaus St. Martin und das neuere Gemeindehaus St. Maria, die evangelische Gemeinde das Martin-Luther-Gemeindehaus.
katholische Sakristei
Die katholische Sakristei schließt seit 1720 die Chorapsis mit drei Räumen im Dreiachtelschluss ab. Die nicht öffentlich zugängliche Sakristei beherbergt wertvolle Sakristeischränke, den bedeutsamen Kirchenschatz, zu dem eine Turmmonstranz von 1612, ein spätromanisches Kruzifix aus der Zeit um 1220 und einen Festtagskelch, der 1786 vonJohann Ignaz Baur, einem Goldschmied aus Augsburg getrieben wurde, gehört, sowie historische Messgewänder.[9]
Kapellen
Brandenburgische Kapelle
Die Brandenburgische Kapelle wurde von 1999 bis 2000 als Andachtsraum eingerichtet. Die zwei Barockgitter standen früher an den Seiten des Mittelaltares unter dem Chorbogen. Das Kruzifix aus der Zeit um 1520 erinnert stark an Arbeiten von Michael Zeynsler. Bemerkenswert sind auch die Assistenzfiguren des Jüngers Johannes und der schmerzhaften Mutter aus dem späten 15. Jahrhundert.[10]
Pflummernkapelle
Diese Kapelle wurde 1603 von der aus der Gegend um Riedlingen stammenden Patrizierfamilei Pflummern gestiftet. Unter der Kapelle befindet sich die Gruft der Familie. Das mit Muschelwerk umrahmte Altarbild, das 1621 von dem Stadtmaler Dietrich Meuß aus Feldkirch gemalt wurde, ist bemerkenswert. In der Kapelle werden bedeutende Grabmale und Wappen gezeigt.[11] Von 1880 wurde die Kapelle so wie im Ursprung, in einen gotischen Raum umgewandelt. Sein heutiges Aussehen erhielt die Kapelle bei einer Renovierung in den Jahren 1963 bis 1967[12]
Marienkapelle
In der Marienkapelle steht der frühere Marienaltar, dessen Mittelpunkt eine als sehr schön geltende frühbarocke Madonna ist. Sie wurde um 1660 von Georg Grassender gefertigt. Die Madonna wird von den Heiligen Katharina von Siena und Dominikus begleitet und um 1730 geschaffen. Katharina und Dominikus werden im Volksmund auch als Rosenkranzheilige verehrt.[13]
Ausstattung
Orgel
Schon vor 1484 muss die Kirche eine Orgel besessen haben, denn es gab eine Pfründe für einen Priesterorganisten. Vor 1490 war eine Orgel im Chor vorhanden, ab 1490 wurde eine neue große Orgel gebaut.[14] Joseph Höß schuf dann zwischen 1777 und 1778 die Hauptorgel.[15] Die Werkstatt Reiser aus Biberach errichtete zwischen 1966 und 1967 einen Neubau, der inzwischen 56 Register auf drei Manualen samt Pedal besitzt. Das Werk wurde 2003 umfassend in Stand gesetzt, neu intoniert und erhielt einen neuen Spieltisch.[16] Die Hauptorgel hat folgende Disposition:[17]
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- Koppeln: III/II, I/II, III/I, I/P, II/P, III/P.
- Spielhilfen: 4 freie Kombinationen (A, B, C, D); Auslöser; Organo pleno; Tutti; Pedalumschaltung; Zungen ab; 2 freie Pedalkombinationen (E, F); Auslöser; Tremulanten ab; Crescendo Walze.
Altäre
- Im Innenraum stehen insgesamt neun Altäre, in der Zeit um 1500 besaß die Kirche 17 Altäre.[18]
- Ein Choraltar wurde 1604 von Hans Dürners angefertigt, den jetzigen Hochaltar fertigte Johann Eucharius Hermanns 1720, der Altar wurde von 1746 bis 1748 grundlegend im Stil des Barock umgearbeitet.[19]
- Der Candidusaltar wurde in der Zeit von 1768 bis 1769 in der südlichen Chorkapelle aufgestellt.
Sonstige Ausstattung
- Die spätgotische Kanzel wurde 1511 von Hans Hochmann angefertigt; Prediger beider Konfessionen benutzen sie. Am Aufgang sind in lateinischer Sprache folgende Worte angebracht: Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden! (aus Jesaja 58,1]. Die Büsten der Kirchenväter, die früher auf dem Kanzelkorb standen, fielen dem Bildersturm zum Opfer. An deren Stelle wurde feingliedriges Maßwerk angebracht. In dem Deckenfresko über der Kanzel ist der
zwölfjährige, im Tempel lehrende Jesus zu sehen.[20]
- Die Kopie der Nenninger Pietà von Ignaz Günther wurde von dem Biberacher Christian Glöckler angefertigt, sie steht vor der Brandenburger Kapelle.[21]
- An einem Pfeiler im Mittelschiff steht eine Figurengruppe mit der Darstellung der Anna selbdritt. Die Plastik wurde um 1515 vermutlich von Michael Zeynsler, im Stil der Spätgotik gefertigt. Sie ist eine der wenigen Darstellungen, die den Bildersturm von 1531 überdauerten.[22]
- Im Chorbogen zeigt eine dort angebrachte Uhr die Zeit und erinnert an die Sterblichkeit und die Endlichkeit. Dies wird durch den doppelgesichtigen Chronos versinnbildlicht, der sich an die Uhr anlehnt. Chronos schaut nach rechts mit einem dunkel gemalten alten Gesicht und nach links mit einem hellen jugendlichen.
