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„Fahrendes Volk“ – Versionsunterschied

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{{Begriffsklärungshinweis|Zum Zirkusfilm von 1938 siehe [[Fahrendes Volk (Film)]].}}
Der Begriff '''Fahrendes [[Volk]]''' ist heute im Umgangsdeutsch veraltet und spielt nur bei der Selbstbeschreibung der Fahrenden noch eine Rolle.
{{Weiterleitungshinweis|Vagabund|Zu weiteren Bedeutungen siehe [[Vagabund (Begriffsklärung)]].}}
'''Fahrendes Volk''' (auch '''fahrende Leute''') bezeichnet eine Vielfalt von Bevölkerungsgruppen von niedrigem sozialen [[Ständegesellschaft|Stand]]. Gemeinsam waren diesen sehr unterschiedlichen vagabundierenden Individuen und Gruppen verschiedener Herkunft und Tätigkeit
* ihre Ausgrenzung aus der ansässigen Gesellschaft,
* ihre Armut und fehlende Schulbildung,
* eine damit einhergehende zeitweise oder dauerhafte Erwerbsmigration in ökonomische Nischen
* und der auf diesen Menschen liegende mehrheitsgesellschaftliche Verdacht der [[Delinquenz]].


In der Regel waren die Angehörigen dieses Bevölkerungsteils unter stigmatisierenden Bezeichnungen wie „herrenloses Gesindel“ aus der Untertanenschaft ausgeschlossen. Fahrendes Volk reproduzierte sich zum einen aus sich selbst. Zum anderen erhielt es Zuzug von Absteigern aus dem sesshaften [[Soziale Schicht#Schichtenmodelle|Unterschichtenmilieu]].
Als '''Fahrende''' bezeichnet man keine fest umrissene [[Volk|ethnisch]]e Gruppe, sondern solche Gruppen, die mehrheitlich einen "fahrenden" [[Lebensstil]] pflegen.
[[Image:Jan Victors 004.jpg|thumb|Ein Quacksalber auf dem Markt]]
== Definition im Wandel der Zeit ==
Früher wurden als "Fahrendes Volk" (auch ''Fahrende Leute'' oder ''Fahrende'') zahlreiche, oft [[soziale Differenzierung|sehr unterschiedliche]] Gruppierungen bezeichnet. Dazu gehörten [[Wanderhändler]] und -höker (von Büchern: [[Kolportage|Kolporteur]]e), "Fahrende [[Scholar]]en" (z. B. als Briefschreiber auf Märkten), [[Wanderprediger]], Kirmesleute (wie [[Schausteller]], [[Zirkus]]angehörige, Wander[[schauspieler]], [[Gaukler]], Bärenführer, Possenreißer), Wanderprofessionen ([[Kesselflicker]], [[Scherenschleifer]], [[Korbflechter]], [[Löffelschnitzer]], [[Quacksalber]], [[Dirne]]n, [[Tanzmeister]], [[Kiepenkerl]]e). Auch wandernde [[Bettler]] (so genannte ''Landstreicher'') und [[Dieb]]e (so genannte Beutelschneider auf Kirchfesten und Jahrmärkten) wurden dazu gezählt. Auch [[Jenische]] und [[Pavee|Tinker]] zählen zu den Fahrenden. Ferner aber auch so genannte "[[Zigeuner]]stämme" bzw. [[Roma]] ([[Sinti]], [[Jerli]], [[Lalleri]], [[Manusch]], [[Lowara]], [[Roma]], [[Kalderasch]]).
[[Image:Pfeiffer-1568.png|thumb|Mittelalterliche Pfeifer]]
Etliche – nicht alle – von diesen wurden als "Vaganten" (vom lateinischen ''vagare'' = "herum streifen") beschrieben und beargwöhnt.


Heute reduziert sich eine folklorisierende Verwendung der Bezeichnung „fahrendes Volk“ auf Nachfahren historischer Gruppen, wie sie im [[Schausteller]]-, [[Zirkus]]- und Landfahrermilieu anzutreffen sind. Diese bezeichnen sich selbst als Reisende.
'''Nicht''' zum "Fahrenden Volk" gehörten ortsfeste Bettler und [[Obdachlose]] ("[[Berber (Nichtsesshafter)|Berber]]"); [[Räuber]] und berufsmäßige Taschendiebe (die große Messen und Sportveranstaltungen aufsuchen, aber einen festen Wohnsitz, ggf. auch einen Tarnberuf haben); wandernde [[Geselle]]n des [[Handwerk]]s ("auf der [[Walz]]"), Hausschneider ("auf [[Stöer]]"), unzünftige Handwerker ("[[Bönhase]]n"); Fernkaufleute; Seeleute.


[[Datei:Jan Victors 004.jpg|mini|Ein [[Quacksalber]] auf dem Markt]]
==Rechtliches (historisch)==
Die rechtliche, kirchliche und soziale Geltung blieb bis Ende des Mittelalters sehr gering. Gesetzestexte wie [[Sachsenspiegel]] und [[Schwabenspiegel]] und auch die ältesten Stadtrechte schützten weder das Leben der Fahrenden, geschweige denn deren Unversehrtheit und Eigentum. Sie standen außerhalb der gesellschaftlichen [[Ständeordnung|Standesordnung]]. Gerade auch äußerlich unterschieden sie sich von der heimischen Bevölkerung und den herrschenden Ständen.


==Bedeutung==
== Bezeichnungen ==
[[Datei:Phillipp Zeltner Fahrendes Volk bei Mainz.jpg|mini|Fahrendes Volk am Rheinufer bei Mainz, Gemälde von [[Philipp Zeltner]] um 1900]]
Zu den Fahrenden stießen – besonders in Kriegs- und Notzeiten – immer wieder ruinierte oder entlaufene Angehörige aus anderen sozialen Gruppierungen, zumal aus dem Bauernstand, ferner z.B. [[Knecht]]e oder [[Magd|Mägde]], entlassene ("abgedankte") [[Landsknecht]]e, entlaufene [[Mönch]]e und [[Nonne]]n. Anderen gelang es, sesshaft zu werden. Die Unterstellung eines so genannten "Wandertriebes" wird von der [[Psychologie]] und [[Soziologie]] zurückgewiesen.
In [[Mittelalter]] und [[Frühe Neuzeit|Früher Neuzeit]] wurden als ''fahrendes Volk'' (auch ''fahrende Leute'' oder ''Fahrende'') die Angehörigen zahlreicher unterschiedlicher unterständischer und außerständischer Sozialgruppierungen beschrieben. Die Bandbreite der rechtlosen Außenseiter erweiterte und differenzierte sich im Mittelalter. Angehörige des „niederen Volks“ –&nbsp;sprich der gesellschaftlichen Unterschichten&nbsp;– außerhalb der ständischen Hierarchie und ohne einen festen Wohnsitz galten als ''varende lute,'' eine abwertende Bezeichnung, die oft mit Kriminalität und Ehrlosigkeit ([[Unehrlicher Beruf|Unehrlichkeit]]) konnotiert war.<ref>Fritz Gschnitzer, Reinhart Koselleck, Karl Ferdinand Wagner: ''Volk, Nation, Nationalismus, Masse''. In: [[Otto Brunner (Historiker)|Otto Brunner]], [[Werner Conze]], [[Reinhart Koselleck]] (Hrsg.): ''Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland,'' Bd.&nbsp;7. 1992, S.&nbsp;141–431, hier: S.&nbsp;245–281 („Volk als Masse, Unterschicht“), insbes. S.&nbsp;277&nbsp;ff.</ref>


