„Scharia“ – Versionsunterschied
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Die '''Schari'a''' ([[Arabische Sprache|arabisch]] شريعة ''scharī'a'', religiöses Gesetz; auch |
Die '''Schari'a''' ([[Arabische Sprache|arabisch]] شريعة ''scharī'a'' Wasserstelle, Weg zur Tränke, religiöses Gesetz; auch: شرع ''schar`''), das [[Islam|islamische]] [[Recht]], ist eine religiöse Pflichtenlehre, die die Regelung ''aller'' Bereiche des menschlichen Daseins anstrebt. In [[Kasuistik|kasuistischem]] Aufbau bestimmt sie die Rechte und Pflichten des Menschen gegenüber Anderen und gegenüber [[Gott]]. Trotz gelegentlicher Versuche ist die Schari'a nie kodifiziert worden, weshalb Detailfragen immer wieder durchaus strittig diskutiert werden. Die Pflege und Entwicklung der Schari'a obliegt der islamischen [[Jurisprudenz]] (فقه ''[[Fiqh|fiqh]]''). |
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==Die Wurzeln der Rechtswissenschaft== |
==Die Wurzeln der Rechtswissenschaft== |
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# Pflicht (فرض ''fard'' oder واجب ''wādschib'') – das Tun wird belohnt, das Unterlassen bestraft. Unterschieden wird zwischen persönlichen Pflichten (فرض العين ''fard al-ayn''), denen jeder Muslim nachkommen muss, und gemeinschaftlichen Pflichten (فرض الكفاية ''fard al-kifāya'' «Pflicht des Genügeleistens»), bei denen es ausreicht, wenn eine ausreichende Anzahl der Muslime daran teilnimmt. In die erste Kategorie fällt z.B. das fünfmalige tägliche Gebet (صلاة, koranisch صلوة ''[[Salat (Gebet)|salat]]''), in die zweite das gemeinsame Freitagsgebet in der Moschee. |
# Pflicht (فرض ''fard'' oder واجب ''wādschib'') – das Tun wird belohnt, das Unterlassen bestraft. Unterschieden wird zwischen persönlichen Pflichten (فرض العين ''fard al-ayn''), denen jeder Muslim nachkommen muss, und gemeinschaftlichen Pflichten (فرض الكفاية ''fard al-kifāya'' «Pflicht des Genügeleistens»), bei denen es ausreicht, wenn eine ausreichende Anzahl der Muslime daran teilnimmt. In die erste Kategorie fällt z.B. das fünfmalige tägliche Gebet (صلاة, koranisch صلوة ''[[Salat (Gebet)|salat]]''), in die zweite das gemeinsame Freitagsgebet in der Moschee. |
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# Empfehlenswert (مندوب ''mandūb'' oder مستحب ''mustahabb'' oder سنة ''sunna'') – das Tun wird belohnt, das Unterlassen ''nicht'' bestraft |
# Empfehlenswert (مندوب ''mandūb'' oder مستحب ''mustahabb'' oder سنة ''sunna'') – das Tun wird belohnt, das Unterlassen ''nicht'' bestraft |
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# Indifferent (مباح ''mubāh'') – Tun und Unterlassen werden weder belohnt noch bestraft |
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# Verwerflich (مكروه ''makrūh'') – das Tun wird ''nicht'' bestraft, das Unterlassen belohnt |
# Verwerflich (مكروه ''makrūh'') – das Tun wird ''nicht'' bestraft, das Unterlassen belohnt |
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# Verboten (حرام ''harām'') – das Tun wird bestraft, das Unterlassen belohnt |
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===Elemente einer Handlung=== |
===Elemente einer Handlung=== |
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Zur Ausführung einer Handlung nach islamischem Recht gehören verschiedene Elemente, zu denen unter anderem die «Grundpfeiler» (اركان ''arkān'') gehören, ohne die die ganze Handlung hinfällig wird. Einer dieser Grundpfeiler ist die «Absicht» (نية ''nīya''): Eine Handlung, der die Absicht fehlt ist nichtig. |
