Antike Judenfeindschaft bezeichnet eine Ablehnung des Judentums, der Hebräer oder Israeliten in der Epoche der Antike. Diese umfasst hier etwa den Zeitraum von der Staatsgründung Israels um 1000 v. Chr. bis zur Konstantinischen Wende, infolge derer das Christentum 380 zur Staatsreligion des weströmischen Reichs wurde. In dieser Zeitspanne entwickelten sich bereits einige wesentliche Wurzeln des mittelalterlichen Antijudaismus und neuzeitlichen Antisemitismus in der Geschichte Europas.
Die biblische Gegenüberstellung Israels zu den Völkern
Die Frage nach den historischen Ursprüngen und Ursachen der europäischen Judenfeindlichkeit wurde erst seit dem Holocaust von Historikern ernsthaft gestellt. Denn Feindschaft gegen Juden lässt sich weit zurückverfolgen: Sie ist ein bestimmendes Merkmal schon der biblischen Geschichtsschreibung.
In den vorderasiatischen Hochkulturen der Antike wurde das Judentum erst nach seiner Staatsgründung um 1000 v. Chr. als politische Größe wahrnehmbar. Im Auf und Ab wechselnder Großreiche wurde das Gebiet des heutigen Palästina häufig besetzt: von Ägyptern, Assyrern, Babyloniern, Persern, Medern, Griechen, Römern. Deren Politik richtete sich oft auf Vereinheitlichung der unterworfenen Völker und damit gegen deren eigene Traditionen. Eine besondere „Judenverfolgung“ kann daraus nicht abgeleitet werden.
Die hebräische Bibel zeigt jedoch, dass das Judentum seine Identität nur im Gegensatz zu den übermächtigen Fremdkulten seiner Umgebung bewahren konnte. Das Volk Israel sah sich von frühesten Anfängen an als Fremdkörper in einer feindlichen Umwelt, gegen die es sich behaupten musste. Es verstand seine Herkunft als Erwählung zum „Volk Gottes“ und sein Werden zum Volk als gnädige Führung und Rettung durch den Schöpfergott der Welt, der seine Vorfahren aus der Sklaverei aus Ägypten – dem damals führenden Großreich – befreit habe. Das 1. Gebot des Dekalogs verbot Juden darum jede Überhöhung eines politischen Systems mit Ewigkeitsanspruch.
In diesem Erwählungsglauben und Widerspruch der israelitischen Religion zu den Gottkönigskulten der antiken Imperien ist eine Wurzel der späteren, teilweise systematischen Judenfeindschaft der griechisch-römischen Oberschichten zu finden.
Die Diaspora-Gemeinden im Hellenismus
Durch die Exilierung eines Teils der Juden und die Intensivierung von internationalen Handelsbeziehungen entstanden seit dem 6. Jahrhundert v. Chr., besonders aber seit der Hellenisierung im Gefolge von Alexander dem Großen überall in der damals bekannten Welt jüdische Enklaven und Gemeinden außerhalb Israels.
Diese pflegten zum einen ihre eigenen Traditionen und grenzten sich gegen ihre Umgebung ab, zum anderen aber auch einen regen Austausch mit anderen Kulturen. So kam es in Alexandria in Ägypten, einer der größten damaligen Metropolen, zu einer wissenschaftlich-philosophischen Blütezeit, aus der auch die griechische Bibelübersetzung der Septuaginta hervorging.
Juden waren in den aufstrebenden Städten des Mittelmeerraums meist beliebt und wurden privilegiert, um sie zum dauerhaften Ansiedeln zu bewegen. Ihre Sabbat-Ruhe und Götzen-Ablehnung wurden in der kosmopolitischen multikulturellen Umgebung respektiert. Sie blieben religiös nonkonformistisch, verhielten sich politisch aber überwiegend loyal zu Herrschern, obwohl das im Judentum umstritten war. Ihre Handelsprivilegien führten unter Umständen aber auch zu Spannungen mit der übrigen Stadtbevölkerung.
