Polynesische Navigation
Die polynesische Navigation wurde jahrtausendelang genutzt, um ohne Kompasse, Uhren und andere technische Hilfsmittel lange Reisen über Tausende von Kilometern im offenen Pazifischen Ozean zu unternehmen. Die Polynesier reisten dank ihrer Navigationstechniken mit Ausleger- oder Doppelrumpfkanus zu fast jeder Insel im riesigen Polynesischen Dreieck, besiedelten dessen Inseln und unterhielten trotz der großen Entfernungen kulturellen Austausch und Handel. Die Doppelrumpfkanus bestanden aus zwei großen, gleich langen Rümpfen, die nebeneinander festgezurrt waren. Der Raum zwischen den parallel angeordneten Kanus ermöglichte auf langen Reisen die Lagerung von Lebensmitteln, Jagdmaterial und Netzen.[1] Die polynesische Navigation nutzt Orientierungstechniken wie Astronavigation, die Beobachtung von Vögeln, Meereswellen und Windmustern und stützt sich auf umfangreiches Wissen aus mündlicher Überlieferung.[2][3][4][5]


Im Allgemeinen unterhielt jede Insel eine Gilde von Seefahrern, die einen sehr hohen Status hatten. Ihre Fähigkeiten waren die Basis für Austausch und Handel und in Notzeiten konnten sie Hilfsgüter eintauschen oder Menschen auf benachbarte Inseln evakuieren. Sowohl die Orientierungstechniken als auch die Konstruktionsmethoden für Auslegerkanus wurden als Gildengeheimnisse gehütet, aber im Zuge der modernen Wiederbelebung dieser Fähigkeiten aufgezeichnet und veröffentlicht.[6][7][8]
Navigationstechniken
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die polynesische Navigation beruht in hohem Maße auf ständiger Beobachtung und auswendig gelernten Wissen. Navigatoren müssen einerseits den richtigen Kurs zu einem weit entfernten Ziel über Tage und Wochen halten und korrigieren können und anderseits die Position von Inseln im näheren Umkreis finden können, auch wenn diese Inseln noch nicht mit bloßem Auge zu erkennen sind.
Kurs und Geschwindigkeit und Änderungen darin erkennen Navigatoren durch ständige Beobachtung von Wind, Wellen, Sonne und Sternen. Navigatoren müssen sich merken, von wo aus sie gesegelt sind, um zu wissen, wo sie sich befinden. Die Sonne ist dabei der wichtigste Wegweiser für Navigatoren, da sie ihre genauen Punkte beim Auf- und Untergang verfolgen können. Sobald die Sonne untergegangen ist, nutzen sie die Auf- und Untergänge der Sterne. In bewölkten Nächten oder bei Tageslicht werden Winde und Wellen als Orientierungshilfe genutzt.[9] Die meisten polynesischen Reisen werden in einer Zone durchgeführt, die innerhalb von 20° vom Äquator liegt, sodass Sterne relativ zum Horizont in nahezu vertikalem Winkel auf- und untergehen. Das Kurshalten mittels bekannter Sterne wird dadurch erleichtert.[10]
Zum Auffinden naheliegender Inseln nutzt die polynesische Navigation eine breite Palette von Techniken, darunter die Flugrichtung bestimmter Vogelarten, Charakteristiken von Meeresströmungen und Wellenmustern, Biolumineszenz, sowie durch Inseln und Atolle verursachte Welleninterferenzmuster.[11][12]
Vogelbeobachtung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Bestimmte Seevögel wie die Seeschwalbe fliegen morgens aufs Meer, um Fische zu jagen, und kehren dann nachts an Land zurück. Navigatoren, die auf der Suche nach Land sind, segeln morgens und abends entlang der Vogelfluglinie in jeweils entgegengesetzte Richtung. Dabei sind sie vor allem auf große Vogelgruppen angewiesen und berücksichtigen die Veränderungen der Fluggewohnheiten während der Brutzeit.[13]
Harold Gatty vermutet, dass polynesische Fernreisen den saisonalen Routen der Vogelzüge folgten. Reisen von Tahiti, den Tuamotus oder den Cookinseln nach Neuseeland könnten der Wanderung des Langschwanzkoels (Eudynamys taitensis) gefolgt sein.[5] Reisen von Tahiti nach Hawaii könnten den Wanderrouten des Pazifischen Goldregenpfeifers (Pluvialis fulva) und des Borstenbrachvogels (Numenius tahitiensis) gefolgt sein.[14][15]
Es wird angenommen, dass Polynesier, wie viele Seefahrervölker, Küstenvögel hielten. Eine Theorie besagt, dass zur Auffindung von Land Fregattvögel mitgenommen wurden. Die Federn dieses Vogels werden durchnässt und nutzlos, wenn er auf dem Wasser landet. Daher ließen Reisende ihn los, wenn sie glaubten, sich dem Land zu nähern, und folgten ihm, wenn er nicht zum Kanu zurückkehrte.[11]
Astronavigation