Historische Bezeichnungen für die Angehörigen dieser sozial, kulturell und ethnisch uneinheitlichen Population von summarisch als „herrenloses Gesindel“ Stigmatisierten waren z.&nbsp;B. „Gängler“, „Landfahrer“, „Landstreicher“, „Landläufer“ (vgl. die in den Niederlanden bis heute gebräuchliche Bezeichnung {{lang|nl|''landloper''}}) oder
Um Nachstellungen und Willkür seitens der städtischen Gerichtsbarkeit zu entgehen, bildeten die Fahrenden oft selbst zunftmäßige Vereinigungen, die unter dem Schutz eines vornehmen Herrn standen (der natürlich zu bezahlen war) mit eigenen Rechten (z.B.: [[Pfeiferrecht]]). Im späteren Mittelalter wandten sich die Fahrenden, deren Anzahl nach den [[Kreuzzug|Kreuzzügen]] immer größer wurde, mit ihren Diensten und Darbietungen fast ausschließlich nur noch an das Volk. Hier zeigten sie ihre Künste als Musikanten, Kraftmenschen, Feuerfresser, Fechter, [[Schwertschlucker]], [[Seiltänzer]] und Puppenspieler. Sie führten seltene Tiere und Behinderte als Missgeburten vor.
„Vagabunden“.<ref group="A">Die letztgenannte Bezeichnung der Vagabunden wird lexikalisch mit ''Landstreicher,'' ''Herumtreiber'' übersetzt: Das Wort Vagabund ist abgeleitet aus dem [[Spätlatein]]ischen ''vagabundus,'' das ''umherschweifend, unstet'' bedeutet und vom [[latein]]ischen Wort [[Unschärfe (Sprache)|vage]] abgeleitet ist, siehe: ''Vagabund'' und ''vage''. In: ''Duden: Das Herkunftswörterbuch''. 4. Auflage 2007.</ref> Aus dem Blickwinkel einer als kollektives Persönlichkeitsmerkmal unterstellten Arbeitsscheu galten sie darüber hinaus als „fremde [[Müßiggang|Müßiggänger]]“. Im 19. Jahrhundert kam auch die Bezeichnung „Wanderer“ auf, später auch „Nichtsesshafte“.<ref>[[Wolfgang Ayaß]]: ''„Vagabunden, Wanderer, Obdachlose und Nichtsesshafte“: eine kleine Begriffsgeschichte der Hilfe für Wohnungslose''. In: ''Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit,'' 43, 2013, Heft 1, S.&nbsp;90–102.</ref>


„Fahren“ ist nicht in der heutigen Bedeutung zu verstehen. Bis weit ins 19. Jahrhundert, als Wohnwagen als Transportmittel und Unterkunft aufkamen, waren „Fahrende“ vor allem zu Fuß unterwegs, mit vielleicht einem zweirädrigen Karren als [[Hundewagen|Hundegespann]] oder selbstgezogen.
Die [[Reformation]] sowie die stärker werdenden Landesverwaltungen bedeuteten einen Rückgang des '''Fahrenden Volkes'''. Ende des [[15. Jahrhundert]]s verschwindet auch langsam die Bezeichnung. Einige wenige wurden als [[Hofnarr]]en und Fechtkünstler sesshaft. Allerdings traten nun neuere Typen auf. Jetzt sah man vermehrt [[Bänkelsänger]], [[Alchimist]]en, [[Beschwörung|Geisterbeschwörer]] (dazu ''vgl.'' [[Scharlatan]]), landfahrende Hausierer und Komödianten.


An der Stelle des folklorisierenden Begriffs „Fahrende“ steht gemeineuropäisch, aber auch als übliche heutige deutsche Selbstbezeichnung ''Reisende''. Zusammenfassende Bezeichnungen für die Nachfahren der historischen Gruppen sind als Selbst- wie als Fremdbezeichnung im Französischen ''gens du voyage,'' im angelsächsischen Sprachraum ''[[Pavee|Travellers]],'' im Schwedischen bzw. Norwegischen ''[[resandefolket]]'' bzw. ''Reisende'' und im Niederländischen ''reizigers''.<ref>Siehe z.&nbsp;B. das Selbstverständnis der schwedischen Selbstorganisation Föreningen Resandefolkets Riksorganisation, {{Webarchiv|url=http://www.resandefolketsriksorganisation.se/?page=5 |wayback=20090221045543 |text=FÖRENINGEN RESANDEFOLKETS RIKSORGANISATION }}, auf resandefolketsriksorganisation.se</ref> Im Englischen grenzt der Terminus gegen [[Roma]] ab.<ref>Siehe z.&nbsp;B. das Selbstverständnis des European Roma and Travellers Forum: {{Webarchiv|url=http://www.ertf.org/ |wayback=20060114065219 |text=European Roma and Travellers Forum }}, auf ertf.org </ref>
Mit aller Vorsicht lässt sich sogar vertreten, dass die Fahrenden, zusammen mit Räubern, Verbannten u.ä., im [[18. Jahrhundert]] mehr als 10% der Gesamtbevölkerung [[Deutschland]]s ausmachten.


=== Vaganten ===
=== Schweiz ===
In der [[Schweiz]] dagegen ist ''Fahrende'' ein staatlich-offizieller und rechtlicher Terminus. Er bezeichnet dort die – allerdings nicht als Einzelgruppen, sondern nur gemeinsam – als kulturelle und „nationale Minderheit“ anerkannten und betrachteten [[Manouches]] (synonym für ''[[Sinti]]'') und [[Jenische]]n mit Schweizer Staatsbürgerschaft.<ref>Siehe: ''Gutachten'' des Bundesamtes für Justiz ''zur Rechtsstellung der Fahrenden in ihrer Eigenschaft als anerkannte nationale Minderheit,'' 27. März 2002, S. 5.</ref>
Der Begriff [[Vagant]] schließt Kriminalität (z.B. [[Diebstahl]], [[Betrug]]) ein, auch ist die Grenze zum Landraub und zur Bandenbildung mit Schwerkriminalität ([[Raub]], Raubmord, oft verbunden mit [[Brandstiftung]]) nicht klar zu ziehen.


{{Siehe auch|Kinder der Landstrasse}}
So war das amtliche und allgemeine Misstrauen gegen sie groß. Der aufgegriffene Vagant erhielt keinen gültigen Pass im modernen Sinne, sondern eine Art Laufzettel, nach dem er auf dem kürzesten Wege seinen angegebenen Zielort oder seine Heimat aufsuchen musste. Bei mehrfacher Festnahme konnte er auch nicht mehr im erforderlichen Maße, sei es durch Bettel, Diebstahl oder gar Arbeit, für seinen Unterhalt sorgen und riskierte zudem als unverbesserlicher Landstreicher in ein [[Arbeitshaus]] gesteckt zu werden oder unter Umständen sogar einem [[Inquisition]]sprozess, falls er sich irgend etwas hatte zuschulden kommen lassen.


=== Landstreicher ===
=== Westdeutschland seit 1945 ===
'''Landstreicher''' ist ein veralteter Begriff für einen Nichtsesshaften. Unter dem Begriff versteht man eine Person, die ohne regelmäßige [[Arbeit]] unter ständigem Wechsel des Nachtquartiers umherzieht. Häufig verdienen Landstreicher ihren Lebensunterhalt durch Betteln um [[Almosen]]. Als ''Landstreicher'' bezeichnet man eigentlich eine unstet lebende Einzelperson ohne familiäre oder historische Verbindungen zu nomadischen Völkern. Trotzdem wurden Gesetze betreffend die ''Landstreicherei'' oft auch gegen Angehörige ''fahrender Völker'' wie [[Jenische]], [[Sinti]] und [[Roma]] angewandt.