Zur Ausführung einer Handlung nach islamischem Recht gehören verschiedene Elemente, zu denen unter anderem die «Grundpfeiler» (اركان ''arkān'') gehören, ohne die die ganze Handlung hinfällig wird. Einer dieser Grundpfeiler ist die «Absicht» (نية ''nīya''): Eine Handlung, der die Absicht fehlt ist nichtig. |
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Am Vorhandensein der Elemente der Handlung erkennt der Jurist, ob sie rechtskräftig (صحيح ''sahīh'') oder nichtig (باطل ''bātil'') ist. |
Am Vorhandensein der Elemente der Handlung erkennt der Jurist, ob sie rechtskräftig (صحيح ''sahīh'') oder nichtig (باطل ''bātil'') ist. |
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==Besonderheiten== |
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===Schriftform und Zeugen=== |
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===Rechtsgutachten=== |
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Siehe [[Fatwa]] |
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==Teilbereiche der Scharia== |
==Teilbereiche der Scharia== |
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===Bekleidungsvorschriften=== |
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Jeweils für Männer und für Frauen gelten verschiedene Richtlinien bezüglich Ihr Äußeres. So soll eine Frau Ihre körperlichen Reize vor Fremden bedecken. Für ältere Frauen gelten erleichterte Richtlinien. Männer sollen immer mindestens den Bereich zwischen Bauchnabel und Knie bedeckt halten und Bart und Haare pflegen. |
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Die verschiedenen Formen der Schleier bei der Frau beruhen auf verschiedenen Lebensumstände und Traditionen. Spätestens mit dem Kopftuchverbot durch [[Atatürk]] in der [[Türkei]] wurde aus der Marginalie ein zentraler Streitpunkt. |
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===Ehe=== |
===Ehe=== |
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Islamische Ehen werden durch einen Ehevertrag (عقد النكاح ''aqd an-nikāh'') zwischen einem gesetzlichen Vertreter (ولى ''walī'') der Braut und dem Bräutigam geschlossen. Scheidung ist möglich |
Islamische Ehen werden durch einen Ehevertrag (عقد النكاح ''aqd an-nikāh'') zwischen einem gesetzlichen Vertreter (ولى ''walī'') der Braut und dem Bräutigam geschlossen. Scheidung ist möglich. Männer können bis zu vier Frauen heiraten (Koran Sure 4, Vers 3f.), müssen diese dann aber alle gerecht (''nicht'' «gleich»!) behandeln oder sich mit einer Frau begnügen. Bei der Hochzeit wird ein Geldbetrag (مهر ''mahr'' oder صداق ''sadāq'' «Brautgabe, Morgengabe») vom Bräutigam an die Braut (teilweise) fällig, der dieser nach einer Scheidung komplett ausgezahlt werden muss. |
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Die Frau ist dem Mann |
Die Frau ist dem Mann in allen Bereichen untergeordnet, kann allerdings mit ihrem eigenen Geld wirtschaftich selbstständig handeln. Nur Männer sind zum Unterhalt verpflichtet, der allerdings nicht eingeklagt werden kann. Eine maßvolle körperliche Züchtigung der Frauen durch ihre Ehemänner ist durch die Schari'a gedeckt. |
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Die [[Polygynie]] (Vielweiberei) ist in Tunesien und der Türkei rechtlich nicht gestattet. |
Die [[Polygynie]] (Vielweiberei) ist in Tunesien und der Türkei rechtlich nicht gestattet. |
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===Erbrecht=== |
===Erbrecht=== |
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Das Erbrecht ist im Islam recht kompliziert. Seine koranische Grundlage hat es in Sure 4, Vers 11-12. |
Das Erbrecht ist im Islam recht kompliziert. Seine koranische Grundlage hat es in Sure 4, Vers 11-12 (Die Frauen), in der insbesondere der Erbteil der Frauen geregelt wird, was auf eine Präzisierung vorislamischen Erbrechts schließen lässt. |
