„Radbruchsche Formel“ – Versionsunterschied
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Als '''Radbruchsche Formel''' wird eine erstmals 1946 formulierte These des deutschen [[Rechtsphilosophie|Rechtsphilosophen]] [[Gustav Radbruch]] bezeichnet. Dieser These zufolge hat sich ein [[Richter]] im [[Konflikt]] zwischen dem positiven (gesetzten) [[Recht]] und der [[Gerechtigkeit]] immer dann und nur dann gegen das [[Gesetz]] und für die materielle Gerechtigkeit zu entscheiden, wenn das fragliche Gesetz entweder als „unerträglich ungerecht“ anzusehen ist oder das Gesetz die – Radbruch zufolge – im Begriff des Rechts grundsätzlich angelegte Gleichheit aller Menschen aus Sicht des Interpreten „bewusst verleugnet“. |
Als '''Radbruchsche Formel''' wird eine erstmals 1946 formulierte These des deutschen [[Rechtsphilosophie|Rechtsphilosophen]] [[Gustav Radbruch]] bezeichnet. Dieser These zufolge hat sich ein [[Richter]] im [[Konflikt]] zwischen dem positiven (gesetzten) [[Recht]] und der [[Gerechtigkeit]] immer dann und nur dann gegen das [[Gesetz]] und für die materielle Gerechtigkeit zu entscheiden, wenn das fragliche Gesetz entweder als „unerträglich ungerecht“ anzusehen ist oder das Gesetz die – Radbruch zufolge – im Begriff des Rechts grundsätzlich angelegte Gleichheit aller Menschen aus Sicht des Interpreten „bewusst verleugnet“. |
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{{Zitat|Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.|Gustav Radbruch|''Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht''. [[Süddeutsche Juristenzeitung|SJZ]] 1946, 105 (107).}} |
{{Zitat|Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.|Gustav Radbruch|''Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht''. [[Süddeutsche Juristenzeitung|SJZ]] 1946, 105 (107).}} |
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Ganz ähnlich legte Radbruch diese Position auch in der posthum veröffentlichten Vorlesungsnachschrift<ref>Gustav Radbruch: ''Vorschule der Rechtsphilosophie'' – Nachschrift einer Vorlesung. Herausgegeben von Harald Schubert und Joachim Stoltzenburg, Scherer Verlag, Heidelberg 1947. Im Vorwort schreibt Radbruch: ''Zwei Hörer meiner rechtsphilosophischen Vorlesung […] baten mich, sie zur Vervielfältigung der Nachschrift dieser Vorlesung zu ermächtigen. […] Ich habe den Text revidiert, ihm jedoch den Charakter einer Vorlesungsnachschrift erhalten.'' Kurze Zeit, nachdem er dieses Vorwort verfasst hatte, starb Radbruch, daher erfolgte die Veröffentlichung erst posthum.</ref> ''„Vorschule der Rechtsphilosophie“'' dar: Wo die Ungerechtigkeit des positiven Rechts ein solches Maß erreiche, dass die durch dieses Gesetz garantierte Rechtssicherheit gegenüber seiner Ungerechtigkeit überhaupt nicht mehr ins Gewicht falle, trete dieses „unrichtige“ Recht gegenüber der Gerechtigkeit zurück.<ref>{{Literatur|Autor=Gustav Radbruch|Titel=Vorschule der Rechtsphilosophie|Auflage=2.|Ort=Göttingen|Jahr=1959|Seiten=33}}</ref> An anderer Stelle heißt es |
Ganz ähnlich legte Radbruch diese Position auch in der posthum veröffentlichten Vorlesungsnachschrift<ref>Gustav Radbruch: ''Vorschule der Rechtsphilosophie'' – Nachschrift einer Vorlesung. Herausgegeben von Harald Schubert und Joachim Stoltzenburg, Scherer Verlag, Heidelberg 1947. Im Vorwort schreibt Radbruch: ''Zwei Hörer meiner rechtsphilosophischen Vorlesung […] baten mich, sie zur Vervielfältigung der Nachschrift dieser Vorlesung zu ermächtigen. […] Ich habe den Text revidiert, ihm jedoch den Charakter einer Vorlesungsnachschrift erhalten.'' Kurze Zeit, nachdem er dieses Vorwort verfasst hatte, starb Radbruch, daher erfolgte die Veröffentlichung erst posthum.</ref> ''„Vorschule der Rechtsphilosophie“'' dar: Wo die Ungerechtigkeit des positiven Rechts ein solches Maß erreiche, dass die durch dieses Gesetz garantierte Rechtssicherheit gegenüber seiner Ungerechtigkeit überhaupt nicht mehr ins Gewicht falle, trete dieses „unrichtige“ Recht gegenüber der Gerechtigkeit zurück.<ref>{{Literatur|Autor=Gustav Radbruch|Titel=Vorschule der Rechtsphilosophie|Auflage=2.|Ort=Göttingen|Jahr=1959|Seiten=33}}</ref> An anderer Stelle heißt es |
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{{Zitat|Wo also […] Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, können die so geschaffenen Anordnungen nur [[Machtspruch|Machtsprüche]] sein, niemals Rechtssätze […]; so ist das Gesetz, das gewissen Menschen die Menschenrechte verweigert, kein Rechtssatz. Hier ist also eine scharfe Grenze zwischen Recht und Nicht-Recht gegeben, während wie oben gezeigt wurde, die Grenze zwischen gesetzlichem Unrecht und geltendem Recht nur eine Maßgrenze ist […].|Gustav Radbruch|''Vorschule der Rechtsphilosophie''. 2. Auflage, Göttingen 1959, S. 34.}} |
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=== Struktur === |
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Die Radbruchsche Formel unterscheidet drei Typen ungerechter Gesetze. Den drei Gesetzestypen stehen drei Aussagen über die rechtliche Geltung dieser Gesetze gegenüber:<ref>{{Literatur|Autor=Steffen Forschner|Titel=[http://w210.ub.uni-tuebingen.de/dbt/volltexte/2003/718/pdf/Diss.PDF Die Radbruchsche Formel in den höchstrichterlichen „Mauerschützenurteilen“] (PDF; 341 kB)|Ort=Online-Dissertation, Tübingen|Jahr=2003, S. 13}} Vgl. {{Literatur|Autor=Norbert Hoerster|Titel=Was ist Recht? Grundfragen der Rechtsphilosophie|Ort=München|Jahr=2006|Seiten=80}}</ref> |
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# Positive Gesetze müssen auch dann angewendet werden, wenn sie ungerecht und unzweckmäßig sind. |
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# „Unerträglich“ ungerechte Gesetze müssen der Gerechtigkeit weichen. |
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# Falls Gesetze nicht einmal das Ziel verfolgen, gerecht zu sein, sind sie kein Recht. |
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Adressat der Radbruchschen Formel ist die Rechtsprechung. Die Formel postuliert zunächst folgende Grundregel: Das positive Recht verdiene aus Gründen der [[Rechtssicherheit]] im [[Prinzipiell|Prinzip]] auch dann gegenüber nichtpositivierten Gerechtigkeitsgrundsätzen den Vorzug, wenn es sich als ungerecht erweise. Insoweit stimmt Radbruchs Position mit derjenigen des [[Rechtspositivismus]] überein. Gleichzeitig betont Radbruch, dass Gerechtigkeit und Rechtssicherheit als aus der „Idee des Rechts“ entspringende Forderungen prinzipiell gleichrangig seien. Keiner dieser beiden Seiten der Rechtsidee gebühre ohne weiteres der Vorrang vor der jeweils anderen.<ref>Vgl. {{Literatur|Autor=Gustav Radbruch|Titel=Vorschule der Rechtsphilosophie|Auflage=2.|Ort=Göttingen|Jahr=1959|Seiten=33}}</ref> Es handle sich um gleichberechtigte, einander jedoch potentiell widersprechende Forderungen. Diese beiden [[Prämisse]]n – die prinzipielle Gleichrangigkeit und die Konfliktbeladenheit – führen Radbruch zu einer vom Rechtspositivismus abweichenden Schlussfolgerung: Das [[Prinzip]] der Rechtssicherheit müsse zumindest dann gegenüber dem Prinzip der Gerechtigkeit zurücktreten, wenn die Ungerechtigkeit des fraglichen Gesetzes ein bestimmtes Maß überschreite, mit Radbruchs Worten also ''„unerträglich“'' werde. Dem heutigen juristischen Sprachgebrauch gemäß formuliert, genießt das positive Recht gegenüber abweichenden Gerechtigkeitsprinzipien somit lediglich einen [[Prima facie|Prima-Facie-Vorrang]],<ref>Zum Begriff des Prima-Facie-Vorrangs vgl. {{Literatur|Autor=Robert Alexy|Titel=Theorie der Grundrechte|Ort=Frankfurt a.M.|Auflage=2.|Jahr=1994|Seiten=87ff mit weiteren Verweisen auf philosophische Fachliteratur}}: Prima-Facie-Gründe sind hiernach – im Gegensatz zu definitiven Gründen – solche, die durch gegenläufige Gründe ausgeräumt werden können.</ref> nicht jedoch einen absoluten Vorrang. |
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Die Radbruchsche Formel, die oft mittels der Kurzform „''extremes Unrecht ist kein Recht''“<ref>So z. B. von {{Literatur|Autor=Robert Alexy|Titel=Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit|Ort=Hamburg|Jahr=1993|Seiten=4}}</ref> zusammengefasst wird, enthält bei genauerer Betrachtung zwei eigenständige und voneinander unabhängige Teilformeln, die in der Sekundärliteratur allgemein als „Unerträglichkeitsformel“ bzw. als „Verleugnungsformel“ bezeichnet werden.<ref>{{Literatur|Autor=Stanley Paulson, Ralf Dreier|Titel=Einführung in die Rechtsphilosophie Radbruchs|Ort=Heidelberg|Sammelwerk=Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie, Studienausgabe|Jahr=1999|Seiten=235–250, 245}}</ref> |