[[Bayern]] erließ 1953 eine sogenannte ''Landfahrerordnung''. Diese Regelung sollte Menschen mit nomadischer Lebensweise den örtlichen Aufenthalt madig machen, sie von dort vergraulen. Die bayerischen Politiker vermieden das Wort [[Zigeuner]], weil sie annahmen, so das Verbot rassischer Diskriminierung nach {{Art.|3|gg|juris}} Abs.&nbsp;3 [[Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland|Grundgesetz]] unterlaufen zu können. Die Rede war von „Landfahrerfamilien“ oder „Landfahrerhorden“, deren Überwachung die Politiker der Polizei übertrugen. In den Ausführungsbestimmungen des [[Bayerisches Innenministerium|Bayerischen Innenministeriums]] wurde die Landfahrereigenschaft folgendermaßen definiert:
Während Jahrhunderten wurden Landstreicher teils verfolgt, teils mit milden Gaben unterstützt. In Deutschland wurden sie während der [[Zeit des Nationalsozialismus]] zu den [[Asozial]]en gerechnet und in Konzentrationslagern inhaftiert und ermordet. "[[Zigeuner]]" waren hiervon besonders betroffen.
{{Zitat|Für die Feststellung der Landfahrereigenschaft ist die nomadisierende Lebensweise entscheidend, die sich darin äußert, dass eine Person [[Obdachlosigkeit|ohne festen Wohnsitz]] oder trotz eigenen [[Wohnsitz (Deutschland)|Wohnsitzes]] nicht nur vorübergehend nach Zigeunerart unstet im Lande umherzieht.}}


Diese Landfahrerordnung war bis 1970 bayerisches [[Landesrecht]].
Bis 1974 konnten Landstreicher in der [[Bundesrepublik Deutschland]] mit einer [[Geldstrafe]] bis zu 500 DM oder mit einer [[Haft]]strafe von bis zu sechs Wochen bestraft werden (§ 361 Ziff. 3 StGB). Es handelte sich hierbei aber um eine [[Übertretung]], war also unterhalb des [[Vergehen]]s angesiedelt. Heute können die Gemeinden aufgrund des Polizeirechtes gegen Bettler vorgehen, wobei in der Regel aber nur aggressives Betteln als Ordnungswidrigkeit geahndet wird, während zurückhaltendes Betteln zumindest geduldet, wenn nicht sogar gestattet wird. Die Ordnungswidrigkeit wird mit einem [[Bußgeld]] geahndet, die Höhe hängt vom Landesrecht ab. Die Obergrenze der Buße bewegt sich meist zwischen 500 und 2500 Euro.


In anderen [[Land (Deutschland)|Bundesländern]] wurde die bayerische Gesetzgebung zwar als vorbildlich wahrgenommen, aber nicht übernommen. Eine bundeseinheitliche Vorgehensweise gab es nicht. Vermeintliche kriminelle Aktivitäten, die den [[Sinti und Roma]] vorgeworfen wurden, ließen sich statistisch nicht bestätigen: 1954 wurden bundesweit 1.743 [[Sinti]] und [[Roma]] unter 1,1 Millionen Tatverdächtigen festgestellt. In der Summe war damit deren Zahl und Anteil zu gering, als dass die bisherigen Polizeipraktiken aus der Zeit vor 1945 hätten weitergetrieben werden können.
In [[Österreich]] war außerdem die Stellung unter [[Polizeiaufsicht]] zulässig (Gesetze vom 10. Mai 1873 und 24. Mai 1885; aufgehoben mit Wirkung vom [[1. Januar|1. Jänner]] [[1975]]).


Die Fahrenden wurden weiterhin, soweit es sich irgendwie vor der Öffentlichkeit verbergen ließ, diskriminiert. In [[Nordrhein-Westfalen]] forcierte beispielsweise seit 1954 die Landesregierung eine Verwaltungspraxis, Sinti und Roma die deutsche [[Staatsangehörigkeit]] abzuerkennen, indem von ihnen ein detaillierter Dokumentennachweis verlangt wurde, mit der Unterstellung, sie seien zu Unrecht im Besitz eines deutschen [[Reisepass]]es. Das war angesichts des Verwaltungshandelns 1933–1945 nicht gerade einfach nachzuweisen. In den Entschädigungsämtern und Polizeibehörden griff man durchgehend auf die Expertise von Beamten zurück, die bereits vor 1945 an der Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma beteiligt gewesen waren.<ref>Siehe exemplarisch [[Guido Schmidt (Richter)|Guido Schmidt]], ein Nationalsozialist als Richter am [[Bundesgerichtshof]] (BGH), der nach 1945 alle Entschädigungsansprüche durchgehend höchstinstanzlich abwehrte, auch wenn sie von den unteren Gerichten anerkannt worden waren.</ref>
In den Erklärungen zu Artikel II-6 (Titel II Artikel 6 - Erläuterung (1) e) ) des [[Vertrag über eine Verfassung für Europa|Vertrags über eine Verfassung für Europa]] wird Artikel 5 der [[Europäische Menschenrechtskonvention|Europäischen Menschenrechtskonvention]] zitiert. Danach ist der Freiheitsentzug unter anderem auch für Landstreicher wieder erlaubt.


Erst seit den 1980er Jahren gerieten die systematische Erfassung der Personen und die ständigen Schikanen gegen „Zigeuner“ durch die Polizeibehörden deutlicher ins Blickfeld einer liberalen Öffentlichkeit. In [[Hamburg]] hatte die Polizei z. B. 1981 ein sechs Monate altes Kind aus einer Sinti-Familie als Gefahrenquelle polizeilich erfasst. Vor dem [[Bundeskriminalamt (Deutschland)|BKA-Gebäude]] in Wiesbaden demonstrierten 1983 Sinti und Roma dagegen, dass in der damals intensivierten polizeilichen Datenerfassung das Merkmal „ZN“ eingetragen wurde, für „Zigeunername“. Das war bis dahin eine seit Jahrzehnten übliche Vorgehensweise [[Antiziganismus|antiziganistischer]] Polizeiarbeit gewesen.
== Bedeutung heute ==
Heute spricht man eher von nichtsesshaften Personen. Auch ist die oben erwähnte Negativassoziation mit dem Begriff nicht länger verbunden. Unter den Nichtsesshaften sind die größten Gruppen wohl die [[Roma]], die [[Sinti]] und die [[Jenische]]n, allerdings sind viele dieser Volksgruppen längst sesshaft geworden.
Die landwirtschaftlichen [[Wanderarbeiter]] der USA und anderer Länder könnten ''per definitionem'' auch dazu zählen, doch nicht einmal die saisonal wandernden landwirtschaftlichen [[Tagelöhner]] im Ost- und Mittel[[europa]] des 19. Jht. wurden dazu gerechnet. Auch [[Handelsvertreter]] (z. B. "Pharmareferenten") sind kein "Fahrendes Volk", sondern werden zu den "[[Reisender|Reisenden]]" gezählt. Überhaupt sind zeitgenössische Formen horizontaler sozialer [[Mobilität]] nicht mehr darunter zu rechnen, trotz struktureller Ähnlichkeiten und der Ausbildung eigener [[Subkultur]]en, wie z.B. Fernfahrer, Ensembles von Wanderbühnen oder gewerbsmäßige [[Schlepper]].


=== Nach der Wiedervereinigung Deutschlands ===
== Belletristik ==
Spätestens seit den 1990er Jahren ist endlich die Aufnahme der Sinti und Roma in das staatsoffizielle Gedenken an die NS-Mordpraxis erfolgt. Einzelne Vertreter des [[Bundesgerichtshof]]s distanzierten sich seit 2013 von der gängigen Rechtsprechung der 1950er Jahre, ohne dass bislang Urteile formal revidiert worden sind.
Figuren aus dem Fahrenden Volk erscheinen in zahlreichen Romanen, Erzählungen, Gedichten seit [[Grimmelshausen]]; einen guten Querschnitt durch die hoch unterschiedlichen Berufsgruppen im 19. Jahrhundert gibt [[Karl von Holtei]]s Roman ''Die Vagabunden'' (vier Bände, 1852).