Von frühen Pogromen bis zur Tempelzerstörung
Nach dem Buch Esther (entstanden um 150 v. Chr.) versuchte schon Haman, ein Führer der Perser, seinen König Ahasveros um 472 v. Chr. zum Ausrotten aller Juden seines Machtbereichs zu bewegen (Est. 3, 8f):
- Es gibt ein Volk, zerstreut und abgesondert unter allen Völkern in allen Ländern deines Königreichs, und ihr Gesetz ist anders als das aller Völker, und sie handeln nicht nach des Königs Gesetzen. Es ziemt dem König nicht, sie gewähren zu lassen. Gefällt es ihm, so lasse er verfügen, dass man sie umbringe. Dann werde ich 10000 Zentner Silber abwiegen... und in die Schatzkammer des Königs bringen lassen.
Hier ging es also um eine Bereicherung am Besitz der Juden, die mit ihrer religiösen Fremdartigkeit gerechtfertigt wurde. Eine außerbiblische Bestätigung dieses Plans fehlt; aber die jüdische Geschichtsschreibung aus der Entstehungszeit des Berichts ist sonst recht zuverlässig.
410 v. Chr. wurde der JHWH-Tempel in Elephantine (Ägypten) zerstört. Dort hatte es seit der Perserzeit eine Militärkolonie von Juden gegeben. Diese wurden von den Ägyptern als Vertreter der Perser angesehen. Nachdem diese abgezogen waren, konnte offenbar keine religiöse Unterordnung der verbliebenen Juden erreicht werden.
In der griechisch-makedonischen Zeit bildeten sich dann vermehrt abgeschlossene Diaspora-Gemeinden, in denen die Juden ihren Glauben relativ unbehelligt praktizieren konnten. Als ethnische Minderheit waren sie vom guten Willen der Obrigkeit abhängig. Ihre Autonomierechte wurden von der einheimischen Bevölkerung, die ja ebenso „fremdbeherrscht“ lebte, eifersüchtig beäugt.
Nach Alexanders Tod 323 v. Chr. zerbrach sein Großreich, und es kam zu Nachfolgekriegen. Die Seleukiden versuchten ihre Macht durch stärkere Hellenisierung zu sichern. Dabei stießen sie in Israel jedoch auf erbitterten Widerstand. Den Makkabäern gelang es (175–164 v. Chr.), Antiochus IV. aus Israel zu verjagen. Dieser galt im Schrifttum jener Zeit als Erzfeind und „Gotteslästerer“, da er Israels Religion vernichten wollte (Dan 7,25).
88 v. Chr. kam es aus unbekannten Gründen zu einem Blutbad an Juden durch Ptolemaios Lathyros bei Asaphon.
64 v. Chr. eroberte Pompeius Palästina für die Römer. Diese schützten anfangs die Privilegien der Juden in ihrem Reich. Doch mit dessen Ausdehnung mussten sie ihre Herrschaft stärker zentralisieren. Rückhalt dafür gewannen die römischen Kaiser oft nur, wenn sie sich das Wohlverhalten einiger Völker erkauften und auf deren Wünsche eingingen. Diese „Toleranz“ ging mit der Durchsetzung des Kaiserkults einher, den Juden nicht ohne religiöse Selbstaufgabe anerkennen konnten.
Im Jahr 6 n. Chr. hob Augustus die Privilegien der Juden auf, gestattete „nationalistischen“ Kreisen Hetze gegen sie und Beraubung ihres Eigentums. Kaiser Tiberius verfügte 19 die Vertreibung der Juden aus Rom und später die Einsetzung des Pontius Pilatus zum Statthalter Judäas. Dieser provozierte die Juden Israels gleich beim Amtsantritt mit Kaiserstandarten im Jerusalemer Tempelbezirk. Sein brutales Durchgreifen gegen jede antirömische Regung wurde vom antijüdischen Berater des Kaisers, Sejanus, gedeckt.