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Die „Unerträglichkeitsformel“ entpflichtet den Richter dann von seiner grundsätzlichen Bindung an das positive Recht, wenn er es für auf unerträgliche Weise ungerecht hält. In solchen Fällen trete der prinzipielle Vorrang des positiven Rechts zurück und auch eine geschriebene Norm müsse der materiellen Gerechtigkeit weichen. Radbruch selbst hielt diese Variante der Radbruchschen Formel für wenig trennscharf: Die Grenzen zwischen „richtigem“, „unrichtigem“ und „unerträglich unrichtigem“ Recht seien fließend und eine nur unscharf zu ziehende Frage des rechten Maßes.<ref>{{Literatur|Autor=Gustav Radbruch|Titel=Vorschule der Rechtsphilosophie|Auflage=2.|Ort=Göttingen|Jahr=1959|Seiten=34}}</ref> Unklar bleibt bei dieser schwachen Variante der Radbruchschen Formel der rechtstheoretische Status des sogenannten „unrichtigen Rechts“: Sind extrem ungerechte Gesetze noch als „Recht“ im Sinne des Rechtsbegriffs anzusehen? Radbruch selbst legte sich diesbezüglich nicht fest. Neuere Interpretationen der Radbruchschen Formel schließen auch „unerträglich ungerechtes“ Recht aus einem entsprechend modifizierten Rechtsbegriff aus.<ref>Beispielsweise tut dies [[Robert Alexy]] für „extrem ungerechtes“ Recht: {{Literatur|Autor=Robert Alexy|Titel=Begriff und Geltung des Rechts|Ort=Freiburg und München|Jahr=1992|Seiten=201}}</ref> |
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Klarer beurteilte Radbruch den rechtstheoretischen Status eines anhand der „Verleugnungsformel“ zu verwerfenden Gesetzes: Ein Gesetz, das Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt, ist demnach bereits kein Recht im Sinne des Rechtsbegriffs. Im Gegensatz zur „Unerträglichkeitsformel“ scheint die „Verleugnungsformel“ nicht primär an die Eigenschaften des fraglichen Gesetzes, sondern an die Intentionen des Gesetzgebers anzuknüpfen. Stanley Paulson und [[Ralf Dreier]] haben daher darauf hingewiesen, dass es im Einzelfall zumindest schwierig sein dürfte, dem Gesetzgeber eine solche bewusste Verleugnung von Gerechtigkeitsprinzipien nachzuweisen.<ref>{{Literatur|Autor=Stanley Paulson, Ralf Dreier|Titel=Einführung in die Rechtsphilosophie Radbruchs|Ort=Heidelberg|Sammelwerk=Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie, Studienausgabe|Jahr=1999|Seiten=235–250, 245}}</ref> Überwiegend wird jedoch die Ansicht vertreten, dass auch die Verleugnungsformel einer objektiven [[Auslegung (Recht)|Auslegung]] zugänglich sei. Ein Rückgriff auf die tatsächlichen Regelungsabsichten des Gesetzgebers sei nicht nötig. Entscheidend sei vielmehr der im Gesetzeswortlaut „objektivierte Wille des Gesetzgebers“.<ref>{{Literatur|Autor=Steffen Forschner|Titel=[http://w210.ub.uni-tuebingen.de/dbt/volltexte/2003/718/pdf/Diss.PDF Die Radbruchsche Formel in den höchstrichterlichen „Mauerschützenurteilen“] (PDF; 341 kB)|Ort=Online-Dissertation, Tübingen|Jahr=2003|Seiten=10 f.|Kommentar=mit weiteren Nachweisen}}</ref> Darüber hinaus wird die These vertreten, dass eine subjektive Deutung der Verleugnungsformel Radbruchs Rechtsphilosophie verfehle, da dieser auch innerhalb seiner [[Auslegung (Recht)|juristischen Methodenlehre]] die objektive Gesetzesauslegung („Zweck des Gesetzes“) gegenüber der subjektiven („Zwecke des Gesetzgebers“) bevorzugt habe.<ref>{{Literatur|Autor=Knut Seidel|Titel=Rechtsphilosophische Aspekte der „Mauerschützen“-Prozesse|Ort=Berlin|Jahr=1999|Seiten=176}}</ref> |
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Ihren heutigen Vertretern (in Deutschland derzeit: [[Robert Alexy]], Ralf Dreier) zufolge setzt die Radbruchsche Formel die [[Erkenntnistheorie|erkenntnistheoretische]] Möglichkeit voraus, objektiv überhaupt zwischen „gerechten“ und „ungerechten“ Gesetzen unterscheiden zu können.<ref>Vgl. statt vieler {{Literatur|Autor=Robert Alexy|Titel=Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit|Ort=Hamburg|Jahr=1993|Seiten=22}}</ref> Diese erkenntnistheoretische Möglichkeit wurde von Rechtspositivisten wie [[Hans Kelsen]] oder [[Alf Ross]] – vor 1945 jedoch auch von Gustav Radbruch selbst<ref>Radbruch hat bezüglich dieser erkenntnistheoretischen Fragen nach 1945 keine erschöpfende Stellungnahme mehr abgegeben. Zuvor (zuletzt explizit 1932) hatte er die Möglichkeit, objektiv zwischen Recht und Unrecht unterscheiden zu können, auf der Grundlage seines neukantianischen Wertrelativismus verneint. Vgl. hierzu auch die folgenden Teile des Artikels, insbesondere den Abschnitt ''Stellung der Formel innerhalb der Rechtsphilosophie Gustav Radbruchs''.</ref> – bestritten. [[H. L. A. Hart]] ließ die Beantwortung dieser Frage offen.<ref>{{Literatur|Autor=H. L. A. Hart|Titel=Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral|Sammelwerk=H. L. A. Hart: Recht und Moral. Drei Aufsätze|Ort=Göttingen|Jahr=1971|Seiten=14–57, 51 ff}}</ref> Radbruch selbst vertrat diesbezüglich nach 1945 die Ansicht, dass sich angesichts der jahrhundertelangen Bemühungen um die Begründung der [[Menschenrechte]] zumindest ein Kernbestand an Rechten herausschälen lasse, den nur noch eine „gewollte Skepsis“ wirklich anzweifeln könne.<ref>{{Literatur|Autor=Gustav Radbruch|Titel=5 Minuten Rechtsphilosophie|Sammelwerk=Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie, Studienausgabe|Auflage=1.|Ort=Heidelberg|Jahr=1999|Seiten=209 f., 210}}</ref> Teilweise wird darauf hingewiesen, dass die Radbruchsche Formel erkenntnistheoretisch im Wege der [[Falsifikation]] vorgehe: Die Radbruchsche Formel versuche nicht, positiv festzustellen, was gerecht sei ([[Verifikation]]). Sie beschränke sich darauf, negativ festzustellen, welche Gesetze jedenfalls „extrem ungerecht“ seien. Dieses erkenntnistheoretisch negative Verfahren sei leichter durchzuführen und weniger Einwänden ausgesetzt als das entgegengesetzte positive Verfahren.<ref>{{Literatur|Autor=Steffen Forschner|Titel=[http://w210.ub.uni-tuebingen.de/dbt/volltexte/2003/718/pdf/Diss.PDF Die Radbruchsche Formel in den höchstrichterlichen „Mauerschützenurteilen“] (PDF; 341 kB)|Ort=Online-Dissertation, Tübingen|Jahr=2003, S. 14 f}}</ref> |
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== Stellung innerhalb der Rechtsphilosophie Radbruchs == |
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[[Datei:Radbruch Rechtsphilosophie.png|miniatur|Die „Rechtsphilosophie“ von 1932]] |
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Die Frage, ob und inwieweit die Radbruchsche Formel einen Wendepunkt innerhalb des rechtsphilosophischen Denkens ihres Verfassers bezeichnet, ist ein lebhafter Gegenstand der gegenwärtigen rechtsphilosophischen Diskussion.<ref>Vgl. hierzu auch den Aufsatz ''Einführung in die Rechtsphilosophie Radbruchs'' von Stanley Paulson und Ralf Dreier, in: Gustav Radbruch, ''Rechtsphilosophie'', Studienausgabe, Heidelberg 1999, S. 235–250.</ref> Vor 1945 taucht die Formel in Radbruchs Schriften nicht auf. Vielmehr vertrat er noch 1932 die Auffassung, dass der Richter das positive Recht ohne Ausnahme zu befolgen habe. Diese Haltung war Ausdruck des von Radbruch vertretenen [[Relativismus|Wertrelativismus]]. Radbruchs Wertrelativismus beruht auf der strikten logischen Unterscheidung zwischen [[Humes Gesetz|Sein und Sollen]]:<ref>Die Annahme einer fundamentalen erkenntnistheoretischen Kluft zwischen Sein und Sollen wurde erstmals von [[David Hume]] vertreten. Sie spielte auch eine wichtige Rolle im Werk [[Immanuel Kant]]s und der [[Neukantianismus|Neukantianer]]. Radbruch war Anhänger der Heidelberger Richtung des Neukantianismus, der unter anderem [[Wilhelm Windelband]], [[Heinrich Rickert (Philosoph)|Heinrich Rickert]] und [[Emil Lask]] angehörten. Die 2. Auflage seiner ''Rechtsphilosophie'' von 1932 wusste sich der philosophischen Tradition des Heidelberger Neukantianismus explizit verpflichtet. Vgl. hierzu {{Literatur|Autor=Gustav Radbruch|Titel=Rechtsphilosophie|Auflage=2.|Jahr=1932|Seiten=1 ff}} sowie {{Literatur|Autor=Stanley Paulson, Ralf Dreier|Titel=Einführung in die Rechtsphilosophie Radbruchs|Sammelwerk=Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie, Studienausgabe|Ort=Heidelberg|Jahr=1999|Seiten=235–250, 236}}</ref> |