== Rechtlicher, sozialer und ökonomischer Ausschluss ==
== Literatur ==
Ein Teil der Bevölkerung war arm und außerstande, in Notzeiten auf eigene Ressourcen zurückzugreifen. Wer ohne Zugang zur knapp gehaltenen kommunal organisierten Unterstützung war, glitt meist in die Nichtsesshaftigkeit ab und war auf eine Notökonomie verwiesen. In Krisensituationen nahm die Zahl dieser Menschen sprunghaft zu. Ein großer Teil der Angehörigen der Unterschichten war so ständig von Obdachlosigkeit und Nichtsesshaftigkeit bedroht.<ref>[[Martin Rheinheimer]]: ''Arme, Bettler und Vaganten. Überleben in der Not 1450–1850''. Frankfurt a. M. 2000, S. 16.</ref> Die permanente Notsituation zwang die Angehörigen des vagierenden Bevölkerungsteils in aller Regel, mehrere Tätigkeiten nebeneinander oder in der zeitlichen Folge auszuüben und häufig zugleich zu [[Bettler|betteln]]. Zur Sicherung des Überlebens gehörten auch typische Formen der kleinen Delinquenz. Darauf bezogene Schimpfbezeichnungen gingen in die Umgangssprache ein („Riemenstecher“ oder „[[Beutelschneider]]“ auf Kirchfesten und Jahrmärkten).
* [[Ernst Schubert]]: ''Fahrendes Volk im Mittelalter'', Verlag für Regionalgeschichte, 1995, ISBN 3-89534-155-X

* Margit Bachfischer: ''Musikanten, Gaukler und Vaganten. Spielmannskunst im Mittelalter'', Battenberg, 1998, ISBN 3-89441-371-9
Staatliche Betretungs-, Duldungs- und Aufnahmeverbote [[Exklusion|exkludierten]] die vagierende Armut aus der organisierten Untertanenschaft rechtlich und erzwangen ein Leben in Illegalität auf der Straße und in den Wäldern. Sie verlängerten sich zum Kontakt- und Arbeitsverbot, dieses formal abgesichert zudem durch Aufnahmeverbote in die Berufskorporationen. Im Zuge des administrativen Ausbaus der europäischen Staaten nahm die Zahl der Ausschlussvorschriften seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stark zu.

Begründet wurde der rechtliche Ausschluss mit dem [[Generalverdacht]] auf kriminelles oder doch zumindest gemeinschaftsschädliches Verhalten.<ref>[[Ulrich Friedrich Opfermann]]: ''„Seye kein Ziegeuner, sondern kayserlicher Cornet“. Sinti im 17. und 18. Jahrhundert. Eine Untersuchung anhand archivalischer Quellen''. Berlin 2007, S. 113 ff.</ref> Ein Restbestand des strikten rechtlichen Ausschlusses blieb bis 1974 mit dem Straftatbestand der „Bettlerei und Landstreicherei“ erhalten.<ref>{{Internetquelle |url=https://www.bundestag.de/resource/blob/483626/ce673b3052538b7ddb548f4338d49cdc/wd-7-157-16-pdf-data.pdf |titel=Regelungen zu Bettelei |abruf=2023-08-07}}</ref> Zumindest im deutschsprachigen Mitteleuropa wurden die entsprechenden Vorschriften im Zuge der sozialen und rechtlichen Reformen im letzten Vierteljahrhundert aus dem [[Strafrecht]] herausgenommen.

In der Armutsgesellschaft erhielten die außerständischen und unterständischen Bevölkerungsgruppen fortwährend, vermehrt aber während ökonomischer Krisen und militärischer Kampagnen Zuzug von Menschen aus den ortsfesten Unterschichten.<ref group="A">Das bekannte Märchen von den ''[[Die Bremer Stadtmusikanten|Bremer Stadtmusikanten]]'' schildert anschaulich den Einstieg in die „Herrenlosigkeit“.</ref> Da eine [[Integration (Soziologie)|Reintegration]] in die Mehrheitsgesellschaft oder gar ein sozialer Aufstieg weitgehend ausgeschlossen blieben, setzte sich die Zugehörigkeit zur migrierenden Armut über Generationen hinweg fort.<ref>Zu sozialem Abstieg und Reproduktion „aus sich selbst“ siehe z.&nbsp;B.: [[Jürgen Kocka]]: ''Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800''. Bonn 1990, S. 108.</ref> Sie verfestigte sich in einer „[[Kultur der Armut]]“.

== Formen des Einbezugs ==
Sozial und wirtschaftlich waren die Angehörigen der Minderheit entgegen den Meidungs- und Ausschlussvorschriften der Obrigkeit und der Berufskorporationen real mit der Mehrheitsbevölkerung eng verbunden.
Ihre ökonomischen Beiträge vor allem zur Versorgung der ländlichen Bevölkerung mit Waren und Dienstleistungen waren unverzichtbar. Ihre Unterhaltungsangebote wurden allgemein geschätzt und bildeten häufig den Mittelpunkt ländlicher und städtischer Festlichkeiten.

Es gab eine nicht zu überschauende Vielzahl solcher Gruppen. Die Zugehörigkeiten überschnitten sich. Die Aufzählungen von Fallgruppen in den Abwehrvorschriften vermitteln ein Bild von der Vielfalt der Notbetätigungen, mit denen die Betroffenen in ökonomischen Nischen zu überleben versuchten. Ein [[Siegerland|Siegerländer]] Aufnahme- und Duldungsverbot zum Beispiel zählte im Jahr 1586 auf:

{{Zitat|[[Zigeuner]], Landstreicher, herrenlose Gardenknechte, Umbgänger mit Geygen, Leyren und anderem Seitenspiel, Spitzbuben, Kundtschaffter, Außsprecher, zum Müßiggang abgerichtete Landbettler, Störger, Zanbrecher und was dergleichen loß Gesindlein ist, so vielmahls uff Verretherey, morden, rauben, stehlen, brennen und ander Unglück anzustifften abgerichtett, item [[Wahrsager]], Teuffelsfenger, Christallenseher, Segensprecher, die sich vor Ärzte, Menschen und Viehe zu helffen, außgeben.|ref=<ref>''Geschworene Montagsordnung im Amt Siegen, 18. August 1586'', nach: ''Corpus Constitutiorum Nassovicarum'', Dillenburg 1796, Bd. I, S.&nbsp;498–528.</ref>}}

Eine ordnungspolizeiliche Schrift des ausgehenden 18. Jahrhunderts nannte

{{Zitat|[[Scherenschleifer|Scheerenschleifer]], [[Hafenbinder]], [[Kesselflicker|Kessler]], [[Pfannenflicker|Pfannenfliker]], Kannengiesser, Wannenfliker, [[Korbmacher (Beruf)|Korbmacher]], [[Bürstenbinder]], Bücherbeschläger, Schnallen- und [[Metall- und Glockengießer|Glockengießer]], Sägenfeiler, Bohrermacher, [[Abdecker]] und [[Scharfrichter]], Kümmig-, Oel-, Kräuter-, Wurzeln- und Pulverhändler, Kamm-, Leist- oder Zwekschneider, Hechelspizer, [[Pfeifenbäcker|Tabakspfeiffenmacher]], Hutschwärzer, [[Drucker (Beruf)|Drucker]], [[Spielmann|Spielleute]], [[Gaukler]] und [[Händler|Krämer]] mit den unterschiedlichsten Waren.|ref=<ref>''Abriß des Jauner- und Bettelwesens in Schwaben nach Akten und andern sichern Quellen von dem Verfasser des Konstanzer Hans''. Stuttgart 1793, S. 173. Die anonyme Schrift wird dem Ludwigsburger Zuchthauspfarrer und Waisenhausdirektor Johann Ulrich Schöll zugeschrieben.</ref>}}