41 wollte Caligula seine Kolossalstatue im Tempel aufstellen lassen. Das hätte zum Krieg geführt. Er wurde vorher ermordet. Sein Nachfolger Claudius versuchte die wachsenden Spannungen vergeblich zu mildern. Es folgten drei Aufstände der Juden gegen die Römer: der Jüdische Aufstand 66–73, der Aufstand in Alexandria 115–117 und der Aufstand Simon Bar Kochbas 132–135.
Schon der erste Krieg endete mit der Zerstörung des Tempels und der Tempelstadt, nach dem dritten verloren die Juden auch noch ihr Recht auf Wiederansiedelung in Jerusalem und die relative staatliche Autonomie. Palästina wurde direkter römischer Verwaltung unterstellt, seine Bewohner waren großenteils ermordet, vertrieben oder verhungert. Die restlichen Juden wurden im ganzen römischen Reich zerstreut.
Die Römer wollten die Aufständischen vernichten und künftige Aufstände verhindern, hatten aber damit nicht vor, alle Juden auszurotten. Es ging ihnen um Machtsicherung und Unterdrückung jüdischer Glaubenstraditionen, aus denen die Rebellion hervorgegangen war.
Ägyptischer und römischer Antijudaismus
Im Verlauf der sich zuspitzenden politischen Konflikte mit Juden verstärkte sich auf beiden Seiten die wechselseitige religiöse und kulturelle Ablehnung.
In Alexandria wurde seit dem Bekanntwerden der Bibel eine antijüdische Hetze entfacht. Die heidnische Bevölkerung betrachtete das Buch Exodus des Pentateuch als anti-ägyptische Propaganda. So schufen hellenistische Autoren wie Mantheo, Lysimachus, Chaeremon eine Anti-Exodus-Tradition, die sich gegen Israels Erwählungsbewusstsein und seine biblische Herkunftsbeschreibung richtete: Juden seien gebürtige Ägypter gewesen, die wegen Aussatz und anderer Seuchen gewaltsam vertrieben worden seien und erst unter Moses eine eigene Nation gebildet hätten. Auch ihre Gebräuche, z.B. der Sabbat, wurden polemisch verzerrt erklärt: Die Juden seien so krank und schwach gewesen, dass sie sich immer nach sechs Tagen Wanderung einen Tag hätten ausruhen müssen. - 38 n. Chr. folgte mit kaiserlicher Duldung ein großes Pogrom an den Juden in Alexandria: Ihre Synagogen wurden zerstört, viele wurden auf grausamste Weise gefoltert und massakriert, der Rest wurde verjagt.
Auf diese Verachtung und Bedrohung reagierten die Diasporajuden im römischen Reich mit verstärkter Abgrenzung: Sie verweigerten die Tisch-, Ehe- und Kult-Gemeinschaft mit Andersgläubigen vor Ort. Das sahen diese wieder als Beweis dafür, dass Juden (wahlweise) arrogant und elitär, primitiv und rückständig seien.
Die ägyptische antijüdische Polemik wurde von Roms Dichtern nahtlos übernommen: Cicero, Seneca, Quintilian, Juvenal u. a. griffen Motive daraus auf und verbreiteten sie. Man kannte jüdische Sitten wie die Beschneidung kaum und bewertete sie als „barbarisch“. Bei Tacitus etwa hieß es zudem, Juden seien „den Göttern verhasst“ und „den übrigen Religionen entgegengesetzt“. Auch der Vorwurf des odium generis – Hass auf alle Menschen – wurde stereotyp.
Das unterschied diese antijüdische Polemik von der sonstigen römischen Verachtung der „Barbaren“. Darum muss man hier von einem antiken Antijudaismus in Roms Bildungsschicht des 1. Jahrhunderts sprechen. Dieser verschärfte sich nach den Niederlagen der Juden in Israel. Er lag schon vor, als das Christentum entstand und wurde dann von ihm übernommen, um sich gegenüber den Römern von den Juden abzugrenzen.