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{{Zitat|Sollenssätze sind nur durch andere Sollenssätze begründbar und beweisbar. Eben deshalb sind die letzten Sollenssätze unbeweisbar, axiomatisch, nicht der Erkenntnis, sondern nur des Bekenntnisses fähig.|Gustav Radbruch|''Rechtsphilosophie''. 3. Auflage, 1932, S. 8.}} |
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Diese relativistische Grundannahme führte Radbruch dazu, auch die Möglichkeiten der Rechtsphilosophie entsprechend bescheiden zu formulieren: Die Rechtsphilosophie sei nicht in der Lage, den Konflikt verschiedener Weltanschauungen aufgrund objektiver Argumente zu entscheiden. Aufgabe der Rechtsphilosophie sei es, die Grundwertungen der unterschiedlichen Weltanschauungen zu analysieren und zu vergleichen, nicht aber, eine Rangordnung zwischen ihnen aufzustellen. Auf der Basis dieses rechtsphilosophischen Relativismus unterschied Radbruch drei „nicht mehr auf einander rückführbare“ grundlegende Rechtsauffassungen: die individualistische, die überindividualistische und die transpersonale Auffassung. Die individualistische Auffassung vertrete den Primat des Einzelnen und seiner Bedürfnisse gegenüber der Gesamtheit. Der überindividualistischen Auffassung dienten individuelle Bedürfnisse lediglich zur Schaffung von Kollektivwerten und stünden diesen nach. Der transpersonalen Auffassung zufolge stünden sowohl Individualbedürfnisse als auch Kollektivbedürfnisse im Dienste übergeordneter kultureller Ziele.<ref>{{Literatur|Autor=Gustav Radbruch|Titel=Rechtsphilosophie|Auflage=2.|Jahr=1932|Seiten=54}}</ref> Alle drei Rechtsauffassungen stehen Radbruch zufolge gleichberechtigt nebeneinander. Eine argumentativ zwingende Bevorzugung der einen gegenüber der anderen sei nicht möglich. |
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Unterschiedlich beantwortet wird die Frage, ob Gustav Radbruch sein auf dem Wertrelativismus basierendes rechtsphilosophisches System mit Einführung der Radbruchschen Formel nach 1945 im Wesentlichen beibehalten, modifiziert oder aufgegeben hat.<ref>Vgl. zur Debatte vor allem {{Literatur|Autor=Knut Seidel|Titel=Rechtsphilosophische Aspekte der „Mauerschützen“-Prozesse|Ort=Berlin|Jahr=1999|Seiten=159 ff}}</ref> Auch in der zuerst 1948 herausgegebenen ''Vorschule der Rechtsphilosophie'' unterschied Radbruch wie bereits 1932 zwischen der individualistischen, der überindividualistischen und der transpersonalen Rechtsauffassung. Zudem betrachtete er die Idee einer Rangordnung der drei „Wertklassen“ nach wie vor als nicht durchführbar. Dennoch erkannte er im Unterschied zu 1932 nun einen relativen Vorrang der individualistischen Rechtsauffassung an: Sowohl die transpersonale als auch die überindividualistische Rechtsauffassung hätten die Geltung der individuellen Menschenrechte hinzunehmen. Kollektivwerte und Kulturwerte müssten zurücktreten, wenn elementare Menschenrechte verletzt werden. In ''jeder'' Rechtsordnung stecke daher ein gewisses Maß an Liberalismus als notwendiger Einschlag.<ref>{{Literatur|Autor=Gustav Radbruch|Titel=Vorschule der Rechtsphilosophie|Auflage=2.|Ort=Göttingen|Jahr=1959|Seiten=29}}</ref> |
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Dennoch vertreten Stanley Paulson, Ralf Dreier und Hidehiko Adachi die sogenannte Einheitsthese: Die Radbruchsche Formel bedeute keine nennenswerte Veränderung der von Radbruch vor 1945 vertretenen rechtsphilosophischen Grundannahmen.<ref>{{Literatur|Autor=Stanley Paulson, Ralf Dreier|Titel=Einführung in die Rechtsphilosophie Radbruchs|Sammelwerk=Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie, Studienausgabe|Ort=Heidelberg|Jahr=1999|Seiten=235–250, 248}} und {{Literatur|Autor=Hidehiko Adachi|Titel=Die Radbruchsche Formel: eine Untersuchung der Rechtsphilosophie Gustav Radbruchs|Ort=Baden-Baden|Jahr=2006|Seiten=93 ff}}</ref> Diese These beruht auf verschiedenen Passagen aus Radbruchs zur Zeit der [[Weimarer Republik]] entstandenem Werk, insbesondere der zweiten Auflage der ''„Rechtsphilosophie“'' von 1932, die die Radbruchsche Formel zumindest vorzubereiten scheinen. So legte Radbruch bereits 1932 die Existenz sogenannter ''„Schandgesetze“'' nahe, denen das Gewissen den Gehorsam verweigere. Als Beispiel führte er die [[Sozialistengesetz]]e an. Dem Wortlaut nach nahm Radbruch 1932 auch die Grundgedanken der „Verleugnungsformel“ bereits vorweg. Dies ergibt sich aus seinem Rechtsbegriff, demzufolge das Recht ''„diejenige Wirklichkeit ist, die den Sinn hat, der Gerechtigkeit zu dienen“''.<ref>{{Literatur|Autor=Gustav Radbruch|Titel=Rechtsphilosophie, Studienausgabe|Auflage=2.|Ort=Heidelberg|Jahr=2003|Seiten=35}}</ref> |
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Andererseits muss betont werden, dass Radbruch vor 1945 strikt an dem Grundsatz festhielt, wonach zumindest ein Richter jedes Gesetz unabhängig davon, ob er es für ungerecht hält, anzuwenden habe.<ref>Vgl. Gustav Radbruch: ''Rechtsphilosophie, Studienausgabe''. 2. Auflage, Heidelberg 2003, S. 85: „Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Rechtstreue nicht beirren läßt.“</ref> Er vertrat somit – bezogen auf die rechtsprechende Gewalt – ursprünglich einen definitiven Vorrang des positiven Rechts, den er erst nach 1945 in einen bloßen Prima-Facie-Vorrang umwandelte. Aus diesen Gründen wird in der Sekundärliteratur mehrheitlich die Auffassung vertreten, dass Radbruch sein vor 1945 ausgebautes rechtsphilosophisches System durch die Radbruchsche Formel jedenfalls nicht unwesentlich modifiziert habe.<ref>Vgl. die Darstellung bei {{Literatur|Autor=Knut Seidel|Titel=Rechtsphilosophische Aspekte der „Mauerschützen“-Prozesse|Ort=Berlin|Jahr=1999}}</ref> [[H. L. A. Hart]] sprach in diesem Zusammenhang sogar von einer Bekehrung („conversion“) Radbruchs zur [[Naturrecht]]slehre,<ref>{{Literatur|Titel=Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral|Sammelwerk=H. L. A. Hart: Recht und Moral. Drei Aufsätze|Ort=Göttingen|Jahr=1971|Seiten=14–57, 40}}</ref> während [[Lon Fuller]] einen Umbruch („a profound modification“) innerhalb seines Systems ausmachte.<ref>{{Literatur|Titel=American Legal Philosophy at Mid-Century|Autor=Lon Fuller|Sammelwerk=Journal of Legal Education 6, 1954, S. 457–485}}</ref> |
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Häufig wird die Radbruchsche Formel als Reaktion Radbruchs auf das [[Nationalsozialismus|nationalsozialistische]] Unrechtssystem verstanden.<ref>So zum Beispiel H. L. A. Hart in seinem Aufsatz {{Literatur|Titel=Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral|Sammelwerk=H. L. A. Hart: Recht und Moral. Drei Aufsätze|Ort=Göttingen|Jahr=1971|Seiten=14–57, 39 ff}}</ref> Radbruch selbst vertrat explizit die These, ein unter den deutschen Richtern damals vorherrschender [[Rechtspositivismus|Positivismus]] habe diese gegenüber noch so ungerechten Gesetzen wehrlos gemacht. Diese sogenannte „Radbruch-These“ gilt heute als widerlegt.<ref>Vgl. statt vieler {{Literatur|Autor=Stanley Paulson, Ralf Dreier|Titel=Einführung in die Rechtsphilosophie Radbruchs|Sammelwerk=Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie, Studienausgabe|Ort=Heidelberg|Jahr=1999|Seiten=235–250, 248}}</ref> Weder zur Zeit der [[Weimarer Republik]] noch später zur Zeit des [[Nationalsozialismus]] waren die deutsche Rechtswissenschaft bzw. Rechtsprechung mehrheitlich rechtspositivistisch orientiert. Die Tragfähigkeit der Radbruchschen Formel und ihrer rechtsphilosophischen Grundannahmen kann daher nur unabhängig von dieser Prämisse diskutiert werden. |
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== Ideengeschichtliche Einordnung == |
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Die Grundaussage der oben genannten „Formel“ scheint sich auf den ersten Blick weit zurückverfolgen zu lassen. Schon in der [[Antike]] und im [[Mittelalter]] finden sich Argumente, dass dem Staat bzw. seinem Gesetz nicht unter allen Umständen zu gehorchen sei. So argumentierte etwa [[Augustinus]] im Sinne des Naturrechts: ''„Ein ungerechtes Gesetz ist (überhaupt) kein Gesetz.“''.<ref>Augustin: ''de liberio arbitrio'', I 5, S. 11.</ref> Ähnliche Aussagen finden sich bei den [[Stoa|Stoikern]], insbesondere bei [[Seneca]], sowie bei [[Thomas von Aquin]]. |