- In der Candiduskapelle sind in einer Nische zwei Sitze der spätgotischen Chorbank erhalten.[23]
- Im Chorbogen hängt ein Kruzifixus.
- Die Tafelbilder von J. Esperlin an den Wänden des Seitenschiffes zeigen Evangelisten und Apostel.[24]
- Das Chorgestühl aus Eiche und Nussbaum baute 1748 der Kapellenschreiner Johann Konrad Fichtel aus Biberach. Die Ausführung ist relativ schlicht, einige schmückende Laubwerkgirlanden und Blattornamente sind zu sehen. Die Rückwand wurde mit einigen Einlegearbeiten versehen.[25]
Wissenswert
- Im Braith-Mali-Museum ist in der Abteilung zur Stadtgeschichte auch die Eigenschaft von St. Martin als Simultankirche thematisiert. In einer Vitrine ist dort ein katholischer und ein evangelischer Putzeimer ausgestellt.
- Das Simultaneum Bauhütte e.V. ist ein Förderverein, der sich die Erneuerung der Heizung zum Ziel gesetzt hat und Geld für den Erhalt des Gebäudes sammelt.[26]
Siehe auch
Literatur
- Otto Beck: Stadtpfarrkirche St. Martinus und Maria Biberach a. d. Riß. 5. Auflage. Schnell und Steiner, Regensburg 2006, ISBN 3-7954-4322-9
- Wolfgang Manecke, Johannes Mayr: Historische Orgeln im Landkreis Biberach. Schnell und Steiner, Regensburg 1995, ISBN 3-7954-1069-X
- Helmut Völkl: Orgeln in Württemberg. Hänssler-Verlag, Stuttgart-Neuhausen 1986
Einzelnachweise
- ↑ Hinweis auf die Simulatankirche
- ↑ Zugehörigkeit zur Diözese
- ↑ Otto Beck: Stadtpfarrkirche St. Martinus und Maria Biberach a. d. Riß. 5. Auflage. Schnell und Steiner, Regensburg 2006, ISBN 3-7954-4322-9 Seite 3
- ↑ Otto Beck: Stadtpfarrkirche St. Martinus und Maria Biberach a. d. Riß. 5. Auflage. Schnell und Steiner, Regensburg 2006, ISBN 3-7954-4322-9 Seite 3
- ↑ Otto Beck: Stadtpfarrkirche St. Martinus und Maria Biberach a. d. Riß. 5. Auflage. Schnell und Steiner, Regensburg 2006, ISBN 3-7954-4322-9 Seite 4
- ↑ Fresken von Zick
- ↑ Deckenmalereien
- ↑ Otto Beck: Stadtpfarrkirche St. Martinus und Maria Biberach a. d. Riß. 5. Auflage. Schnell und Steiner, Regensburg 2006, ISBN 3-7954-4322-9 Seite 4
- ↑ katholische Sakristei
- ↑ Brandenburgische Kapelle
- ↑ Pflummernkapelle
- ↑ Otto Beck: Stadtpfarrkirche St. Martinus und Maria Biberach a. d. Riß. 5. Auflage. Schnell und Steiner, Regensburg 2006, ISBN 3-7954-4322-9 Seiten 5 und 6
- ↑ Marienkapelle
- ↑ Völkl, S. 12.
- ↑ Völkl, S. 20
- ↑ Völkl, S. 361. Die ausführliche Geschichte der Hauptorgeln und der Chororgel findet sich bei Manecke, S. 64-74.
- ↑ Wolfgang Manecke, Johannes Mayr: Historische Orgeln in Oberschwaben. Der Landkreis Biberach. Schnell & Steiner, Regensburg 1995, ISBN 3-7954-1069-X, S. 68sq.
- ↑ Otto Beck: Stadtpfarrkirche St. Martinus und Maria Biberach a. d. Riß. 5. Auflage. Schnell und Steiner, Regensburg 2006, ISBN 3-7954-4322-9 Seite 18
- ↑ Otto Beck: Stadtpfarrkirche St. Martinus und Maria Biberach a. d. Riß. 5. Auflage. Schnell und Steiner, Regensburg 2006, ISBN 3-7954-4322-9 Seite 4
- ↑ Kanzel und Fresko
- ↑ Kopie der Nenninger Pietà
- ↑ Anna selbdritt
- ↑ Otto Beck: Stadtpfarrkirche St. Martinus und Maria Biberach a. d. Riß. 5. Auflage. Schnell und Steiner, Regensburg 2006, ISBN 3-7954-4322-9
- ↑ Uhr und Kruzifixus im Chorbogen und Tafelbilder von Esperlin
- ↑ Otto Beck: Stadtpfarrkirche St. Martinus und Maria Biberach a. d. Riß. 5. Auflage. Schnell und Steiner, Regensburg 2006, ISBN 3-7954-4322-9
- ↑ Simultaneum Bauhütte
Weblinks
Koordinaten: 48° 5′ 55″ N, 9° 47′ 21″ O