== Kulturelle und ethnische Vielfalt ==
Neben den seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mitunter auch als [[Jenische]] bezeichneten aus der Mehrheitsgesellschaft gedrängten „Fahrenden“ der unterschiedlichen landschaftlichen und staatlichen Herkunft gehörten als jeweils ethnisch eigenständige Gruppen fahrende Roma sowie „Schnorr“- oder „Betteljuden“<ref>[[Richard van Dülmen]]: ''Der ehrlose Mensch. Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der Frühen Neuzeit''. Köln/Weimar/Wien 1999, S. 25.</ref> zu dieser „Subkultur der Straße“.<ref>Wolfgang Seidenspinner: ''Jenische. Zur Archäologie einer verdrängten Kultur'', S. 81.</ref>

Es ist angesichts der Heterogenität dieses Bevölkerungsteils nicht möglich, den Anteil an der Gesamtbevölkerung zumal etwa Gesamteuropas mehr als äußerst grob zu schätzen. Fünf bis zehn Prozent sind nach der Literatur ein mittlerer Schätzwert für das 18. Jahrhundert. Er konnte im Zuge der regelmäßig sich ereignenden Hungerkrisen und Kriegsverheerungen rasch ansteigen.<ref>Carsten Küther: ''Räuber und Gauner in Deutschland. Das organisierte Bandenwesen im 18. und 19. Jahrhundert''. Göttingen 1976, S. 22.</ref><ref>[[Hans-Ulrich Wehler]]: ''Deutsche Gesellschaftsgeschichte'', Erster Band. ''Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815''. 3. Auflage. München 1996, S. 175.</ref><ref>[[Wolfgang von Hippel]]: ''Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit'' (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 34). Oldenbourg, München 1995, S. 34.</ref><ref>[[Uwe Danker]], ''Die Geschichte der Räuber und [[Gauner]]'', Düsseldorf/Zürich 2001, S. 65.</ref>

== Abgrenzungen ==
Wiewohl eine klare Abgrenzung unmöglich ist, sind vom historischen ''fahrenden Volk'' Gruppen zu unterscheiden, deren Angehörige in unterschiedlicher Intensität zwar ebenfalls einer Erwerbsmigration in engeren oder weiteren Zirkulationsräumen nachgingen, jedoch in einen Untertanenverband inkorporiert waren, mithin nicht „herrenlos“: wandernde [[Wandergeselle|Handwerksgesellen]] (Handwerker ''auf der [[Wanderjahre|Walz]]'', auch [[Freireisende]]), unzünftige Handwerker (''[[Bönhase]]n''), fernreisende Kaufleute sowie ortsfeste Bettler.

Heutige Formen von Erwerbsmigration und horizontaler [[Räumliche Mobilität|Mobilität]] – Bewegung im geografischen Raum, nicht im Raum der hierarchischen [[Schichtung|Sozialschichtung]] – erfasst das [[Konstrukt]] „fahrendes Volk“ nicht, wiewohl es strukturelle Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten gibt.<ref>Siehe aus der Vielfalt der Fälle z.&nbsp;B. Fernfahrer, Tourneetheater, Drückerkolonnen oder gewerbsmäßige [[Fluchthelfer]], landwirtschaftliche und industrielle [[Wanderarbeiter]] oder [[Handelsvertreter]] (z.&nbsp;B. [[Pharmareferent]]en), die umgangssprachlich und rechtlich auch als „[[Reisender|Reisende]]“ bezeichnet werden.</ref>

Da Marginalisierungs- und Exklusionsprozesse und deren Verfestigung keine ethnische oder regionale Besonderheit, sondern universal und überzeitlich sind, gab und gibt es soziokulturell ähnliche Bevölkerungsgruppen wie die in Mittelalter und Früher Neuzeit unter „fahrendes Volk“ subsumierten auch anderswo, so etwa die [[Buraku]]min in [[Japan]], die Sarmastaari in [[Belutschistan]] oder die [[Gadawan Kura]] („Hyänen-Menschen“), die als Gaukler und Wunderheiler durch [[Nigeria]] ziehen.


== Siehe auch ==
== Siehe auch ==
* [[Bruderschaft der Vagabunden]], internationale Vagabundenbewegung (1927–1933)
* [[s:Europäische_Menschenrechtskonvention#Artikel_5|Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention]] (bei wikisource)
* [[Krippenreiter]], Spottname für umherziehende verarmte Adelige
* [[Resandefolket]]
* [[Obdachlosigkeit]], bestimmendes Merkmal des Vagabundierens, der Land- und Stadtstreicherei
* [[Landstörzer]], [[Krippenreiter]]
* [[Picaro]], eine spanische Bezeichnung
* [[Pavee]]
* [[Resandefolket]], reisendes Volk in Schweden und Norwegen
* [http://www.g26.ch/texte_fahrende.html Fahrende in der Schweiz]
* [[Scholar]], reisende Studenten oder Gelehrte im Mittelalter
* Das [[Pfeiferrecht]] der Herren zu [[Rappoltstein]]
* [[Stör (Handwerk)]], Arbeit von wandernden Handwerkern
* [[Tramp]] und [[Hobo]], englische Bezeichnungen für Wanderarbeiter
* [[Walen]], reisende Mineraliensucher

== Literatur ==
* Margit Bachfischer: ''Musikanten, Gaukler und Vaganten. Spielmannskunst im Mittelalter''. Battenberg, Augsburg 1998, ISBN 3-89441-371-9.
* [[Uwe Danker]]: ''Die Geschichte der Räuber und Gauner''. Artemis & Winkler, Düsseldorf u.&nbsp;a. 2001, ISBN 3-538-07118-7.
* [[Richard van Dülmen]]: ''Der ehrlose Mensch. Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der Frühen Neuzeit''. Böhlau, Köln u.&nbsp;a. 1999, ISBN 3-412-12498-2.
* Karl Härter: ''Fahrende Leute''. In: [[Albrecht Cordes]], [[Heiner Lück]], [[Dieter Werkmüller]], [[Ruth Schmidt-Wiegand]] (Hrsg.): ''[[Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte]]''. 2. völlig überarbeitete und erweiterte Auflage. Band I: ''Aachen – Geistliche Bank''. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2008, ISBN 978-3-503-07912-4, Sp. 1465–1470.
* Wolfgang von Hippel: ''Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit''. Oldenbourg, München 1995, ISBN 3-486-55773-4, S. 34 (''Enzyklopädie deutscher Geschichte'' 34).
* [[Franz Irsigler]], Arnold Lassotta: ''Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker. Außenseiter in einer mittelalterlichen Stadt. Köln 1300–1600''. 7. Auflage. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1996, ISBN 3-423-30075-2 (''dtv – Sachbuch'' 30075).
* [[Angelika Kopečný]]: ''Fahrende und Vagabunden. Ihre Geschichte, Überlebenskünste, Zeichen und Straßen''. Wagenbach, Berlin [West] 1980, ISBN 3-8031-2068-3 (''Wagenbachs Taschenbücherei'' 68).
* Carsten Küther: ''Räuber und Gauner in Deutschland. Das organisierte Bandenwesen im 18. und 19. Jahrhundert'' (= ''[[Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft]].'' Band 20). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1976, ISBN 3-525-35971-3.
* Harald Lacina: ''Die Spielleute nach spätmittelalterlichen deutschen Rechtsquellen''. Solivagus, Kiel 2010, ISBN 978-3-9812101-7-0 ([[Dissertation]] [[Universität Wien]] 1990, 187 Seiten).
* [[Martin Rheinheimer]]: ''Arme, Bettler und Vaganten. Überleben in der Not 1450–1850''. Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-596-60131-2 (''Fischer-Taschenbuch – Europäische Geschichte'' 60131).
* [[Bernd Roeck]]: ''[[Außenseiter]], Randgruppen, [[Minderheit]]en. Fremde im Deutschland der frühen Neuzeit''. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1993, ISBN 3-525-33591-1 (''Kleine Vandenhoeck-Reihe'' 1568).
* [[Ernst Schubert (Historiker)|Ernst Schubert]]: ''Arme Leute, [[Bettler]] und [[Gauner]] im Franken des 18. Jahrhunderts''. Degener, Neustadt a. d. Aisch 1983, ISBN 3-7686-9068-7 (''Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte''. Reihe 9: ''Darstellungen aus der fränkischen Geschichte'' 26).
* Ernst Schubert: ''Mobilität ohne Chance. Die Ausgrenzung des fahrenden Volkes'': In: [[Winfried Schulze]] (Hrsg.): ''Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität''. Oldenbourg, München 1988, ISBN 3-486-54351-2, S.&nbsp;113–164 (''Schriften des Historischen Kollegs'' Kolloquien 12).
* Ernst Schubert: ''Fahrendes Volk im Mittelalter''. Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 1995, ISBN 3-89534-155-X.