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Es wäre ein Missverständnis, wollte man Radbruchs Bezugnahme auf „unerträglich“ ungerechte Gesetze als uneingeschränkte Rückkehr zu naturrechtlichen Vorstellungen deuten. Der Radbruchschen Formel zufolge scheiden lediglich „unerträglich“ – die heutigen Anhänger der Radbruchschen Formel verwenden den Ausdruck „extrem“<ref>Vgl. nur {{Literatur|Autor=Robert Alexy|Titel=Begriff und Geltung des Rechts|Ort=Freiburg und München|Jahr=1992}}</ref> – ungerechte Gesetze aus dem Normenkreis des anwendbaren Rechts aus. In allen übrigen Fällen bleibt es aus Gründen der Rechtssicherheit beim Anwendungsvorrang des positiven Rechts. Ebendiese Bezugnahme auf die Rechtssicherheit unterscheidet die Radbruchsche Formel von den oben zitierten naturrechtlichen Stellungnahmen. Diese berücksichtigen das von den Rechtspositivisten für wichtig erachtete Prinzip der Rechtssicherheit überhaupt nicht, sondern betrachten jedes ungerechte Gesetz ungeachtet anderer Prinzipien als Nicht-Recht. Die Radbruchsche Formel basiert also auf einem Kompromiss. Der aufgrund dieses Kompromisses postulierte ''prinzipielle'' Anwendungsvorrang des positiven Rechts auch gegenüber ungerechten und unzweckmäßigen Gesetzen führte Radbruchs Schüler [[Arthur Kaufmann (Jurist)|Arthur Kaufmann]] dazu, dessen Rechtsphilosophie als „jenseits von Naturrecht und Positivismus“ stehend einzuordnen.<ref>{{Literatur|Autor=Arthur Kaufmann|Titel=Rechtsphilosophie|Auflage=2.|Ort=München|Jahr=1997|Seiten=40 ff}}</ref> |
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Radbruch war nicht der erste Rechtstheoretiker, der entsprechende Überlegungen anstellte. In seinem Buch „Gesetz und Richterspruch“ (1915) beschäftigte sich der [[schweizer]]ische Rechtstheoretiker Hans Reichel mit verschiedenen Abwägungsproblemen, die einem Richter im Wege der Rechtsfindung begegnen können. Ebenso wie Radbruch nahm auch Reichel ein Spannungsverhältnis zwischen den Prinzipien der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit an. Sein Ziel war es, dieses Spannungsverhältnis aufzulösen, ohne den Grundsatz der Rechtssicherheit preiszugeben. Nachdem er festgestellt hatte, dass das Prinzip der Rechtssicherheit jedenfalls normalerweise vorrangig sei, schränkte er diese Grundregel folgendermaßen ein: |
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{{Zitat|Der Richter ist kraft seines Amtes verpflichtet, von einer gesetzlichen Vorschrift bewußt abzuweichen dann, wenn jene Vorschrift mit dem sittlichen Empfinden der Allgemeinheit dergestalt in Widerspruch steht, daß durch Einhaltung derselben die Autorität von Recht und Gesetz erheblich ärger gefährdet sein würde als durch deren Außerachtsetzung.|Hans Reichel|''Gesetz und Richterspruch''. Zürich 1915, S. 142.}} |
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Auf diese Weise nahm Reichel die Kernaussage der Radbruchschen Formel nicht wörtlich, wohl aber sinngemäß vorweg.<ref>{{Literatur|Autor=Steffen Forschner|Titel=[http://w210.ub.uni-tuebingen.de/dbt/volltexte/2003/718/pdf/Diss.PDF Die Radbruchsche Formel in den höchstrichterlichen „Mauerschützenurteilen“] (PDF; 341 kB)|Ort=Online-Dissertation, Tübingen|Jahr=2003, S. 14}}</ref> Im Gegensatz zur 30 Jahre später entstandenen Radbruchschen Formel wurden Reichels Äußerungen jedoch weder von der Rechtsprechung noch von der rechtstheoretischen Diskussion in nennenswertem Umfang rezipiert. |
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== Rezeption durch Rechtsprechung und Rechtsphilosophie == |
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In Deutschland haben sowohl das [[Bundesverfassungsgericht]] als auch der [[Bundesgerichtshof]] die Radbruchsche Formel mehrfach angewandt. Sie spielt überdies eine große Rolle in der internationalen rechtsphilosophischen Diskussion um den Begriff des Rechts, das [[Widerstandsrecht]] und den [[Tyrannenmord]], wobei nicht immer klar zwischen den beiden Spielarten der Formel, der Unerträglichkeitsformel und der Verleugnungsformel, unterschieden wird.<ref>Diesen Mangel an Differenzierung kritisiert {{Literatur|Autor=Hans Vest|Titel=Gerechtigkeit für Humanitätsverbrechen? Nationale Strafverfolgung von staatlichen Systemverbrechen mit Hilfe der Radbruchschen Formel|Ort=Tübingen|Jahr=2006|Seiten=21}}</ref> |
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=== Rezeption durch die Rechtsprechung === |
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Die Radbruchsche Formel wurde von der Rechtsprechung des [[Bundesverfassungsgericht]]s und des [[Bundesgerichtshof]]s mehrfach angewandt. Zuerst geschah dies in der [[Nachkriegszeit in Deutschland|Nachkriegszeit]] bei der Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten des [[Zeit des Nationalsozialismus|NS-Unrechts]] sowie in neuerer Zeit bei der Bewertung der Strafbarkeit der sogenannten [[Schießbefehl|Mauerschützen]] nach dem Zusammenbruch der [[DDR]]. |
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==== Nachkriegszeit ==== |
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In den ersten Jahrzehnten nach Ende des [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkriegs]] ging es im Rahmen einer Anwendung der Radbruchschen Formel zunächst um die Frage, inwieweit bestimmte – nach Auffassung der deutschen Bundesgerichte besonders anstößige – nationalsozialistische Vorschriften und Gesetze in der Lage seien, auch die Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland als geltendes Recht zu binden. Der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht vertraten in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass jedenfalls evident ungerechte Regelungen des nationalsozialistischen Gesetzgebers für die bundesdeutsche Rechtsprechung unbeachtlich seien. Sie beriefen sich hierbei explizit auf die Grundsätze der Radbruchschen Formel. |
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In seinem Urteil vom 12. Juli 1951<ref>III ZR 168/50, [[Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen|BGHZ]] 3, 94 ([[Erschießung]] eines [[Fahnenflucht|Deserteurs]] durch Angehörige des [[Volkssturm]]s in den letzten Tagen des 2. Weltkriegs).</ref> erklärte der Bundesgerichtshof die Erschießung eines Deserteurs auf der Flucht durch einen Bataillonskommandeur des [[Volkssturm]]s für rechtswidrig. Der Bataillonskommandeur berief sich zu seiner Rechtfertigung auf einen sogenannten Katastrophenbefehl [[Heinrich Himmler]]s. Dieser Katastrophenbefehl habe jeden Waffentragenden berechtigt, Menschen auf der Flucht ohne weiteres zu erschießen. Der Bundesgerichtshof stützte sich, nachdem er zunächst die mangelnde Gesetzesqualität des Katastrophenbefehls gerügt hatte, zur Bekräftigung seines Urteils explizit auf Radbruch: |
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{{Zitat|Selbst wenn dieser Befehl als Gesetz oder Rechtsverordnung verkündet worden wäre, wäre er nicht rechtsverbindlich. Das Gesetz findet dort seine Grenze, wo es in Widerspruch zu den allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechtes oder zu dem Naturrecht tritt (OGHSt 2, 271) oder der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als »unrichtiges Recht« der Gerechtigkeit zu weichen hat. Wird der Grundsatz der Gleichheit bei der Setzung des positiven Rechts überhaupt verleugnet, dann entbehrt das Gesetz der Rechtsnatur und ist überhaupt kein Recht (Radbruch, SJZ 1946, 105 [107]). Zu den unveräußerlichen Rechten eines Menschen gehört, daß er nicht ohne Gerichtsverfahren seines Lebens beraubt werden darf. An diesem Rechtsgrundsatz hat sogar die Verordnung über die Errichtung von Standgerichten vom 15. Februar 1945 (RGBl I, 30) noch festgehalten. Danach kommt dem sogenannten Katastrophenbefehl keine Gesetzeskraft zu. Er ist keine Rechtsnorm; seine Befolgung wäre objektiv rechtswidrig||BGHZ 3, 94 (107).}} |
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Mit der Frage der Verbindlichkeit einer formell korrekt erlassenen NS-Rechtsnorm für bundesdeutsche Gerichte und der diesbezüglichen Bedeutung der Radbruchschen Formel beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht in seinem ''Staatsangehörigkeitsbeschluss'' vom 14. Februar 1968.<ref name="ABI">BVerfG, Beschluss vom 14. Februar 1968, Az. 2 BvR 557/62, {{BVerfGE|23|98}} - Ausbürgerung I.</ref> Konkret ging es um § 2 der ''11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz'' vom 25. November 1941: |
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{{Zitat|§ 2. Ein Jude verliert die deutsche Staatsangehörigkeit a) wenn er beim Inkrafttreten dieser Verordnung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat, mit dem Inkrafttreten der Verordnung, b) wenn er seinen gewöhnlichen Aufenthalt später im Ausland nimmt, mit der Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts ins Ausland.}} |