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Die Position der Sterne dient auch in der polynesischen Navigation der Orientierung. In der polynesischen Navigation wird der Kurs anhand eines Sterns in der Nähe des Horizonts festgelegt und auf einen neuen gewechselt, sobald der erste zu hoch steigt. Für jede Route wird eine bestimmte Abfolge von Sternen auswendig gelernt.[5][17][13] Dabei werden auch Messungen der Sternhöhe durchgeführt, um den Breitengrad zu bestimmen. Auch die Breitengrade bestimmter Inseln sind in der traditionellen polynesischen Navigation bekannt, und es wird die Technik des „Abwärtssegelns über den Breitengrad“ angewendet:[5][17] Das Wissen, dass die Bewegung der Sterne über verschiedenen Inseln einem ähnlichen Muster folgt (das heißt, dass alle Inseln eine ähnliche Beziehung zum Nachthimmel haben), verhilft in der traditionellen polynesischen Navigation zu einem Gefühl für den Breitengrad, sodass mit dem vorherrschenden Wind gesegelt werden kann, bis man den Kurs nach Osten oder Westen ausrichtet, um das Ziel anzusteuern.[4]
Einige polynesische Sternkompasssysteme geben bis zu 150 Sterne mit bekannter Himmelsrichtung an, auch wenn die meisten Systeme nur ein paar Dutzend beinhalten.[5][17][18][19] Die Entwicklung von Sternkompassen wurde untersucht[20] und man vermutet, dass sie sich aus einer Art Peilscheibe entwickelt haben.[11]
Seegang
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die polynesische Navigation nutzt Wellen- und Seegangsformationen zur Zielfindung und Orientierung. Viele der bewohnbaren Gebiete des Pazifischen Ozeans sind Inselgruppen (oder Atolle), die Hunderte von Kilometern lang in Ketten angeordnet sind. Inselketten haben vorhersehbare Auswirkungen auf Wellen und Strömungen. Polynesische Navigatoren kennen zumindest die Auswirkungen ihrer Heimatinseln auf die Form, Richtung und Bewegung des Wellengangs und können ihren Kurs entsprechend korrigieren. In der Nähe einer unbekannten Inselkette, können sie aus ähnlichen Wellenformationen Analogien ableiten.[5]
Da der Wellengang des Pazifik weniger von lokalen Windphänomenen abhängig ist und über viele Tage konstant bleibt, können die Seegangsmuster zum Kurshalten verwendet werden, wenn keine Sterne oder andere Fixpunkte sichtbar sind.[5][17][21]
Wolken und Reflexionen an Wolken
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der weiße Sand der Korallenriffe erwärmt sich im Sonnenlicht und reflektiert große Anteile davon. Tiefes Wasser reflektiert wenig Sonnenlicht. In der polynesischen Navigation werden Wolken identifiziert, die über Atollen entstehen, um letztere zu lokalisieren. Es werden auch subtile Unterschiede in der Farbe von Wolken genutzt, die auf das Vorhandensein von Lagunen oder Flachwasser zurückzuführen sind.[5]
In Ostpolynesien segelten Seefahrer, die von Tahiti zum Tuamotu-Archipel wollten, direkt nach Osten zum Anaa-Atoll, wo es eine flache Lagune gibt, deren schwachgrüne Farbe sich in den Wolken über dem Atoll spiegelt. Der Navigator konnte seinen Kurs korrigieren, wenn er in der Ferne das Spiegelbild der Lagune in den Wolken sah.[22]
Te lapa
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Te lapa ist ein ungeklärtes Lichtphänomen, das in der polynesischen Navigation zur Auffindung von Inseln genutzt wird. Dabei handelt es sich um eine Lichterscheinung, die von Inseln ausgehend auch in großen Distanzen auf oder direkt unter der Wasseroberfläche auftritt. Te lapa ermöglicht dadurch das direkte Ansteuern einer Insel. Die Existenz von Te lapa ist umstritten.[23]
Navigationsgeräte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Derzeit gibt es keine Hinweise darauf, dass historische polynesische Seefahrer Navigationsgeräte an Bord von Schiffen verwendeten.[24] Die mikronesische Bevölkerung der Marshallinseln verwendet jedoch seit langem an Land eine Stabkarte, die als räumliche Darstellung der Inseln und der sie umgebenden Bedingungen dient.


Polynesische Seefahrer erstellten Karten mit Rippen aus Kokosnussblättern, die an einem quadratischen Rahmen befestigt waren, wobei die Krümmung und Schnittpunkte der Blattrippen die Wellenmuster anzeigten, die durch Inseln im Weg des vorherrschenden Windes verursacht wurden.[5][17]
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Peter Bellwood: The Polynesians Prehistory of an Island People. Thames and Hudson, New York 1978, ISBN 978-0-500-02093-7, S. 39 (englisch, Textarchiv – Internet Archive).