== Weblinks ==
{{Commonscat|Vagrancy|Vagabundentum}}
{{Wiktionary|fahrendes Volk}}
{{Wiktionary|fahrende Leute}}
* [http://www.eckhart.de/index.htm?litera.htm#Fahr Literatur – Fahrende] – [[Meister Eckhart]] und seine Zeit.
* {{Webarchiv | url=http://www.g26.ch/texte_fahrende.html | wayback=20080629163350 <!--| archive-is=20021217123543--> | text=Fahrende in der Schweiz}}
* {{Webarchiv | url=https://www.bak.admin.ch/kulturschaffen/04265/04267/index.html?lang=de | wayback=20160113055255 | text=Fahrende in der Schweiz}}. [[Bundesamt für Kultur]], Schweizerische Eidgenossenschaft
* [[Klaus Jünschke]]: [http://www.mkll.de/wp-content/upload/klausromasinti.pdf ''Eine Chronologie zur Geschichte der „Zigeuner“ in Deutschland und Köln''] (PDF; 356&nbsp;kB).

== Anmerkungen ==
<references group="A" />

== Einzelnachweise ==
<references />


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[[Kategorie:Ethnologie]]
[[Kategorie:Sozialstruktur]]


[[Kategorie:Volkskunde]]
[[en:Vagrancy (people)]]
[[Kategorie:Sozialstrukturelle Gruppe]]
[[fr:Gens du voyage]]
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Aktuelle Version vom 25. Oktober 2024, 22:22 Uhr

Fahrendes Volk (auch fahrende Leute) bezeichnet eine Vielfalt von Bevölkerungsgruppen von niedrigem sozialen Stand. Gemeinsam waren diesen sehr unterschiedlichen vagabundierenden Individuen und Gruppen verschiedener Herkunft und Tätigkeit

  • ihre Ausgrenzung aus der ansässigen Gesellschaft,
  • ihre Armut und fehlende Schulbildung,
  • eine damit einhergehende zeitweise oder dauerhafte Erwerbsmigration in ökonomische Nischen
  • und der auf diesen Menschen liegende mehrheitsgesellschaftliche Verdacht der Delinquenz.

In der Regel waren die Angehörigen dieses Bevölkerungsteils unter stigmatisierenden Bezeichnungen wie „herrenloses Gesindel“ aus der Untertanenschaft ausgeschlossen. Fahrendes Volk reproduzierte sich zum einen aus sich selbst. Zum anderen erhielt es Zuzug von Absteigern aus dem sesshaften Unterschichtenmilieu.

Heute reduziert sich eine folklorisierende Verwendung der Bezeichnung „fahrendes Volk“ auf Nachfahren historischer Gruppen, wie sie im Schausteller-, Zirkus- und Landfahrermilieu anzutreffen sind. Diese bezeichnen sich selbst als Reisende.

Ein Quacksalber auf dem Markt
Fahrendes Volk am Rheinufer bei Mainz, Gemälde von Philipp Zeltner um 1900

In Mittelalter und Früher Neuzeit wurden als fahrendes Volk (auch fahrende Leute oder Fahrende) die Angehörigen zahlreicher unterschiedlicher unterständischer und außerständischer Sozialgruppierungen beschrieben. Die Bandbreite der rechtlosen Außenseiter erweiterte und differenzierte sich im Mittelalter. Angehörige des „niederen Volks“ – sprich der gesellschaftlichen Unterschichten – außerhalb der ständischen Hierarchie und ohne einen festen Wohnsitz galten als varende lute, eine abwertende Bezeichnung, die oft mit Kriminalität und Ehrlosigkeit (Unehrlichkeit) konnotiert war.[1]

Historische Bezeichnungen für die Angehörigen dieser sozial, kulturell und ethnisch uneinheitlichen Population von summarisch als „herrenloses Gesindel“ Stigmatisierten waren z. B. „Gängler“, „Landfahrer“, „Landstreicher“, „Landläufer“ (vgl. die in den Niederlanden bis heute gebräuchliche Bezeichnung landloper) oder „Vagabunden“.[A 1] Aus dem Blickwinkel einer als kollektives Persönlichkeitsmerkmal unterstellten Arbeitsscheu galten sie darüber hinaus als „fremde Müßiggänger“. Im 19. Jahrhundert kam auch die Bezeichnung „Wanderer“ auf, später auch „Nichtsesshafte“.[2]

„Fahren“ ist nicht in der heutigen Bedeutung zu verstehen. Bis weit ins 19. Jahrhundert, als Wohnwagen als Transportmittel und Unterkunft aufkamen, waren „Fahrende“ vor allem zu Fuß unterwegs, mit vielleicht einem zweirädrigen Karren als Hundegespann oder selbstgezogen.

An der Stelle des folklorisierenden Begriffs „Fahrende“ steht gemeineuropäisch, aber auch als übliche heutige deutsche Selbstbezeichnung Reisende. Zusammenfassende Bezeichnungen für die Nachfahren der historischen Gruppen sind als Selbst- wie als Fremdbezeichnung im Französischen gens du voyage, im angelsächsischen Sprachraum Travellers, im Schwedischen bzw. Norwegischen resandefolket bzw. Reisende und im Niederländischen reizigers.[3] Im Englischen grenzt der Terminus gegen Roma ab.[4]

In der Schweiz dagegen ist Fahrende ein staatlich-offizieller und rechtlicher Terminus. Er bezeichnet dort die – allerdings nicht als Einzelgruppen, sondern nur gemeinsam – als kulturelle und „nationale Minderheit“ anerkannten und betrachteten Manouches (synonym für Sinti) und Jenischen mit Schweizer Staatsbürgerschaft.[5]

Westdeutschland seit 1945

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Bayern erließ 1953 eine sogenannte Landfahrerordnung. Diese Regelung sollte Menschen mit nomadischer Lebensweise den örtlichen Aufenthalt madig machen, sie von dort vergraulen. Die bayerischen Politiker vermieden das Wort Zigeuner, weil sie annahmen, so das Verbot rassischer Diskriminierung nach Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz unterlaufen zu können. Die Rede war von „Landfahrerfamilien“ oder „Landfahrerhorden“, deren Überwachung die Politiker der Polizei übertrugen. In den Ausführungsbestimmungen des Bayerischen Innenministeriums wurde die Landfahrereigenschaft folgendermaßen definiert:

„Für die Feststellung der Landfahrereigenschaft ist die nomadisierende Lebensweise entscheidend, die sich darin äußert, dass eine Person ohne festen Wohnsitz oder trotz eigenen Wohnsitzes nicht nur vorübergehend nach Zigeunerart unstet im Lande umherzieht.“

Diese Landfahrerordnung war bis 1970 bayerisches Landesrecht.