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Die Rechtsgeltung der Verordnung war in einem erbrechtlichen Fall bedeutsam. Dessen Lösung hing davon ab, ob die Ausbürgerung eines [[Judentum|jüdischen]] deutschen Staatsbürgers auf Grundlage dieser Vorschrift rechtens gewesen war. Das Bundesverfassungsgericht verneinte diese Frage unter Bezugnahme auf die Gedanken der Radbruchschen Formel folgendermaßen: |
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{{Zitat|1. Nationalsozialistischen „Rechts“vorschriften kann die Geltung als Recht abgesprochen werden, wenn sie fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit so evident widersprechen, daß der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht sprechen würde. […]<br />2. In der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 ([[Reichsgesetzblatt|RGBl.]] I S. 772) hat der Widerspruch zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß sie von Anfang an als nichtig erachtet werden muß.||BVerfGE 23, 98 (Ausbürgerung I).}} |
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Auch eine konsequente Anwendung der Radbruchschen Formel führt jedoch zu unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten unter Umständen nicht haltbaren Resultaten. Dies anerkennt auch das Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf den [[Grundgesetz]]geber:<ref>BVerfG, Beschluss vom 15. April 1980, Az. 2 BvR 842/77, {{BVerfGE|54|53}} - Ausbürgerung II.</ref> |
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Die, in Anwendung der Radbruchschen Formel dogmatisch korrekte, gänzliche Aberkennung der Geltungskraft einer Rechtsnorm (wie eben der "Ausbürgerungs"-Gesetze) blendet die (vom Bundesverfassungsgericht so genannte) "soziologische Geltung" einer Rechtsnorm völlig aus. Es geht dabei um die Feststellung, dass auch im Sinne der Radbruchschen Formel nicht zu beachtende Regeln, wenn auch nicht akzeptable, so doch "tatsächlich" oder eben "soziologisch" vorhandene Folgen ausgelöst haben. Im Falle von "Ausbürgerungen" bedeutet dies konkret, dass den von diesen Ausbürgerungen Betroffenen die Anerkennung ihrer Staatsbürgerschaft tatsächlich verweigert wurde, was nicht ungeschehen gemacht werden kann; und dass viele von ihnen sich mit dem "Faktum" ihrer "Ausbürgerung" in der einen oder anderen Weise arrangiert haben, zum Beispiel indem sie eine andere Staatsbürgerschaft angenommen haben. Auf dies ist Rücksicht zu nehmen und es kann nicht einfach ohne weiteres, durch Aberkennung aller (Rechts-)Folgen der "Ausbürgerungs"-Regeln, der "status quo ante" wiederhergestellt werden. Es bleibt also nichts anderes übrig, als diejenigen Regeln, welchen man die Rechtsqualität versagt, eben doch in einem gewissen Sinne zu berücksichtigen. |
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Des Weiteren gibt das Bundesverfassungsgericht zu bedenken, dass das Unrecht der "Ausbürgerung", also in der Regel eine krasse Verletzung des Willens der betroffenen Mitbürger, nicht dadurch wiedergutgemacht werden kann, dass ihr Wille erneut missachtet wird, indem sie ohne ihr Zutun (wieder) Deutsche Bürger werden (bzw. anerkannt wird, dass sie dies weiterhin sind), ihnen gewissermaßen die Staatsbürgerschaft eines Staates aufgezwungen wird, welcher sie verfolgt hat und welchem sie möglicherweise für alle Zeiten den Rücken gekehrt haben. Auch aus diesem Grund sind die Folgen der nicht zu berücksichtigenden Regel eben trotz der Radbruchschen Formel als "tatsächlich" vorhanden anzuerkennen. |
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==== Mauerschützen-Prozesse ==== |
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Eine erneute Aktualität erlangte die Radbruchsche Formel nach der [[Wende (DDR)|friedlichen Revolution]] in der DDR und der 1990 folgenden [[Deutsche Wiedervereinigung|Wiedervereinigung]] im Rahmen der Mauerschützenprozesse.<ref>Monika Frommel sprach von einer „überraschenden Aktualität“: {{Literatur|Autor=Monika Frommel|Titel=Die Mauerschützenprozesse – eine unerwartete Aktualität der Radbruchschen Formel|Sammelwerk=Haft u. a. (Hrsg.): Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag|Ort=Heidelberg|Jahr=1993|Seiten=81 ff}}</ref> Hierbei ging es sowohl um die Strafbarkeit ehemaliger DDR-Grenzsoldaten, die im Rahmen der Ausübung ihres Dienstes an der [[Innerdeutsche Grenze|innerdeutschen Grenze]] DDR-Staatsbürger auf der Flucht von der [[DDR]] in die Bundesrepublik Deutschland erschossen hatten, als auch um die Strafbarkeit ihrer Befehlshaber als [[Mittelbare Täterschaft|mittelbare Täter]]. |
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[[Bild:Gesetze.jpg|miniatur|hochkant=2|Vergleich von § 27 DDR Grenzgesetz mit entsprechenden bundesdeutschen Regelungen. Juristen, die eine Anwendung der Radbruchschen Formel im Rahmen der Mauerschützenprozesse ablehnten, bezweifelten auch aufgrund der wörtlichen Nähe der Gesetze, dass es sich bei § 27 DDR Grenzgesetz um eine unerträglich ungerechte Norm handelte.]] |
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Nach überwiegender Ansicht rechtfertigte das geschriebene Recht der DDR die Tötung unbewaffneter Flüchtlinge im Grenzgebiet. Als Rechtfertigungsgründe für die Grenzsoldaten kamen hierbei sowohl § 17 Abs. 2 lit. a VoPoG als auch (seit 1982) § 27 des Grenzgesetzes der DDR in Frage. § 27 Abs 2 S. 1 des Grenzgesetzes hatte folgenden Wortlaut:<ref>Gemäß § 213 Abs. 3 Satz 1 DDR-StGB i.d.F. vom 28. Juni 1979 galt der sogenannte ungesetzliche Grenzübertritt in schweren Fällen als Verbrechen. Ein schwerer Fall wurde vom Obersten Gericht der DDR bereits dann angenommen, wenn für den unerlaubten Grenzübertritt beispielsweise eine Leiter benutzt wurde. Vgl. hierzu {{Literatur|Autor=Robert Alexy|Titel=Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit|Ort=Hamburg|Jahr=1993|Seiten=11}}</ref> |
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{{Zitat|Die Anwendung der Schußwaffe ist gerechtfertigt, um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt.}} |
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Der Bundesgerichtshof wertete das Handeln der ehemaligen Grenzsoldaten und ihrer Befehlshaber als nicht gerechtfertigte Fälle von [[Totschlag (Deutschland)|Totschlag]] gemäß {{§|212|stgb|juris}} Abs. 1 [[Strafgesetzbuch (Deutschland)|StGB]]. Den in § 27 Abs. 2 S. 1 des DDR-Grenzgesetzes enthaltenen Rechtfertigungsgrund erklärte der BGH für nicht anwendbar.<ref>Einschlägige Entscheidungen: Urteil vom 3. November 1992 – [http://www.servat.unibe.ch/dfr/bs039001.html 5 StR 370/92], [[Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen|BGHSt]] 39, 1 ([[Strafbarkeit]] des [[Schusswaffengebrauch]]s an der innerdeutschen Grenze); Urteil vom 20. März 1995 – [http://www.servat.unibe.ch/dfr/bs041101.html 5 StR 111/94], BGHSt 41, 101 ([[Tötungshandlung]]en an der [[Innerdeutsche Grenze|innerdeutschen Grenze]])</ref> Neben völkerrechtlichen Gesichtspunkten berief sich der Bundesgerichtshof hierbei spätestens in seinem Urteil vom 20. März 1995 explizit auf den Gedanken der Radbruchschen Formel:<ref>Urteil vom 20. März 1995 – [http://www.servat.unibe.ch/dfr/bs041101.html 5 StR 111/94] (Abschnitt D. II. 3. a) aa)), BGHSt 41, 101 ([[Tötungshandlung]]en an der [[Innerdeutsche Grenze|innerdeutschen Grenze]])</ref> § 27 Abs. 2 des Grenzgesetzes verstoße gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und sei daher unbeachtlich. Hierbei wies der Bundesgerichtshof zwar auf seiner Ansicht nach substantielle Unterschiede im Unrechtsgehalt zwischen der durch § 27 Abs. 2 Grenzgesetz getroffenen Ermächtigung zum Schießen und verschiedenen Formen des NS-Unrechts hin. Im Ergebnis hielt der Bundesgerichtshof die Radbruchsche Formel jedoch für auch auf die Mauerschützenfälle anwendbar. Die Schwelle zum extremen Unrecht sei auch in diesen Fällen überschritten worden. Das aus {{Art.|103|gg|juris}} Abs. 2 [[Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland|Grundgesetz]] folgende [[Rückwirkungsverbot|Verbot rückwirkender Bestrafung]] (Rechtsgrundsatz auf lat.: ''[[nulla poena sine lege]]'') hielt der BGH für nicht betroffen, da es keinen Vertrauensschutz auf die Unverbrüchlichkeit einer bestimmten Staatspraxis gewähre.<ref>{{Literatur|Autor=Steffen Forschner|Titel=[http://w210.ub.uni-tuebingen.de/dbt/volltexte/2003/718/pdf/Diss.PDF Die Radbruchsche Formel in den höchstrichterlichen „Mauerschützenurteilen“] (PDF; 341 kB)|Ort=Online-Dissertation, Tübingen|Jahr=2003, S. 99}}</ref> Das Bundesverfassungsgericht verwarf in seinem Beschluss zu den Mauerschützen vom 24. Oktober 1996 die gegen die Urteile des Bundesgerichtshofs eingelegten Verfassungsbeschwerden.<ref>BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 1996, Az. 2 BvR 1851/94, {{BVerfGE|95|96}} - Mauerschützen.</ref> Im Gegensatz zum Bundesgerichtshof problematisierte das Bundesverfassungsgericht die Rückwirkungsthematik. Es hielt {{Art.|103|gg|juris}} Abs. 2 GG jedoch für im Ergebnis nicht verletzt. Für Fälle außerordentlichen Unrechts sei in das ansonsten absolut geltende Rückwirkungsverbot eine ungeschriebene Schrankenklausel einzubauen.<ref>Vgl. hierzu auch {{Literatur|Autor=Robert Alexy|Titel=Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zu den Tötungen an der innerdeutschen Grenze vom 24. Oktober 1996|Ort=Hamburg|Jahr=1997|Seiten=18 ff}}</ref> |