- ↑ Liesl Clark: Polynesia's Genius Navigators. Public Broadcasting Service, 15. Februar 2000, abgerufen am 17. November 2016 (englisch).
- ↑ Peter Bellwood: The Polynesians Prehistory of an Island People. Thames and Hudson, New York 1978, ISBN 978-0-500-02093-7, S. 42 (englisch, Textarchiv – Internet Archive).
- ↑ a b Lowell Don Holmes: Island Migrations (1): The Polynesian Navigators Followed a Unique Plan. In: XXV(11) Pacific Islands Monthly. 1. Juni 1955, abgerufen am 1. Oktober 2021 (englisch).
- ↑ a b c d e f g h i Lowell Don Holmes: Island Migrations (2): Birds and Sea Currents Aided Canoe Navigators. In: XXVI(1) Pacific Islands Monthly. 1. August 1955, abgerufen am 1. Oktober 2021 (englisch).
- ↑ Atholl Anderson: No meat on that beautiful shore: the prehistoric abandonment of subtropical Polynesian islands. In: International Journal of Osteoarchaeology. 11. Jahrgang, Nr. 1–2, Januar 2001, ISSN 1047-482X, S. 14–23, doi:10.1002/oa.542 (englisch).
- ↑ Lars Eckstein, Anja Schwarz: The Making of Tupaia's Map: A Story of the Extent and Mastery of Polynesian Navigation, Competing Systems of Wayfinding on James Cook’s Endeavour, and the Invention of an Ingenious Cartographic System. In: The Journal of Pacific History. 54. Jahrgang, Nr. 1, 2. Januar 2019, ISSN 0022-3344, S. 1–95, doi:10.1080/00223344.2018.1512369 (englisch).
- ↑ Patrick V. Kirch: Polynesian Prehistory: Cultural Adaptation in Island Ecosystems: Oceanic islands serve as archaeological laboratories for studying the complex dialectic between human populations and their environments. In: American Scientist. 68. Jahrgang, Nr. 1, 1980, ISSN 0003-0996, S. 39–48, JSTOR:27849718 (englisch).
- ↑ Nainoa Thompson: On Wayfinding. In: Polynesian Voyaging Society. Abgerufen am 11. April 2018 (englisch).
- ↑ Sean McGrail: Early ships and seafaring: water transport beyond Europe. Pen and Sword Books Limited, Barnsley 2014, ISBN 978-1-4738-2559-8 (englisch).
- ↑ a b c Harold Gatty: Finding Your Way Without Map or Compass. Dover Publications, 1958, ISBN 978-0-486-40613-8 (englisch).
- ↑ David Lewis: Wind, Wave, Star, and Bird. In: National Geographic. 146. Jahrgang, Nr. 6, 1974, S. 747–754 (englisch).
- ↑ a b David Lewis: We, the Navigators. University of Hawaii Press, HI 1972, ISBN 978-0-8248-0229-5 (englisch).
- ↑ Julia Blakely: Be Your Own Navigator. In: Smithsonian Libraries Unbound, 11 Februar 2016 (englisch).
- ↑ Harold Gatty: The Raft Book: Lore of the Sea and Sky. George Grady Press, New York 1943 (englisch, Textarchiv – Internet Archive).
- ↑ Star Compasses. Polynesian Voyaging Society, archiviert vom am 24. Oktober 2011 (englisch).
- ↑ a b c d e Lowell Don Holmes: Island Migrations (3): Navigation was an Exact Science for Leaders. In: XXVI(2) Pacific Islands Monthly. 1. September 1955, abgerufen am 1. Oktober 2021 (englisch).
- ↑ Harold Gatty: Nature Is Your Guide. Dover, Mineola 1958, S. 45 (englisch, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
- ↑ Star Compasses. In: Hawaiian Voyaging Traditions (englisch).
- ↑ Michael David Halpern: The Origins of the Carolinian Sidereal Compass. Master’s thesis. Texas A & M University, 1985, OCLC 16881103 (englisch, tamu.edu [ vom 1. April 2005 im Internet Archive] [PDF]).
- ↑ Tristan Gooley: How to Read Water: Clues, Signs & Patterns from Puddles to the Sea. Hodder & Stoughton, New York 2016, ISBN 978-1-4736-1520-5 (englisch).
- ↑ Navigators of Eastern Polynesia. In: VII(8) Pacific Islands Monthly. 23. März 1937, abgerufen am 28. September 2021 (englisch).
- ↑ Marianne George: Polynesian Navigation and Te Lapa-"The Flashing". In: Time and Mind: The Journal of Archaeology, Consciousness and Culture. 5. Jahrgang, Nr. 2, 2011, S. 135–174, doi:10.2752/175169712X13294910382900 (englisch, researchgate.net [abgerufen am 23. Oktober 2022]).
- ↑ K. R. Howe (Hrsg.): Vaka Moana: Voyages of the Ancestors. Bateman, Auckland, New Zealand 2006, ISBN 978-1-86953-625-1, S. 175–177 (englisch).