Benutzer:OberMegaTrans/Der Process
Interpretation
Eine eindeutige Interpretation des Process ist schwierig. Eine Möglichkeit ist es, sich folgender unterschiedlicher Interpretationsansätze zu bedienen, die sich in fünf Hauptrichtungen kategorisieren lassen:[7]
biographisch: siehe Entstehungsgeschichte historisch-kritisch: vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und sozialen Spannungen in Österreich-Ungarn und dem Beginn des Ersten Weltkrieges religiös: vor allem in Bezug auf Kafkas jüdische Herkunft psychoanalytisch: der Process wird als Darstellung und Bewusstwerdung eines inneren Prozesses gesehen politisch und soziologisch: als Kritik an einer verselbstständigten und unmenschlichen Bürokratie und am Fehlen bürgerlicher Freiheitsrechte
Bei der Einordnung in diese Interpretationsansätze ist jedoch Folgendes zu beachten: Ähnlich wie beim Roman Das Schloss sind auch hier „vielfältige Studien entstanden, die wertvolle Einsichten bieten. Sie leiden aber daran, dass die Autoren bestrebt sind, ihre Einsichten in einen interpretatorischen Rahmen zu zwingen, der letztlich außerhalb des Romantextes liegt“.[8] Zunehmend forderten spätere Interpreten, z. B. Martin Walser, die Rückbesinnung auf eine textimmanente Sicht.[9] Die aktuellen Arbeiten von Peter-André Alt oder Oliver Jahraus/Bettina von Jagow gehen in entsprechende Richtung. Bezüge zu anderen Texten Kafkas
Der Roman verarbeitet den Mythos von Schuld und Gericht, dessen traditionelle Wurzeln in der chassidischen Überlieferung liegen. Das Ostjudentum kennt zahlreiche Geschichten von Klägern und Beklagten, vom himmlischen Gericht und von Strafe, undurchsichtigen Behörden und unverständlichen Anklagen – Motive, wie sie in polnischen Sagen auftauchen und bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen.[10]
Zunächst sind viele Parallelen zu Kafkas anderem großen Roman Das Schloss zu erkennen. Die beiden Protagonisten irren durch ein Labyrinth, das dazu da ist, sie scheitern zu lassen oder auch überhaupt keinen Bezug zu ihnen zu haben scheint.[11] Kranke bettlägerige Männer erklären langatmig das System. Erotisch befrachtete Frauengestalten wenden sich fordernd dem Protagonisten zu.
In engem Zusammenhang mit dem Process ist die Erzählung In der Strafkolonie zu sehen, die zeitlich parallel zum Roman im Oktober 1914 innerhalb weniger Tage entstand. Auch hier kennt der Delinquent nicht das Gebot, das er übertreten hat. Eine einzige Person – ein Offizier mit einer schauerlichen Maschine – scheint Ankläger, Richter und Vollstrecker in einem zu sein. Genau das ist aber auch die beängstigende Ahnung des Josef K., dass ein einziger Henker genüge, das gesamte Gericht willkürlich zu ersetzen.[12]
Drei Jahre später schreibt Kafka die Parabel Der Schlag ans Hoftor. Sie mutet an wie eine Kurzfassung des Process-Romans. Aus nichtigem oder gar keinem Anlass wird eine Klage erhoben, die in eine unheilvolle Verstrickung und unentrinnbar in eine Strafe mündet. Das Verhängnis überfällt den Erzähler beiläufig mitten im Alltag. Ralf Sudau formuliert es so: „Ein Vorgefühl von Strafe oder vielleicht ein unbewußtes Strafverlangen... und ein tragischer oder absurder Untergang werden dabei signalisiert“.[13] Einzelne Aspekte Kurze Textanalyse
Das Gericht steht Josef K. als eine unbekannte, anonyme Macht gegenüber. Kennzeichnend für dieses Gericht, das sich von „dem Gericht im Justizpalast“ unterscheidet, sind weit verzweigte, undurchdringbare Hierarchien. Es scheint unendlich viele Instanzen zu geben, nur mit den allerniedrigsten von ihnen hat K. Kontakt. Darum bleibt das Gericht für K. unfassbar, und er kann dessen Wesen trotz all seiner Bemühungen nicht ergründen. Die Aussage des Geistlichen im Dom („Das Gericht will nichts von Dir. Es nimmt Dich auf wenn du kommst und es entläßt Dich wenn Du gehst“) hilft hier nicht. Könnte K. sich einfach dem Gericht entziehen? Seine Realität sieht anders aus. Das Gericht bleibt K. rätselhaft und nicht eindeutig erklärbar.