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==== Kritik an der Rechtsprechung ==== |
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Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs zur Radbruchschen Formel wurde sehr unterschiedlich bewertet. Grundsätzlichen, aus Skepsis gegenüber der Radbruchschen Formel insgesamt erwachsenden Bedenken, standen insbesondere im Rahmen der Mauerschützenprozesse auch nichtpositivistische Kritiker gegenüber. Diese ließen das Konzept der Radbruchschen Formel an sich gelten. Sie begrüßten insbesondere die Anwendung der Formel auf bestimmte Regelungen aus der nationalsozialistischen Zeit, wie dies im ''Staatsangehörigkeitsbeschluss'' des Bundesverfassungsgerichts geschehen war.<ref name="ABI" /> Der Rechtsprechung zu den Schüssen an der innerdeutschen Grenze standen sie jedoch entweder im Ergebnis oder bezüglich der Begründung der Entscheidungen kritisch bis ablehnend gegenüber. Die erste Form dieser – nichtpositivistischen – Kritik verwies auf die vom Bundesgerichtshof im Ergebnis verneinte Frage, ob der unterschiedliche Unrechtsgehalt von NS-Normen wie § 2 der 11. Reichsbürgerverordnung einerseits und § 27 Abs. 2 DDR-Grenzgesetz andererseits eine Anwendbarkeit der Radbruchschen Formel im Falle der Mauerschützen verbiete. Sowohl Ralf Dreier – ein grundsätzlicher Befürworter der Radbruchschen Formel – als auch andere Autoren bestritten, dass bei den Schüssen an der innerdeutschen Grenze die Schwelle zum extremen Unrecht überhaupt überschritten worden sei.<ref>{{Literatur|Autor=Ralf Dreier|Titel=Juristische Vergangenheitsbewältigung|Ort=Baden-Baden|Jahr=1995|Seiten=33}}</ref> In diesem Zusammenhang wurde auch darauf aufmerksam gemacht, dass der Wortlaut von § 27 des DDR-Grenzgesetzes durchaus mit den entsprechenden Regelungen des bundesdeutschen Rechts ({{§|10|uzwg|juris}} Abs. 1 Satz 1 [[UZwG]]) vergleichbar gewesen sei.<ref>Vgl. {{Literatur|Autor=Frank Lucien Lorenz|Titel=„Rechtsgeltung“, DDR-„Geschichte“ und Angemessenheit von Strafe|Sammelwerk=JZ 1994|Seiten=388 ff}} und {{Literatur|Autor=[[Jörg Arnold]], Martin Kühl|Titel=Forum: Probleme der Strafbarkeit von „Mauerschützen“|Sammelwerk=JuS 1992|Seiten=911 f}}</ref> Die zweite Form der nichtpositivistischen Kritik begrüßte die Rechtsprechung zu den Schüssen an der innerdeutschen Grenze zwar im Ergebnis, kritisierte jedoch die von der Rechtsprechung für dieses Ergebnis gelieferte Begründung. So vertrat beispielsweise Robert Alexy die Auffassung, dass § 27 Abs. 2 DDR-Grenzgesetz die Schwelle zum extremen Unrecht überschritten habe. Er merkte jedoch an, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit der von Jugend an in der DDR entsprechend beeinflussten Grenzsoldaten fraglich sei. Ein unvermeidbarer [[Verbotsirrtum]], der zum Freispruch der Mauerschützen geführt hätte, habe zumindest nahegelegen.<ref>{{Literatur|Autor=Robert Alexy|Titel=Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit|Ort=Hamburg|Jahr=1993|Seiten=36 ff}}</ref> Steffen Forschner wiederum bescheinigte insbesondere dem Bundesgerichtshof eine schwankende Argumentation: Insbesondere dessen erstes einschlägiges Urteil vom 3. November 1992<ref>BGH, Urteil vom 3. November 1992 – 5 StR 370/92, BGHSt 39, 1.</ref> mache nicht hinreichend deutlich, inwieweit der Bundesgerichtshof seine Entscheidung zur Bestrafung der Mauerschützen auf positives [[Völkerrecht]] oder auf überpositive Rechtsmaßstäbe im Sinne der Radbruchschen Formel gestützt habe.<ref>{{Literatur|Autor=Steffen Forschner|Titel=[http://w210.ub.uni-tuebingen.de/dbt/volltexte/2003/718/pdf/Diss.PDF Die Radbruchsche Formel in den höchstrichterlichen „Mauerschützenurteilen“] (PDF; 341 kB)|Ort=Online-Dissertation|Jahr=2003|Seiten=62}}</ref> |
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=== Rechtsphilosophische Bedeutung und Kritik === |
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Die Radbruchsche Formel steht im Zentrum der gegenwärtigen rechtsphilosophischen Diskussion um die angemessene Fassung des Rechtsbegriffs. Konkret geht es hierbei um die Kontroverse zwischen den Vertretern der rechtspositivistischen „Trennungsthese“ einerseits und der nichtpositivistischen „Verbindungsthese“ andererseits. Dieser Streit geht von der Frage aus, ob es angemessen sei, Radbruchs Konzept des „unerträglichen“ Unrechts als ausschließendes Definitionsmerkmal in den Begriff des Rechts zu integrieren. |
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Die „Trennungsthese“ formuliert einen positivistischen Rechtsbegriff. Sie wurde bzw. wird insbesondere von [[H. L. A. Hart]] und – im deutschsprachigen Raum – von [[Norbert Hoerster]] vertreten: Der Begriff des Rechts sei so zu definieren, dass er keine moralischen Elemente – also auch keine Bezugnahme auf „extremes Unrecht“ – enthält. Recht sind den Vertretern der Trennungsthese gemäß somit ''alle'' Normen, die das Gesetzgebungsverfahren formal korrekt durchlaufen haben und sozial überwiegend wirksam sind.<ref>Einen ganz ähnlichen Rechtsbegriff vertrat auch der [[österreich]]ische Rechtspositivist [[Hans Kelsen]], der sich an der Debatte um die Radbruchsche Formel jedoch nicht aktiv beteiligte.</ref> Das Hauptargument der Anhänger des positivistischen Rechtsbegriffs ist hierbei neben einer generellen erkenntnistheoretischen Skepsis<ref>H. L. A. Hart und Norbert Hoerster halten es jedoch für möglich, die Position des Rechtspositivismus auch ohne Bezugnahme auf die erkenntnistheoretische Problematik der intersubjektiven Bestimmung „extremen Unrechts“ zu verteidigen.</ref> das sogenannte „Klarheitsargument“. [[H. L. A. Hart]] brachte dieses Argument in seiner klassischen Formulierung folgendermaßen auf den Punkt: |
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{{Zitat|Denn wenn wir uns Radbruchs Ansicht anschließen und mit ihm und den deutschen Gerichten unseren Protest gegen verwerfliche Gesetze in die Behauptung kleiden, daß gewisse Normen wegen ihrer moralischen Unhaltbarkeit nicht Recht sein können, so bringen wir Verwirrung in eine der stärksten, weil einfachsten Formen moralischer Kritik.|H. L. A. Hart<ref>{{Literatur|Autor=H. L. A. Hart|Titel=Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral|Sammelwerk=H. L. A. Hart: Recht und Moral. Drei Aufsätze|Ort=Göttingen|Jahr=1971|Seiten=14–57, 45 f}}</ref>}} |
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Rechtspositivisten wie Hart und Norbert Hoerster halten die Radbruchsche Formel zudem für eine versteckte Umgehung des [[Rückwirkungsverbot]]s. Die Umgehung des Rückwirkungsverbots wird darin gesehen, dass Personen im Rahmen der Radbruchschen Formel für Vergehen und Verbrechen nachträglich bestraft werden, obwohl ihre Taten zum Zeitpunkt der Tatbegehung vom positiven Recht nicht für strafbar erklärt wurden. Diese Kritik der Rechtspositivisten an der Radbruchschen Formel sollte nicht missverstanden werden: Auch Hart hielt es grundsätzlich für richtig, NS-Verbrecher im Nachhinein für ihre Taten zu bestrafen. Er forderte die Rechtsprechung jedoch dazu auf, diese nachträgliche Bestrafung ''offen'' als partielle Außerkraftsetzung des Rückwirkungsverbots zu titulieren. Diese Offenlegung bezeichnete Hart als ein Gebot der Klarheit und der argumentativen Redlichkeit.<ref>Vgl. {{Literatur|Autor=H. L. A. Hart|Titel=Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral|Sammelwerk=H. L. A. Hart: Recht und Moral. Drei Aufsätze|Ort=Göttingen|Jahr=1971|Seiten=14–57, 44}}</ref> |