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Aus unserer Sicht auffallend ist, dass der Erblasser lediglich über ein Drittel seines Vermögens frei verfügen kann und dass Schulden nicht vererbt werden. Töchter erben die Hälfte des Erbteils von Söhnen, dies ist allerdings in der Schia anders: hier sind Töchter und Söhne zu gleichen Teilen erbberechtigt. |
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===Kriegsrecht=== |
===Kriegsrecht=== |
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===Religionsfreiheit=== |
===Religionsfreiheit=== |
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Die Glaubensfreiheit ist im Koran verankert: Sure 2, Vers 256 und Sure 18, Vers 29. |
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Siehe auch: [[Aleviten]], [[Ibaditen]], [[Ismailiten]], [[Kufr]], [[Schirk]] |
Siehe auch: [[Aleviten]], [[Ibaditen]], [[Ismailiten]], [[Kufr]], [[Schirk]] |
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===Strafrecht=== |
===Strafrecht=== |
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[[Bild:Jeddah02.jpg|thumb|Amputation bei einem Dieb, Saudi Arabien, 50er Jahre des 20. Jahrhunderts]] |
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Strafrecht wird unter anderem in die Hudud ("Hadd" حد, pl. حدود) geregelt. Davon betroffen sind u.a. Alkoholkonsum, Mord und Totschlag, Raub und Diebstahl, Unzucht (زنا ''zina'') und Verleumdung. Die vorgesehenen Sanktionen reichen laut Koran von Rüge über Peitschenhiebe bis hin zur Todesstrafe. Außerehelicher Geschlechtsverkehr wird mit 100 Peitschenhiebe geahndet. Bei bereits verheirateten schreibt der Koran ein lebenslanger Hausarrest vor (Sure 4, Vers 15). Allerdings setzt der Koran hier hohe Hürden, denn es werden speziell für dieses Vergehen vier Zeugen gefordert, was praktisch ein Geständnis notwendig macht. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass der Richter hier den Prozess zugunsten des Beschuldigten zu führen und auch auf die Möglichkeit des Geständniss-Widerrufs hinzuweisen hat. Bei drohender Todesstrafe haben die Angehörigen des Opfers die Möglichkeit, sich stattdessen für eine Entschädigungszahlung zu entscheiden. Die Justiz beaufsichtigt hier im Prinzip nur die vorislamische Blutrache (ثأر ''tha'r'') und verhindert deren Eskalation. |
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Strafrecht im engeren Sinne ist in der Schari'a kaum vorhanden, da selbst bei Mord die Angehörigen des Opfers entscheiden, ob eine Entschädigungszahlung oder die Hinrichtung des Täters erfolgt, die Regelung also quasi privatrechtlich ist. Die Justiz beaufsichtigt hier im Prinzip nur die vorislamische Blutrache (ثأر ''tha'r'') und verhindert deren Eskalation. |
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Einen besonderen Status haben die direkt vom Koran verbotenen Handlungen, die ''hadd''-Straftaten (حد). Das sind Unzucht (زناء ''zinā''), Verleumdung betreffs Unzucht, Weinkonsum, Diebstahl und Straßenraub. Diebstahl wird mit Amputation der rechten Hand, im Wiederholungsfalle mit Amputation des linken Fußes bestraft (siehe Abbildung). Außerehelicher Geschlechtsverkehr wird bei volljährigen, bereits verheirateten mit Steinigung geahndet. Allerdings setzt der Koran hier hohe Hürden, denn es werden speziell für dieses Vergehen vier männliche Zeugen gefordert, was praktisch ein Geständnis notwendig macht. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass der Richter hier den Prozess zugunsten des Beschuldigten zu führen und auch auf die Möglichkeit des Geständniss-Widerrufs hinzuweisen hat. |