In anderen Bundesländern wurde die bayerische Gesetzgebung zwar als vorbildlich wahrgenommen, aber nicht übernommen. Eine bundeseinheitliche Vorgehensweise gab es nicht. Vermeintliche kriminelle Aktivitäten, die den Sinti und Roma vorgeworfen wurden, ließen sich statistisch nicht bestätigen: 1954 wurden bundesweit 1.743 Sinti und Roma unter 1,1 Millionen Tatverdächtigen festgestellt. In der Summe war damit deren Zahl und Anteil zu gering, als dass die bisherigen Polizeipraktiken aus der Zeit vor 1945 hätten weitergetrieben werden können.

Die Fahrenden wurden weiterhin, soweit es sich irgendwie vor der Öffentlichkeit verbergen ließ, diskriminiert. In Nordrhein-Westfalen forcierte beispielsweise seit 1954 die Landesregierung eine Verwaltungspraxis, Sinti und Roma die deutsche Staatsangehörigkeit abzuerkennen, indem von ihnen ein detaillierter Dokumentennachweis verlangt wurde, mit der Unterstellung, sie seien zu Unrecht im Besitz eines deutschen Reisepasses. Das war angesichts des Verwaltungshandelns 1933–1945 nicht gerade einfach nachzuweisen. In den Entschädigungsämtern und Polizeibehörden griff man durchgehend auf die Expertise von Beamten zurück, die bereits vor 1945 an der Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma beteiligt gewesen waren.[6]

Erst seit den 1980er Jahren gerieten die systematische Erfassung der Personen und die ständigen Schikanen gegen „Zigeuner“ durch die Polizeibehörden deutlicher ins Blickfeld einer liberalen Öffentlichkeit. In Hamburg hatte die Polizei z. B. 1981 ein sechs Monate altes Kind aus einer Sinti-Familie als Gefahrenquelle polizeilich erfasst. Vor dem BKA-Gebäude in Wiesbaden demonstrierten 1983 Sinti und Roma dagegen, dass in der damals intensivierten polizeilichen Datenerfassung das Merkmal „ZN“ eingetragen wurde, für „Zigeunername“. Das war bis dahin eine seit Jahrzehnten übliche Vorgehensweise antiziganistischer Polizeiarbeit gewesen.

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands

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Spätestens seit den 1990er Jahren ist endlich die Aufnahme der Sinti und Roma in das staatsoffizielle Gedenken an die NS-Mordpraxis erfolgt. Einzelne Vertreter des Bundesgerichtshofs distanzierten sich seit 2013 von der gängigen Rechtsprechung der 1950er Jahre, ohne dass bislang Urteile formal revidiert worden sind.

Rechtlicher, sozialer und ökonomischer Ausschluss

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Ein Teil der Bevölkerung war arm und außerstande, in Notzeiten auf eigene Ressourcen zurückzugreifen. Wer ohne Zugang zur knapp gehaltenen kommunal organisierten Unterstützung war, glitt meist in die Nichtsesshaftigkeit ab und war auf eine Notökonomie verwiesen. In Krisensituationen nahm die Zahl dieser Menschen sprunghaft zu. Ein großer Teil der Angehörigen der Unterschichten war so ständig von Obdachlosigkeit und Nichtsesshaftigkeit bedroht.[7] Die permanente Notsituation zwang die Angehörigen des vagierenden Bevölkerungsteils in aller Regel, mehrere Tätigkeiten nebeneinander oder in der zeitlichen Folge auszuüben und häufig zugleich zu betteln. Zur Sicherung des Überlebens gehörten auch typische Formen der kleinen Delinquenz. Darauf bezogene Schimpfbezeichnungen gingen in die Umgangssprache ein („Riemenstecher“ oder „Beutelschneider“ auf Kirchfesten und Jahrmärkten).

Staatliche Betretungs-, Duldungs- und Aufnahmeverbote exkludierten die vagierende Armut aus der organisierten Untertanenschaft rechtlich und erzwangen ein Leben in Illegalität auf der Straße und in den Wäldern. Sie verlängerten sich zum Kontakt- und Arbeitsverbot, dieses formal abgesichert zudem durch Aufnahmeverbote in die Berufskorporationen. Im Zuge des administrativen Ausbaus der europäischen Staaten nahm die Zahl der Ausschlussvorschriften seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stark zu.

Begründet wurde der rechtliche Ausschluss mit dem Generalverdacht auf kriminelles oder doch zumindest gemeinschaftsschädliches Verhalten.[8] Ein Restbestand des strikten rechtlichen Ausschlusses blieb bis 1974 mit dem Straftatbestand der „Bettlerei und Landstreicherei“ erhalten.[9] Zumindest im deutschsprachigen Mitteleuropa wurden die entsprechenden Vorschriften im Zuge der sozialen und rechtlichen Reformen im letzten Vierteljahrhundert aus dem Strafrecht herausgenommen.

In der Armutsgesellschaft erhielten die außerständischen und unterständischen Bevölkerungsgruppen fortwährend, vermehrt aber während ökonomischer Krisen und militärischer Kampagnen Zuzug von Menschen aus den ortsfesten Unterschichten.[A 2] Da eine Reintegration in die Mehrheitsgesellschaft oder gar ein sozialer Aufstieg weitgehend ausgeschlossen blieben, setzte sich die Zugehörigkeit zur migrierenden Armut über Generationen hinweg fort.[10] Sie verfestigte sich in einer „Kultur der Armut“.

Formen des Einbezugs

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Sozial und wirtschaftlich waren die Angehörigen der Minderheit entgegen den Meidungs- und Ausschlussvorschriften der Obrigkeit und der Berufskorporationen real mit der Mehrheitsbevölkerung eng verbunden. Ihre ökonomischen Beiträge vor allem zur Versorgung der ländlichen Bevölkerung mit Waren und Dienstleistungen waren unverzichtbar. Ihre Unterhaltungsangebote wurden allgemein geschätzt und bildeten häufig den Mittelpunkt ländlicher und städtischer Festlichkeiten.