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Die Vertreter der „Verbindungsthese“ (in Deutschland derzeit besonders dezidiert Robert Alexy und Ralf Dreier) verfechten hingegen einen Rechtsbegriff, der auch moralische Elemente einschließt. Sie erkennen die Stärke der beiden Hauptargumente der Rechtspositivisten – das Klarheitsargument und das Rückwirkungsargument – grundsätzlich an.<ref>{{Literatur|Autor=Robert Alexy|Titel=Begriff und Geltung des Rechts|Ort=Freiburg und München|Jahr=1992|Seiten=105}}</ref> Robert Alexy ist jedoch der Auffassung, dass ein um die Inhalte der Radbruchschen Formel ergänzter Rechtsbegriff auch in puncto Klarheit gegenüber dem positivistischen Rechtsbegriff keine gravierenden Nachteile aufweise. Fälle „extremen Unrechts“, auf die die Radbruchsche Formel allein abstelle, seien im Gegensatz zu „normalem Unrecht“ klar erkennbar. Aus diesem Grund sei auch die Rechtssicherheit nicht gefährdet, wenn der Rechtsbegriff um moralische Elemente im Sinne der Radbruchschen Formel ergänzt werde. Auch das Rückwirkungsargument hält Alexy im Ergebnis für nicht durchschlagend. Er verweist hierzu wiederum – nunmehr in umgekehrter Intention – auf das Klarheitsargument: Da extremes Unrecht klar erkennbar ([[Evidenz|evident]])<ref>{{Literatur|Autor=Robert Alexy|Titel=Begriff und Geltung des Rechts|Ort=Freiburg und München|Jahr=1992|Seiten=105}}</ref> sei, dürfe sich niemand auf die scheinbare Legitimation seiner Taten durch extrem ungerechte Gesetze verlassen: Es sei bereits zum Zeitpunkt der Tat für jedermann, der sich auf solche Gesetze stütze, unmittelbar einsichtig, dass er eigentlich ein Unrecht begehe. Dieses Argument noch verstärkend, wird zudem folgendes vorgebracht: Die Radbruchsche Formel ändere die objektiv zur Tatzeit geltende Rechtslage nicht rückwirkend ab. Sie stelle lediglich deklaratorisch fest, wie die Rechtslage sich bereits zum früheren Zeitpunkt – unter Zugrundelegung gewisser Grundsätze der materiellen Gerechtigkeit – objektiv dargestellt habe.<ref>Vgl. statt vieler {{Literatur|Autor=Robert Alexy|Titel=Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit|Ort=Hamburg|Jahr=1993|Seiten=33}}</ref> Aus diesen Gründen wird auch der Vorwurf einer versteckten Rückwirkung von den Vertretern der Verbindungsthese zurückgewiesen.<ref>Vgl. {{Literatur|Autor=Robert Alexy|Titel=Begriff und Geltung des Rechts|Ort=Freiburg und München|Jahr=1992|Seiten=106}}</ref> Alexy vertritt daher den folgenden, auf der „Verbindungsthese“ aufbauenden Rechtsbegriff: |
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{{Zitat|Das Recht ist ein Normensystem […], das aus der Gesamtheit der Normen besteht, die zu einer im großen und ganzen wirksamen Verfassung gehören und nicht extrem ungerecht sind.|Robert Alexy|''Begriff und Geltung des Rechts''. Freiburg und München 1992, S. 201.}} |
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Der Rechtsbegriff der Radbruchschen Formel lässt sich in einer normativen Theorie der Rechtsgeltung abbilden. Eindrucksvoll gelingt das unter Heranziehung einer natur- oder vernunftrechtlichen Grundnorm, die im Unterschied zur positivistischen Grundnorm Hans Kelsens nicht nur als erkenntnistheoretisches bzw. „methodologisches Apriori“ der Normgeltung, sondern als real existierender Satz des überpositiven Rechts fungiert. Ralf Dreier entwickelt einen „Grundnormtyp Kant-Radbruch“, der die Geltung positiven Rechts an eine zweistufige rechtsethische Bedingung knüpft. Zum einen müsse das Gesamtsystem „erstens im großen und ganzen sozial wirksam und zweitens im großen und ganzen ethisch gerechtfertigt“ sein. Das laufe im Sinne Immanuel Kants auf die Forderung nach der Errichtung einer demokratischen Staatsverfassung hinaus. Zum anderen müsse aber auch jede einzelne (unterrangige) Norm des Systems „erstens ein Minimum an sozialer Wirksamkeit bzw. Wirksamkeitschance und zweitens ein Minimum an ethischer Rechtfertigung bzw. Rechtfertigungsfähigkeit“ aufweisen.<ref>Ralf Dreier: Recht - Moral - Ideologie, S. 197 f.</ref> |
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Offen bleibt die Frage, ob der „Grundnormtyp Kant-Radbruch“ einen strukturellen Überaufwand betreibt. Björn Schumacher wendet ein, dass ein schlichterer „Grundnormtyp Kant“, der die Geltung aller Normen eines Rechtssystems allein von der Existenz einer demokratischen Staatsverfassung abhängig macht, regelmäßig zum gleichen Ergebnis führt wie der „Grundnormtyp Kant-Radbruch“. Dies beruhe auf der Fähigkeit des demokratischen Verfassungsstaats, moralwidrige Gesetze, Verordnungen usw. mittels spezifischer Verfahren und Institutionen aus eigener Kraft aus dem Rechtssystem zu eliminieren. Obendrein seien, wie Schumacher betont, grob moralwidrige bzw. unerträglich ungerechte Gesetze in Verfassungsstaaten mit kodifiziertem Grundrechtsteil bereits nach dem juristischen, wenn man so will: positivistischen, Rechtsbegriff kein geltendes Recht, weil sie gegen höherrangige Verfassungsprinzipien verstoßen.<ref>Björn Schumacher: Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel, S. 67 f.</ref> |
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Allerdings könnte Dreier seinen „Grundnormtyp Kant-Radbruch“ mit einem pädagogischen Argument verteidigen. Möglicherweise schützt eine Geltungslehre mit zweifachem rechtsethischem Bezug den demokratischen Rechtsstaat wirksamer vor einer Pervertierung zum totalitären Unrechtsstaat − vorausgesetzt, sie wird von der Rechtswissenschaft unmissverständlich propagiert. Unter umgekehrten Vorzeichen vollzog sich der Niedergang der Weimarer Republik. Die schleichende Aushöhlung demokratischer Prinzipien vor 1933, die auch auf der Geringschätzung staatsethischer Leitideen in der damaligen Rechtswissenschaft beruhte, wurde zu einem beachtlichen Katalysator der „Machtergreifung“ Adolf Hitlers.<ref>Siehe dazu Martin Kriele: Staatsphilosophische Lehren aus dem Nationalsozialismus, in: Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus (ARSP, Beiheft 18, 1983), S. 210-222.</ref> |
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H. L. A. Hart ging in seiner Kritik der Radbruchschen Formel über die im Rahmen des systematischen Streites um die ''Trennungsthese'' bzw. die ''Verbindungsthese'' geäußerte Kritik noch hinaus. Er hatte zwar menschliches Verständnis für die von Radbruch seiner Ansicht nach vollzogenen Kehrtwende vom Positivismus zum Nichtpositivismus und führte diese auf persönliche Eindrücke Radbruchs während des [[Zeit des Nationalsozialismus|Dritten Reiches]] zurück. Er betrachtete die Radbruchsche Formel jedoch als rechtsphilosophisch unhaltbar. Sie enthalte keine ernstzunehmende intellektuelle Argumentation, sondern lediglich eine leidenschaftliche, nicht von ausführlichen Erörterungen getragene Mahnung.<ref>{{Literatur|Autor=H. L. A. Hart|Titel=Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral|Sammelwerk=H. L. A. Hart: Recht und Moral. Drei Aufsätze|Ort=Göttingen|Jahr=1971|Seiten=14–57, 45}}</ref> |
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== Literatur == |
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=== Einschlägige Veröffentlichungen Radbruchs === |
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* {{Literatur|Titel=Rechtsphilosophie III|Sammelwerk=Arthur Kaufmann (Hrsg.): Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Band 3|Jahr=1990|Ort=Heidelberg|ISBN=978-3-8114-4389-1}} |
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* {{Literatur|Titel=Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht|Sammelwerk=[[Süddeutsche Juristenzeitung]]|Jahr=1946|Seiten=105–108}} |
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* {{Literatur|Titel=Fünf Minuten Rechtsphilosophie (1945)|Sammelwerk=Ralf Dreier und Stanley L. Paulson (Hrsg.): Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie (Studienausgabe), 2. Auflage, Heidelberg 2011|Seiten=209 f}} |
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* {{Literatur|Titel=Rechtsphilosophie (Dritte Auflage. Originalausgabe: Leipzig 1932)|Auflage=2.|Sammelwerk=Ralf Dreier und Stanley L. Paulson (Hrsg.): Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie (Studienausgabe)|Auflage=2.|Jahr=2011|Ort=Heidelberg|ISBN=978-3-8114-5349-4}} |
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* {{Literatur|Titel=Vorschule der Rechtsphilosophie|Auflage=2.|Ort=Göttingen|Jahr=1959}} |
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=== Sekundärliteratur === |