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===Verschleierung/[[Kopftuch]]=== |
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Die Vollverschleierung der Frau war bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in islamischen Ländern vor allem ein städtisches Phänomen, auf dem Land hingegen wurde die Art der Kopfbedeckung von praktischen und traditionellen Gesichtspunkten bestimmt, so gibt es auch Schleierformen, die zwar das Gesicht bedecken, die Haare aber frei lassen. |
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Spätestens mit dem Kopftuchverbot durch [[Atatürk]] in der [[Türkei]] wurde aus der Marginalie ein Politikum und der [[Kopftuchstreit]] wird gerade unter Muslimen recht emotional geführt. |
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===Wirtschaft=== |
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Für den Kapitalverkehr ist das Zinsverbot (Sure 2, Vers 278 u.a.) eine besondere Belastung, was schon früh zu Umgehungsgeschäften geführt hat: So kann man z.B. eine Ware mit Zahlungsziel kaufen und sofort zu einem niedrigeren Preis an den Verkäufer, der sofort zahlt, zurückveräußern. Praktisch ist das dann ein Kredit mit Zinsen, der Wortlaut des Gesetzes jedoch eingehalten. Rechtskniffe (حيلة ''hīla;'' pl. حيل ''hiyal'') dieser Art finden sich in der islamischen Rechtspraxis häufig; sie sind eines Mittel, die Scharia an gewandelte Voraussetzungen anzupassen. |
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⚫ | Die einzige genuin islamische Steuer und gleichzeitig eine der «Säulen des Islam» ist die «Almosensteuer» (زكاة ''zakāt'') eine Mischung aus Einkommens- und Vermögenssteuer, die nur zwischen 2,5% und 10% liegt. Ihre Verwendung ist im Koran (Sure 9, Vers 60) festgelegt. Schon in der ersten Expansionsphase reichte sie zur Deckung der Staatsausgaben (wozu sie auch nicht gedacht ist) nicht mehr aus und wurde durch weitere Abgabenarten (z.B. die Grundsteuer خراج ''charādsch'') ergänzt. |
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==Geltungsbereich== |
==Geltungsbereich== |
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Nich alle Vorschriften der Scharia sind für jeden gültig: manche richten sich nur an ein bestimmtes Geschlecht (z.B. das [[Kopftuch]] bei Frauen) oder bestimmte Altersstufen. Die kultischen Vorschriften gelten nur für Muslime, Angehörige anderer Religionen (siehe [[Dhimmi]]) sind davon nicht betroffen, allerdings gelten für sie spezielle Regelungen. |
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Wer zu bestimmten Handlungen verpflichtet (مكلف ''mukallaf'') ist, |
Wer zu bestimmten Handlungen verpflichtet (مكلف ''mukallaf'') ist, wird jeweils genau vermerkt. Meist muss man im Vollbesitz der geistigen Kräfte (عاقل ''`āqil'') und volljährig (بالغ ''bāligh'') sein, aber wie bei uns genügt es in vielen Fällen auch «vernünftig» (مميز ''mumayyiz''), d.h. eingeschränkt rechtsfähig, zu sein. |
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===In islamischen Staaten der Gegenwart=== |
===In islamischen Staaten der Gegenwart=== |
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[[Bild:Jeddah04.jpg|thumb|Öffentliche Enthauptung, Saudi Arabien, 50er Jahre des 20. Jahrhunderts]] |
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Seit der «Kairiner Deklaration der Menschenrechte im Islam» [[1990]] ist die [[Scharia]] wieder Basis der Gesetzgebung in allen islamischen Ländern. Die praktische Umsetzung ist jedoch sehr unterschiedlich und reicht von «praktisch nicht erkennbar», wie in der [[Türkei]], über die Umsetzung nur im zivilrechtlichen Bereich ([[Tunesien]]) bis zur fast vollständigen Geltung ([[Sudan]]). Zuweilen gilt die Scharia nur in islamisch dominierten Landesteilen ([[Nigeria]]). |