Es gab eine nicht zu überschauende Vielzahl solcher Gruppen. Die Zugehörigkeiten überschnitten sich. Die Aufzählungen von Fallgruppen in den Abwehrvorschriften vermitteln ein Bild von der Vielfalt der Notbetätigungen, mit denen die Betroffenen in ökonomischen Nischen zu überleben versuchten. Ein Siegerländer Aufnahme- und Duldungsverbot zum Beispiel zählte im Jahr 1586 auf:

Zigeuner, Landstreicher, herrenlose Gardenknechte, Umbgänger mit Geygen, Leyren und anderem Seitenspiel, Spitzbuben, Kundtschaffter, Außsprecher, zum Müßiggang abgerichtete Landbettler, Störger, Zanbrecher und was dergleichen loß Gesindlein ist, so vielmahls uff Verretherey, morden, rauben, stehlen, brennen und ander Unglück anzustifften abgerichtett, item Wahrsager, Teuffelsfenger, Christallenseher, Segensprecher, die sich vor Ärzte, Menschen und Viehe zu helffen, außgeben.“[11]

Eine ordnungspolizeiliche Schrift des ausgehenden 18. Jahrhunderts nannte

Scheerenschleifer, Hafenbinder, Kessler, Pfannenfliker, Kannengiesser, Wannenfliker, Korbmacher, Bürstenbinder, Bücherbeschläger, Schnallen- und Glockengießer, Sägenfeiler, Bohrermacher, Abdecker und Scharfrichter, Kümmig-, Oel-, Kräuter-, Wurzeln- und Pulverhändler, Kamm-, Leist- oder Zwekschneider, Hechelspizer, Tabakspfeiffenmacher, Hutschwärzer, Drucker, Spielleute, Gaukler und Krämer mit den unterschiedlichsten Waren.“[12]

Kulturelle und ethnische Vielfalt

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Neben den seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mitunter auch als Jenische bezeichneten aus der Mehrheitsgesellschaft gedrängten „Fahrenden“ der unterschiedlichen landschaftlichen und staatlichen Herkunft gehörten als jeweils ethnisch eigenständige Gruppen fahrende Roma sowie „Schnorr“- oder „Betteljuden“[13] zu dieser „Subkultur der Straße“.[14]

Es ist angesichts der Heterogenität dieses Bevölkerungsteils nicht möglich, den Anteil an der Gesamtbevölkerung zumal etwa Gesamteuropas mehr als äußerst grob zu schätzen. Fünf bis zehn Prozent sind nach der Literatur ein mittlerer Schätzwert für das 18. Jahrhundert. Er konnte im Zuge der regelmäßig sich ereignenden Hungerkrisen und Kriegsverheerungen rasch ansteigen.[15][16][17][18]

Wiewohl eine klare Abgrenzung unmöglich ist, sind vom historischen fahrenden Volk Gruppen zu unterscheiden, deren Angehörige in unterschiedlicher Intensität zwar ebenfalls einer Erwerbsmigration in engeren oder weiteren Zirkulationsräumen nachgingen, jedoch in einen Untertanenverband inkorporiert waren, mithin nicht „herrenlos“: wandernde Handwerksgesellen (Handwerker auf der Walz, auch Freireisende), unzünftige Handwerker (Bönhasen), fernreisende Kaufleute sowie ortsfeste Bettler.

Heutige Formen von Erwerbsmigration und horizontaler Mobilität – Bewegung im geografischen Raum, nicht im Raum der hierarchischen Sozialschichtung – erfasst das Konstrukt „fahrendes Volk“ nicht, wiewohl es strukturelle Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten gibt.[19]

Da Marginalisierungs- und Exklusionsprozesse und deren Verfestigung keine ethnische oder regionale Besonderheit, sondern universal und überzeitlich sind, gab und gibt es soziokulturell ähnliche Bevölkerungsgruppen wie die in Mittelalter und Früher Neuzeit unter „fahrendes Volk“ subsumierten auch anderswo, so etwa die Burakumin in Japan, die Sarmastaari in Belutschistan oder die Gadawan Kura („Hyänen-Menschen“), die als Gaukler und Wunderheiler durch Nigeria ziehen.

Commons: Vagabundentum – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: fahrendes Volk – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Wiktionary: fahrende Leute – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
  1. Die letztgenannte Bezeichnung der Vagabunden wird lexikalisch mit Landstreicher, Herumtreiber übersetzt: Das Wort Vagabund ist abgeleitet aus dem Spätlateinischen vagabundus, das umherschweifend, unstet bedeutet und vom lateinischen Wort vage abgeleitet ist, siehe: Vagabund und vage. In: Duden: Das Herkunftswörterbuch. 4. Auflage 2007.
  2. Das bekannte Märchen von den Bremer Stadtmusikanten schildert anschaulich den Einstieg in die „Herrenlosigkeit“.

Einzelnachweise

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  1. Fritz Gschnitzer, Reinhart Koselleck, Karl Ferdinand Wagner: Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7. 1992, S. 141–431, hier: S. 245–281 („Volk als Masse, Unterschicht“), insbes. S. 277 ff.
  2. Wolfgang Ayaß: „Vagabunden, Wanderer, Obdachlose und Nichtsesshafte“: eine kleine Begriffsgeschichte der Hilfe für Wohnungslose. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 43, 2013, Heft 1, S. 90–102.
  3. Siehe z. B. das Selbstverständnis der schwedischen Selbstorganisation Föreningen Resandefolkets Riksorganisation, FÖRENINGEN RESANDEFOLKETS RIKSORGANISATION (Memento vom 21. Februar 2009 im Internet Archive), auf resandefolketsriksorganisation.se
  4. Siehe z. B. das Selbstverständnis des European Roma and Travellers Forum: European Roma and Travellers Forum (Memento vom 14. Januar 2006 im Internet Archive), auf ertf.org
  5. Siehe: Gutachten des Bundesamtes für Justiz zur Rechtsstellung der Fahrenden in ihrer Eigenschaft als anerkannte nationale Minderheit, 27. März 2002, S. 5.
  6. Siehe exemplarisch Guido Schmidt, ein Nationalsozialist als Richter am Bundesgerichtshof (BGH), der nach 1945 alle Entschädigungsansprüche durchgehend höchstinstanzlich abwehrte, auch wenn sie von den unteren Gerichten anerkannt worden waren.
  7. Martin Rheinheimer: Arme, Bettler und Vaganten. Überleben in der Not 1450–1850. Frankfurt a. M. 2000, S. 16.
  8. Ulrich Friedrich Opfermann: „Seye kein Ziegeuner, sondern kayserlicher Cornet“. Sinti im 17. und 18. Jahrhundert. Eine Untersuchung anhand archivalischer Quellen. Berlin 2007, S. 113 ff.
  9. Regelungen zu Bettelei. Abgerufen am 7. August 2023.
  10. Zu sozialem Abstieg und Reproduktion „aus sich selbst“ siehe z. B.: Jürgen Kocka: Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800. Bonn 1990, S. 108.
  11. Geschworene Montagsordnung im Amt Siegen, 18. August 1586, nach: Corpus Constitutiorum Nassovicarum, Dillenburg 1796, Bd. I, S. 498–528.
  12. Abriß des Jauner- und Bettelwesens in Schwaben nach Akten und andern sichern Quellen von dem Verfasser des Konstanzer Hans. Stuttgart 1793, S. 173. Die anonyme Schrift wird dem Ludwigsburger Zuchthauspfarrer und Waisenhausdirektor Johann Ulrich Schöll zugeschrieben.
  13. Richard van Dülmen: Der ehrlose Mensch. Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 1999, S. 25.
  14. Wolfgang Seidenspinner: Jenische. Zur Archäologie einer verdrängten Kultur, S. 81.
  15. Carsten Küther: Räuber und Gauner in Deutschland. Das organisierte Bandenwesen im 18. und 19. Jahrhundert. Göttingen 1976, S. 22.
  16. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Erster Band. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815. 3. Auflage. München 1996, S. 175.
  17. Wolfgang von Hippel: Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 34). Oldenbourg, München 1995, S. 34.
  18. Uwe Danker, Die Geschichte der Räuber und Gauner, Düsseldorf/Zürich 2001, S. 65.
  19. Siehe aus der Vielfalt der Fälle z. B. Fernfahrer, Tourneetheater, Drückerkolonnen oder gewerbsmäßige Fluchthelfer, landwirtschaftliche und industrielle Wanderarbeiter oder Handelsvertreter (z. B. Pharmareferenten), die umgangssprachlich und rechtlich auch als „Reisende“ bezeichnet werden.