Jüdische Reaktionen
Im ersten Jahrhundert lassen sich auf jüdischer Seite grob drei Reaktionsmuster unterscheiden:
- Anpassung und Apologetik:
Gebildete Historiker und Philosophen wie Flavius Josephus und Philo von Alexandria verteidigten das Judentum gegen andere hellenistische und römische Schriftsteller. Josephus erklärt deren Ablehnung aus dem „Hass und Neid“ der Ägypter, aus zwei konträren kulturellen Glaubenssystemen und wandte einige Vorwürfe gegen die Urheber zurück.
- politisch-religiöser Widerstand:
Die Zeloten übten strikte Absonderung von Heiden, Hass auf jüdische Kollaborateure und gewaltsame Selbstverteidigung mit Attentaten und Bereitschaft zum Martyrium (z.B. kollektiver Suizid in Massada). Dem entsprachen Rache- und Machtphantasien in der jüdischen Apokalyptik (z.B. Dan. 7, 26f).
- Konsolidierung, Bewahrung und Weiterentwicklung der eigenen Traditionen:
So entstanden im 1. Jahrhundert aus der Halacha (mündlichen Tora-Auslegung) und Mischna (Sammlung rabbinischer Toraauslegungen) die bis heute zentralen religiösen Schriften des Judentums: der Babylonische und der Jerusalemer Talmud.
Die christliche Verschärfung antiker Vorurteile
Während die ägytische Polemik gegen die Exodustradition sich leicht als Verzerrung der Bibel widerlegen ließ, entzog die frühe christliche Theologie den jüdischen Apologeten diese Basis. Sie behauptete mit dem Erscheinen des Messias Jesus von Nazaret eine Erfüllung der alttestamentlichen Verheißungen zu besitzen, die Israels Heilserwartung überholt und beendet habe. Daher sei die Erwählung zum Volk Gottes nun auf die übergegangen, die an Jesus Christus glauben.
Als die Juden ihr Glaubenszentrum in Jerusalem verloren hatten, wurde aus dieser innerjüdischen Abgrenzung bald eine antijudaistische Theologie, die gegenüber Römern auch auf die hellenistisch-römische Polemik gegen Juden zurückgriff. Nun bekamen diese Zerrbilder ein neues Fundament: Israel wurde grundsätzlich jeder eigene Zugang zum Heil abgesprochen. Die Alexandriner hatten die Juden vertrieben, weil die „Seuche“ ihres Erwählungsbewusstseins sich nicht mit ihren hellenistisch-kosmopolitischen Vorstellungen vertrug: Die christliche Theologie ging dagegen den Weg der völligen theologischen Enteignung Israels. Damit war der Grund gelegt für die durchgängige Judenfeindlichkeit im christlichen Europa.
Dies führte in der Antike nicht sofort zur Ausgrenzung der Juden, wohl aber zu einer Veränderung der Lage des Diasporajudentums: Nun sahen sich die Juden im römischen Reich nicht nur einem feindlichen Staat, sondern auch einer konkurrierenden Religion gegenübergestellt, die dieselben religiösen Traditionen für sich beanspruchte wie sie selbst, diese aber gegen das Judentum wendete.
Dennoch versuchten die verschiedenen christlichen Kaiser teils die römische Rechtstraditon zu bewahren und erließen auch Schutzvorschriften für Juden. Dies wurde nötig, weil die jüdischen Gemeinden nach der Konstantinischen Wende als früher teilweise rechtlich privilegierte Minderheit nun mehr und mehr an den Rand gedrängt, verachtet und ausgegrenzt wurden.
Die weitere Entwicklung stellt der Artikel Antijudaismus im Mittelalter dar.
Literatur
- Carsten Peter Thiede, Urs Stingelin: Die Wurzeln des Antisemitismus. Judenfeindschaft in der Antike, im frühen Christentum und im Koran, Brunnen, Gießen 2002, ISBN 3-7655-1264-8.