Seit der «Kairiner Deklaration der Menschenrechte im Islam» [[1990]] ist die [[Scharia]] wieder Basis der Gesetzgebung in allen islamischen Ländern. Die praktische Umsetzung ist jedoch sehr unterschiedlich und reicht von «praktisch nicht erkennbar», wie in der [[Türkei]], über die Umsetzung nur im zivilrechtlichen Bereich ([[Tunesien]]) bis zur fast vollständigen Geltung ([[Sudan]]). Zuweilen gilt die Scharia nur in islamisch dominierten Landesteilen ([[Nigeria]]). |
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Zur Zeit ist die Scharia geltendes Recht in [[Nigeria]] (einige Bundesstaaten), [[Iran]], [[Saudi-Arabien]], [[Bangladesch]], [[Afghanistan]], [[Marokko]], [[Sudan]], [[Katar]] und [[Pakistan]]. |
Zur Zeit ist die Scharia geltendes Recht in [[Nigeria]] (einige Bundesstaaten), [[Iran]], [[Saudi-Arabien]], [[Bangladesch]], [[Afghanistan]], [[Marokko]], [[Sudan]], [[Katar]] und [[Pakistan]]. |
Version vom 1. August 2004, 17:12 Uhr
Die Schari'a (arabisch شريعة scharī'a Wasserstelle, Weg zur Tränke, religiöses Gesetz; auch: شرع schar`), das islamische Recht, ist eine religiöse Pflichtenlehre, die die Regelung aller Bereiche des menschlichen Daseins anstrebt. In kasuistischem Aufbau bestimmt sie die Rechte und Pflichten des Menschen gegenüber Anderen und gegenüber Gott. Trotz gelegentlicher Versuche ist die Schari'a nie kodifiziert worden, weshalb Detailfragen immer wieder durchaus strittig diskutiert werden. Die Pflege und Entwicklung der Schari'a obliegt der islamischen Jurisprudenz (فقه fiqh).
Die Wurzeln der Rechtswissenschaft
Die vier orthodoxen Rechtsschulen kennen 4 «Wurzeln der Rechstwissenschaft» (اصول الفقه usūl al-fiqh), von denen allerdings nur die ersten beiden den Charakter von Quellen haben:
- Der Koran ist für Muslime das unmittelbare Wort Gottes und die erste Rechtsquelle. Allerdings haben nur einige hundert Verse juristischen Bezug, weshalb schon früh die zweite Rechtsquelle hinzugezogen wurde.
- Die Sunna des Religionsstifters Muhammad, sein gelebtes Vorbild und seine Aussprüche, stellt den Großteil des Materials der islamischen Jurisprudenz. Die Sunna wird in Hadithen überliefert, die schon früh schriftlich festgehalten wurden. Eine mit zeitlichem Abstand zum Tode Muhammads eskalierende «Hadith-Inflation» führte im 9. Jahrhundert zur Kodifizierung der «authentischen» Hadithe in den «Sechs Büchern» (الكتب الستة al-kutub as-sitta), von denen zwei (Buchari und Muslim) besonderes Ansehen genießen.
- Qiyas, der «Analogieschluss», erlaubt die Übertragung der Ergebnisse eines Falles auf einen ähnlich gelagerten. Ein Beispiel ist das Weinverbot des Koran (Sure 5, Vers 90f.), dass strenge Juristen im Analogieschluss auf alle berauschenden Mittel ausdehnen, während man im Volk, z.B. in der Türkei, zuweilen keinen Zusammenhang zwischen Wein und anderen Alkoholika erkennen mag; eine Position die allerdings von keinem Rechtsgelehrten unterstützt wird.
- Idschma, der Konsens, meint nicht den Konsens der gesamten muslimischen Gemeinde (umma), sondern den der Rechtsgelehrten (consensus doctorum). Ist der Konsens erst einmal erreicht, was daran erkannt wird, dass kein Einspruch eines anerkannten Rechtsgelehrten vorliegt, gilt ein Rechtsproblem in der Orthodoxie als endgültig abgeschlossen. Das hat historisch zu einer Stabilisierung der Schari'a geführt, die allerdings von Manchen auch als «Erstarrung» bezeichnet wird.