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;Explizit zur Radbruchschen Formel |
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* {{Literatur|Autor=Björn Schumacher|Titel=Rezeption und Kritik der Radbruchschen Formel|Ort=Göttingen|Jahr=1985}} |
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* {{Literatur|Autor=Stanley Paulson, Ralf Dreier|Titel=Einführung in die Rechtsphilosophie Radbruchs|Sammelwerk=Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie, Studienausgabe|Auflage=2.|Ort=Heidelberg|Jahr=2011|Seiten=235–250}} |
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* {{Literatur|Autor=Robert Alexy|Titel=Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit|Ort=Hamburg|Jahr=1993|ISBN=978-3-525-86282-7}} |
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* {{Literatur|Autor=Frank Saliger|Titel=Radbruchsche Formel und Rechtsstaat|Ort=Heidelberg|Jahr=1995|ISBN=978-3811462953}} |
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* {{Literatur|Autor=Robert Alexy|Titel=Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zu den Tötungen an der innerdeutschen Grenze vom 24. Oktober 1996|Ort=Hamburg|Jahr=1997|ISBN=978-3-525-86293-3}} |
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* {{Literatur|Autor=Horst Dreier|Titel=Gustav Radbruch und die Mauerschützen|Ort=Juristenzeitung|Jahr=1997, S. 421 ff}} |
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* {{Literatur|Autor=Knut Seidel|Titel=Rechtsphilosophische Aspekte der „Mauerschützen“-Prozesse|Ort=Berlin|Jahr=1999|ISBN=978-3-428-09748-7}} |
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* {{Literatur|Autor=Steffen Forschner|Titel=[http://w210.ub.uni-tuebingen.de/dbt/volltexte/2003/718/pdf/Diss.PDF Die Radbruchsche Formel in den höchstrichterlichen „Mauerschützenurteilen“]|Ort=Online-Dissertation, Tübingen|Jahr=2003 ([[PDF]], 333 KB)}} |
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* {{Literatur|Autor=Hidehiko Adachi|Titel=Die Radbruchsche Formel: eine Untersuchung der Rechtsphilosophie Gustav Radbruchs|Ort=Baden-Baden|Jahr=2006|ISBN=978-3-8329-2028-9}} |
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* {{Literatur|Autor=Hans Vest|Titel=Gerechtigkeit für Humanitätsverbrechen? Nationale Strafverfolgung von staatlichen Systemverbrechen mit Hilfe der Radbruchschen Formel|Ort=Tübingen|Jahr=2006|ISBN=978-3-16-149103-0}} |
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;Zur Trennungsthese/Verbindungsthese |
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* {{Literatur|Autor=H. L. A. Hart|Titel=Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral|Sammelwerk=H. L. A. Hart: Recht und Moral. Drei Aufsätze|Ort=Göttingen|Jahr=1971|Seiten=14–57|ISBN=978-3-525-33311-2}} |
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* {{Literatur|Autor=Robert Alexy|Titel=Begriff und Geltung des Rechts|Ort=Freiburg und München|Jahr=1992|ISBN=978-3-495-48063-2}} |
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* {{Literatur|Autor=Matthias Kaufmann|Titel=Rechtsphilosophie|Ort=München|Jahr=1996|ISBN=978-3-495-47478-5}} |
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* {{Literatur|Autor=Norbert Hoerster|Titel=Was ist Recht? Grundfragen der Rechtsphilosophie|Ort=München|Jahr=2006|ISBN=978-3-406-54147-6}} |
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== Weblinks == |
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* [http://www.uni-potsdam.de/fileadmin/projects/jur-zimmermann/LV_2010_2011/Koll_Radbruch_Aufsatz-SJZ_1946__105.pdf Gustav Radbruchs Aufsatz ''„Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“''] (PDF; 50 kB) |
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* [http://www.servat.unibe.ch/rphil/t/Radbruch_Fuenf_Minuten.pdf Gustav Radbruchs Aufsatz ''„5 Minuten Rechtsphilosophie“''] (PDF; 13 kB) |
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* [http://rechtsgeschichte-life.jura.uni-sb.de/2001November.htm Informationen zur ''Radbruchschen Formel'' mit weiterführenden Links] (Institut für Rechtsinformatik der [[Universität des Saarlandes]]) |
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== Einzelnachweise == |
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[[Kategorie:Rechtsphilosophie]] |
Version vom 16. Januar 2014, 16:07 Uhr

Siehe auch: Rechtsgeltung/Zur Geltung ungerechter Gesetze
Als Radbruchsche Formel wird eine erstmals 1946 formulierte These des deutschen Rechtsphilosophen Gustav Radbruch bezeichnet. Dieser These zufolge hat sich ein Richter im Konflikt zwischen dem positiven (gesetzten) Recht und der Gerechtigkeit immer dann und nur dann gegen das Gesetz und für die materielle Gerechtigkeit zu entscheiden, wenn das fragliche Gesetz entweder als „unerträglich ungerecht“ anzusehen ist oder das Gesetz die – Radbruch zufolge – im Begriff des Rechts grundsätzlich angelegte Gleichheit aller Menschen aus Sicht des Interpreten „bewusst verleugnet“.
Da die Radbruchsche Formel mehrfach von der bundesdeutschen höchstrichterlichen Rechtsprechung angewandt wurde, gilt Radbruchs Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“, der diese These erstmals enthielt, manchen Autoren als die einflussreichste rechtsphilosophische Schrift des 20. Jahrhunderts.[1] Die Frage, ob der rechtspositivistische Rechtsbegriff, der allein auf die ordnungsgemäße Setzung und die soziale Wirksamkeit einer Norm abstellt,[2] im Sinne der Radbruchschen Formel modifiziert werden sollte, bildet eine grundlegende Kontroverse der gegenwärtigen rechtsphilosophischen Diskussion.
Inhalt und Struktur
Inhalt und verschiedene Fassungen
Radbruch veröffentlichte die als „Radbruchsche Formel“ in die rechtsphilosophische Ideengeschichte eingegangene Textpassage erstmals im Jahr 1946 im Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ in der Süddeutschen Juristenzeitung.[3] Die heute gebräuchliche Bezeichnung „Radbruchsche Formel“ wurde erstmals 1948 von Richard Lange verwendet.[4]
Befindet sich ein Richter in einer Konfliktsituation, in der er zwischen den Möglichkeiten schwankt, eine ihm ungerecht erscheinende Norm des positiven Rechts entweder anzuwenden oder sie zugunsten der materiellen Gerechtigkeit zu verwerfen (Ausnahmesituation), dann schlägt Radbruch vor, den Konflikt folgendermaßen aufzulösen:
„Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“
Ganz ähnlich legte Radbruch diese Position auch in der posthum veröffentlichten Vorlesungsnachschrift[5] „Vorschule der Rechtsphilosophie“ dar: Wo die Ungerechtigkeit des positiven Rechts ein solches Maß erreiche, dass die durch dieses Gesetz garantierte Rechtssicherheit gegenüber seiner Ungerechtigkeit überhaupt nicht mehr ins Gewicht falle, trete dieses „unrichtige“ Recht gegenüber der Gerechtigkeit zurück.[6] An anderer Stelle heißt es
- ↑ Zu diesen Autoren zählen Stanley Paulson, Ralf Dreier: Einführung in die Rechtsphilosophie Radbruchs. In: Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie, Studienausgabe. Heidelberg 1999, S. 235–250, 245. und Hans Vest: Gerechtigkeit für Humanitätsverbrechen? Nationale Strafverfolgung von staatlichen Systemverbrechen mit Hilfe der Radbruchschen Formel. Tübingen 2006, S. 18.
- ↑ Mittels dieser beiden Merkmale definiert Robert Alexy: Begriff und Geltung des Rechts. Freiburg und München 1992, S. 29. den rechtspositivistischen Rechtsbegriff. Alexy unterscheidet darüber hinaus primär setzungsorientierte und primär wirksamkeitsorientierte positivistische Rechtsbegriffe, legt jedoch ausführlich dar, dass sämtliche Rechtspositivisten (in unterschiedlicher Intensität) beide Definitionsmerkmale in ihre Definition des Rechtsbegriffs aufnehmen.
- ↑ In der Gesamtausgabe findet man den Aufsatz in Band 3, Seite 83 (90).
- ↑ Richard Lange: Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In: SJZ 1948. S. 655 ff.
- ↑ Gustav Radbruch: Vorschule der Rechtsphilosophie – Nachschrift einer Vorlesung. Herausgegeben von Harald Schubert und Joachim Stoltzenburg, Scherer Verlag, Heidelberg 1947. Im Vorwort schreibt Radbruch: Zwei Hörer meiner rechtsphilosophischen Vorlesung […] baten mich, sie zur Vervielfältigung der Nachschrift dieser Vorlesung zu ermächtigen. […] Ich habe den Text revidiert, ihm jedoch den Charakter einer Vorlesungsnachschrift erhalten. Kurze Zeit, nachdem er dieses Vorwort verfasst hatte, starb Radbruch, daher erfolgte die Veröffentlichung erst posthum.
- ↑ Gustav Radbruch: Vorschule der Rechtsphilosophie. 2. Auflage. Göttingen 1959, S. 33.