Josef K. wird mit einer abweisenden, vertröstenden Welt konfrontiert. Wie in Kafkas Parabel Vor dem Gesetz der Mann vom Lande die Hilfe von Flöhen erbittet, sucht Josef K. die Hilfe von Frauen, einem Maler und Rechtsanwälten, die ihren Einfluss nur vortäuschen und ihn vertrösten. Die von K. um Hilfe gebetenen Menschen handeln wie der Türhüter in der schon erwähnten Parabel, der die Geschenke des Mannes vom Lande akzeptiert, aber nur um ihn zu vertrösten und ihn in der Illusion zu lassen, dass seine Taten ihm förderlich seien. Deutungsvielfalt
Die Vielzahl der Deutungen kann ähnlich wie im Fall von Das Schloss aufgrund der Fülle nicht abschließend, sondern nur punktuell berücksichtigt werden.
Der Roman kann zunächst autobiografisch gesehen werden. (Siehe Eingangsabschnitt zur Entstehungsgeschichte.) Man bedenke die Ähnlichkeit der Initialen von Fräulein Bürstner und Felice Bauer. Die intensive Beschreibung des Gerichtswesens weist offensichtlich auf Kafkas Arbeitswelt als Versicherungsjurist hin. Diese Interpretation sieht Elias Canetti.[14]
Die gegenteilige Auffassung, nämlich, dass Der Process kein privates Schicksal darstellt, sondern weitreichende politisch-visionäre Aspekte beinhaltet, nämlich die vorweggenommene Sicht auf den Nazi-Terror, legt Theodor W. Adorno dar.[15]
Eine Synthese beider Positionen liefert Claus Hebell,[16] der nachweist, dass die Verhandlungsstrategie, mit der die Gerichtsbürokratie in dem Prozess K. zermürbt, sich aus ... den Defekten der Rechtsverhältnisse der K. u. K.-Monarchie ableiten lässt.[16]:S. 87 Einige Teilaspekte von Interpretationen
Im Laufe des Romans zeigt sich, dass K. und das Gericht sich nicht als zwei Wesenheiten gegenüberstehen, sondern dass die inneren Verflechtungen zwischen K. und der Gerichtswelt zunehmend stärker werden. Zum Ende des Prozesses „begreift Josef K. […], daß alles, was geschieht, seinem Ich entspringt“,[17] dass alles das Ergebnis von Schuldgefühlen und Straffantasien ist.
Wichtig ist auch die traumhafte Komponente der Geschehnisse. Wie im Traum vermischen sich Inneres und Äußeres.[18] Da ist der Übergang von der fantastisch-realistischen zur allegorisch-psychologischen Ebene. Auch K.s Arbeitswelt wird zunehmend von der phantastischen, traumhaften Welt untergraben. (Ein Arbeitsauftrag führt zum Treffen mit dem Geistlichen.)
Die sexuellen Bezüge der Handlung
Die Schuldgefühle des Protagonisten dürften zum Großteil ihren Grund in der Sicht auf die Sexualität haben, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschte und wie sie sich in den Arbeiten von Sigmund Freud widerspiegeln. „Die Sexualität verbindet sich auf bemerkenswerte Weise mit K.s Prozeß.“[19] Die Frauen sind sirenenhaft, die Vertreter des Gerichts voller lüsterner Gier. Aber genauso ist auch K. voller unbeherrschter Gier Fräulein Bürstner gegenüber und erliegt ohne Gegenwehr den angebotenen Verlockungen.
Des Weiteren können auch homoerotische Elemente im Text erkannt werden.[20] Da ist die fast liebevolle, ironische Sicht K.s auf seinen Direktor. Mehrfach wird die elegante oder enganliegende Kleidung speziell von Männern erwähnt. Es tritt ein halbnackter Prügler auf, der an eine Sadomaso-Gestalt erinnert und die nackten Wächter verprügelt.
Der Process als humoristische Geschichte
Die Freunde Kafkas erzählten, dass er beim Vorlesen aus seinem Werk vielfach laut lachen musste.[21] Deshalb liegt es nahe, im Process – mag sein Kern so ernst und düster sein wie nur möglich – auch eine humoristische Seite zu suchen.
„Denn furchtbar ist das Ganze, aber komisch sind die Details“, bewertet Reiner Stach dieses Phänomen.[22] Die Richter studieren Pornohefte statt Gesetzesbücher, sie lassen sich Frauen herbeitragen wie eine prächtige Speise auf einem Tablett. Die Henker sehen aus wie alternde Tenöre. Ein Gerichtsraum hat ein Loch im Boden, so dass ab und zu das Bein eines Verteidigers in den darunter liegenden Raum ragt.
Geradezu cineastischen Slapstick-Charakter[23] enthält die Szene mit dem alten Beamten, der nach langem nächtlichen Aktenstudium alle ankommenden Advokaten genervt die Treppe hinunterwirft. Die Advokaten wollen sich nicht offen gegen den Beamten stellen und lassen sich so lange immer wieder hinunterwerfen, bis der Beamte ermüdet und der Gerichtsverkehr weitergehen kann.