Daneben gibt es eine Reihe weiterer Rechtsquellen, die heute nicht mehr oder nur noch eingeschränkt verwendet werden:
- Das Gewohnheitsrecht (عرف urf oder عادة āda). Vorislamische Rechtspraktiken wurden, vor allem in der islamischen Expansionsphase, in großem Umfang in die Schari'a übernommen und durch den idschma legitimiert. Das medinensische Gewohnheitsrecht spielte hier eine große Rolle, aber auch Verwaltungspraktiken der eroberten Gebiete.
- Die «Entscheidung nach eigenem Gutdünken» (رأى ra'y) des Juristen, dort wo weder Koran noch Sunna einen Anhaltspunkt boten, stand schon früh in der Kritik und ist heute nicht mehr statthaft. Allerdings lebt der ra'y insofern in abgeschwächter Form im qiyas fort, als es im Ermessen des Juristen liegt, welche Präzedenzfälle er als analog betrachtet.
- Der Idschtihad (اجتهاد idschtihād), die selbstständige Interpretation der Rechtsquellen, wurde im orthodoxen Islam durch den Einfluss des Konsenses immer weiter zurückgedrängt, bis im Zuge der Konsolidierung der Rechtsschulen um das Jahr 300 der Hidschra, das «Tor das Idschtihad» als geschlossen galt. In der Schia wird er weiterhin eingesetzt, die formalen Anforderungen an die Ausbildung des entsprechend befähigten Theologen sind jedoch sehr hoch. In jüngerer Zeit wurde von Seiten von Reformbewegungen (z.B. der Salafiya, aber auch liberalen Muslimen – allerdings mit entgegengesetzten Zielen) die Wiedereinführung des Idschtihad gefordert, bzw. seine Ausübung regelrecht in Anspruch genommen.
Handlungen des Menschen
Die fünf Kategorien
Die Schari'a teilt die menschlichen Handlungen in fünf Kategorien ein, die wie angegeben bewertet werden:
- Pflicht (فرض fard oder واجب wādschib) – das Tun wird belohnt, das Unterlassen bestraft. Unterschieden wird zwischen persönlichen Pflichten (فرض العين fard al-ayn), denen jeder Muslim nachkommen muss, und gemeinschaftlichen Pflichten (فرض الكفاية fard al-kifāya «Pflicht des Genügeleistens»), bei denen es ausreicht, wenn eine ausreichende Anzahl der Muslime daran teilnimmt. In die erste Kategorie fällt z.B. das fünfmalige tägliche Gebet (صلاة, koranisch صلوة salat), in die zweite das gemeinsame Freitagsgebet in der Moschee.
- Empfehlenswert (مندوب mandūb oder مستحب mustahabb oder سنة sunna) – das Tun wird belohnt, das Unterlassen nicht bestraft
- Indifferent (مباح mubāh) – Tun und Unterlassen werden weder belohnt noch bestraft
- Verwerflich (مكروه makrūh) – das Tun wird nicht bestraft, das Unterlassen belohnt
- Verboten (حرام harām) – das Tun wird bestraft, das Unterlassen belohnt
Wenn hier von «belohnt» und «bestraft» gesprochen wird, so sind damit nur teilweise juristische Folgen gemeint, denn Pflichtverstöße gegenüber Gott lässt das islamische Recht in der Regel ungesühnt, da Muslime von einer Ahndung dieser Vergehen im «Jenseits» ausgehen.
Elemente einer Handlung
Zur Ausführung einer Handlung nach islamischem Recht gehören verschiedene Elemente, zu denen unter anderem die «Grundpfeiler» (اركان arkān) gehören, ohne die die ganze Handlung hinfällig wird. Einer dieser Grundpfeiler ist die «Absicht» (نية nīya): Eine Handlung, der die Absicht fehlt ist nichtig.
Am Vorhandensein der Elemente der Handlung erkennt der Jurist, ob sie rechtskräftig (صحيح sahīh) oder nichtig (باطل bātil) ist.
