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Doppeltes Empathie-Problem

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Das Doppelte Empathie-Problem (engl. double empathy problem) ist eine Theorie zur Erklärung der Schwierigkeiten, die bei der sozialen Interaktion von Autisten mit nicht-autistischen („allistischen“) Menschen auftreten. Sie geht davon aus, dass viele dieser Schwierigkeiten, die traditionell als autismusbedingte Defizite beschrieben werden, durch einen gegenseitigen Mangel an Einfühlungsvermögen für die jeweils andere Gruppe verursacht werden. Kommunikationsprobleme zwischen Autisten und Nicht-Autisten beruhten demnach auf Gegenseitigkeit, da beide Gruppen nur bedingt dazu in Lage seien, sich in die jeweils andere hineinzuversetzen. Es handele sich also nicht um dem Autismus inhärente Kommunikationsdefizite, sondern um verschiedene Kommunikationsstile, die auf beiden Seiten zu Missverständnissen führten.

Das Doppelte Empathie-Problem wurde erstmals 2012 von dem auf Autismus spezialisierten Soziologen und Sozialpsychologen Damian Milton vorgestellt[1] und seither durch zahlreiche Studien untermauert. So konnte nachgewiesen werden, dass die meisten Autisten mit anderen Autisten problemlos und störungsfrei interagieren und kommunizieren, Empathie und soziale Gegenseitigkeit zeigen können, im Kontakt mit Nicht-Autisten hingegen Probleme auftreten.[2] Diese Erkenntnisse widersprechen der bislang verbreiteten Auffassung, wonach die sozialen Fähigkeiten von Autisten grundsätzlich in allen Lebensbereichen beeinträchtigt seien, sowie der mittlerweile überholten Mind-blindness-Theorie aus den 1980ern, der zufolge die Empathiefähigkeit und Theory of Mind bei Autisten prinzipiell gestört seien. Obwohl das Doppelte Empathie-Problem ein noch relativ neues Konzept ist und noch viel Forschungsbedarf besteht, stößt es in der Fachwelt zunehmend auf Anerkennung und wurde auch von Vertretern der Mind-blindness aufgegriffen.[3][4][5][6]

  • Damian E.M. Milton: On the ontological status of autism: The ‘double empathy problem’. In: Disability & Society, Band 27, Nr. 6, Juni 2012, S. 883–887. doi:10.1080/09687599.2012.710008
  • Damian Milton, Emine Gurbuz, Beatriz López: The ‘double empathy problem’: Ten years on. In: Autism. Band 26, Nr. 8, Oktober 2022, S. 1901–1903. doi:10.1177/13623613221129123
  • Damian Elgin Maclean Milton, Brett Heasman, Elizabeth Sheppard: Double Empathy. In Fred R. Volkmar (Hrsg.): Encyclopedia of Autism Spectrum Disorders. New York 2020: Springer. doi:10.1007/978-1-4614-6435-8_102273-2. ISBN 978-1-4614-6435-8.
Commons: Double empathy problem – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. Damian E.M. Milton: On the ontological status of autism: the ‘double empathy problem’. In: Disability & Society. Band 27, Nr. 6, Oktober 2012, ISSN 0968-7599, S. 883–887, doi:10.1080/09687599.2012.710008 (tandfonline.com [abgerufen am 4. März 2025]).
  2. Damian Elgin Maclean Milton, Brett Heasman, Elizabeth Sheppard: Double Empathy. In: Encyclopedia of Autism Spectrum Disorders. Springer International Publishing, Cham 2021, ISBN 978-3-319-91279-0, S. 1509–1517, doi:10.1007/978-3-319-91280-6_102273 (springer.com [abgerufen am 4. März 2025]).
  3. Katarína Polónyiová, Joanna Kruyt, Daniela Ostatníková: To the Roots of Theory of Mind Deficits in Autism Spectrum Disorder: A Narrative Review. In: Review Journal of Autism and Developmental Disorders. 6. April 2024, ISSN 2195-7177, doi:10.1007/s40489-024-00457-y (springer.com [abgerufen am 4. März 2025]).
  4. Joe Gough: Theory of Mind and Its Role in Theories of Autism. In: The Palgrave Encyclopedia of Disability. Springer Nature Switzerland, Cham 2024, ISBN 978-3-03140858-8, S. 1–7, doi:10.1007/978-3-031-40858-8_15-1 (springer.com [abgerufen am 4. März 2025]).
  5. Nonzero: Autism and the Two Kinds of Empathy | Robert Wright & Simon Baron-Cohen. 20. Juni 2023, abgerufen am 4. März 2025.
  6. Damian Milton, Emine Gurbuz, Beatriz López: The ‘double empathy problem’: Ten years on. In: Autism. Band 26, Nr. 8, November 2022, ISSN 1362-3613, S. 1901–1903, doi:10.1177/13623613221129123 (sagepub.com [abgerufen am 4. März 2025]).