Besonderheiten
Schriftform und Zeugen
Rechtsgutachten
Siehe Fatwa
Teilbereiche der Scharia
Ehe
Islamische Ehen werden durch einen Ehevertrag (عقد النكاح aqd an-nikāh) zwischen einem gesetzlichen Vertreter (ولى walī) der Braut und dem Bräutigam geschlossen. Scheidung ist möglich. Männer können bis zu vier Frauen heiraten (Koran Sure 4, Vers 3f.), müssen diese dann aber alle gerecht (nicht «gleich»!) behandeln oder sich mit einer Frau begnügen. Bei der Hochzeit wird ein Geldbetrag (مهر mahr oder صداق sadāq «Brautgabe, Morgengabe») vom Bräutigam an die Braut (teilweise) fällig, der dieser nach einer Scheidung komplett ausgezahlt werden muss.
Die Frau ist dem Mann in allen Bereichen untergeordnet, kann allerdings mit ihrem eigenen Geld wirtschaftich selbstständig handeln. Nur Männer sind zum Unterhalt verpflichtet, der allerdings nicht eingeklagt werden kann. Eine maßvolle körperliche Züchtigung der Frauen durch ihre Ehemänner ist durch die Schari'a gedeckt.
Die Polygynie (Vielweiberei) ist in Tunesien und der Türkei rechtlich nicht gestattet.
Erbrecht
Das Erbrecht ist im Islam recht kompliziert. Seine koranische Grundlage hat es in Sure 4, Vers 11-12 (Die Frauen), in der insbesondere der Erbteil der Frauen geregelt wird, was auf eine Präzisierung vorislamischen Erbrechts schließen lässt.
Aus unserer Sicht auffallend ist, dass der Erblasser lediglich über ein Drittel seines Vermögens frei verfügen kann und dass Schulden nicht vererbt werden. Töchter erben die Hälfte des Erbteils von Söhnen, dies ist allerdings in der Schia anders: hier sind Töchter und Söhne zu gleichen Teilen erbberechtigt.
Kriegsrecht
Das islamische Kriegsrecht wird im Artikel Dschihad behandelt. Der Dschihad ist eine Gemeinschaftspflicht und wird nur für Einwohner bedrohter Gegenden zur persönlichen Pflicht.
Religionsfreiheit
Siehe auch: Aleviten, Ibaditen, Ismailiten, Kufr, Schirk
Strafrecht
Strafrecht im engeren Sinne ist in der Schari'a kaum vorhanden, da selbst bei Mord die Angehörigen des Opfers entscheiden, ob eine Entschädigungszahlung oder die Hinrichtung des Täters erfolgt, die Regelung also quasi privatrechtlich ist. Die Justiz beaufsichtigt hier im Prinzip nur die vorislamische Blutrache (ثأر tha'r) und verhindert deren Eskalation.
Einen besonderen Status haben die direkt vom Koran verbotenen Handlungen, die hadd-Straftaten (حد). Das sind Unzucht (زناء zinā), Verleumdung betreffs Unzucht, Weinkonsum, Diebstahl und Straßenraub. Diebstahl wird mit Amputation der rechten Hand, im Wiederholungsfalle mit Amputation des linken Fußes bestraft (siehe Abbildung). Außerehelicher Geschlechtsverkehr wird bei volljährigen, bereits verheirateten mit Steinigung geahndet. Allerdings setzt der Koran hier hohe Hürden, denn es werden speziell für dieses Vergehen vier männliche Zeugen gefordert, was praktisch ein Geständnis notwendig macht. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass der Richter hier den Prozess zugunsten des Beschuldigten zu führen und auch auf die Möglichkeit des Geständniss-Widerrufs hinzuweisen hat.
Verschleierung/Kopftuch
Die Vollverschleierung der Frau war bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in islamischen Ländern vor allem ein städtisches Phänomen, auf dem Land hingegen wurde die Art der Kopfbedeckung von praktischen und traditionellen Gesichtspunkten bestimmt, so gibt es auch Schleierformen, die zwar das Gesicht bedecken, die Haare aber frei lassen.
Spätestens mit dem Kopftuchverbot durch Atatürk in der Türkei wurde aus der Marginalie ein Politikum und der Kopftuchstreit wird gerade unter Muslimen recht emotional geführt.
Als koranische Begründung für den Schleier gelten Sure 24, Vers 31 und Sure 33, Vers 59.
Wirtschaft
Für den Kapitalverkehr ist das Zinsverbot (Sure 2, Vers 278 u.a.) eine besondere Belastung, was schon früh zu Umgehungsgeschäften geführt hat: So kann man z.B. eine Ware mit Zahlungsziel kaufen und sofort zu einem niedrigeren Preis an den Verkäufer, der sofort zahlt, zurückveräußern. Praktisch ist das dann ein Kredit mit Zinsen, der Wortlaut des Gesetzes jedoch eingehalten. Rechtskniffe (حيلة hīla; pl. حيل hiyal) dieser Art finden sich in der islamischen Rechtspraxis häufig; sie sind eines Mittel, die Scharia an gewandelte Voraussetzungen anzupassen.
Die einzige genuin islamische Steuer und gleichzeitig eine der «Säulen des Islam» ist die «Almosensteuer» (زكاة zakāt) eine Mischung aus Einkommens- und Vermögenssteuer, die nur zwischen 2,5% und 10% liegt. Ihre Verwendung ist im Koran (Sure 9, Vers 60) festgelegt. Schon in der ersten Expansionsphase reichte sie zur Deckung der Staatsausgaben (wozu sie auch nicht gedacht ist) nicht mehr aus und wurde durch weitere Abgabenarten (z.B. die Grundsteuer خراج charādsch) ergänzt.
Geltungsbereich
Nich alle Vorschriften der Scharia sind für jeden gültig: manche richten sich nur an ein bestimmtes Geschlecht (z.B. das Kopftuch bei Frauen) oder bestimmte Altersstufen. Die kultischen Vorschriften gelten nur für Muslime, Angehörige anderer Religionen (siehe Dhimmi) sind davon nicht betroffen, allerdings gelten für sie spezielle Regelungen.
Wer zu bestimmten Handlungen verpflichtet (مكلف mukallaf) ist, wird jeweils genau vermerkt. Meist muss man im Vollbesitz der geistigen Kräfte (عاقل `āqil) und volljährig (بالغ bāligh) sein, aber wie bei uns genügt es in vielen Fällen auch «vernünftig» (مميز mumayyiz), d.h. eingeschränkt rechtsfähig, zu sein.
In islamischen Staaten der Gegenwart
Seit der «Kairiner Deklaration der Menschenrechte im Islam» 1990 ist die Scharia wieder Basis der Gesetzgebung in allen islamischen Ländern. Die praktische Umsetzung ist jedoch sehr unterschiedlich und reicht von «praktisch nicht erkennbar», wie in der Türkei, über die Umsetzung nur im zivilrechtlichen Bereich (Tunesien) bis zur fast vollständigen Geltung (Sudan). Zuweilen gilt die Scharia nur in islamisch dominierten Landesteilen (Nigeria). Zur Zeit ist die Scharia geltendes Recht in Nigeria (einige Bundesstaaten), Iran, Saudi-Arabien, Bangladesch, Afghanistan, Marokko, Sudan, Katar und Pakistan.
Literatur
- Richard Hartmann: Die Religion des Islam. Darmstadt 1987. ISBN 3-534-01664-4
- Said Ramadan: Das islamische Recht: Theorie und Praxis. Wiesbaden 1980. ISBN 3-447-02078-4
Weblinks
- Kairiner Deklaration der Menschenrechte im Islam – englisch. Die Deklaration stammt von der OIC (Organisation der Islamischen Konferenz), der alle islamischen Staaten angehören. Sie stellt die Menschenrechte unter den Generalvorbehalt der Schari'a.
Siehe auch
Liste islamischer Begriffe auf Arabisch, Strafgesetz der Islamischen Republik Iran
Diskussion weiterer Teilbereiche der Scharia, Geltung der Scharia in einzelnen Ländern