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„Scharia“ – Versionsunterschied

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Version vom 1. August 2004, 03:44 Uhr

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Die Schari'a (arab. شريعة, auch ناموس Namus, griech. Nomos) ist das göttliche Gesetz, mit dem sich u.a. die islamische Rechtswissenschaft (Fiqh) befasst. Sie bestimmt die Rechte und Pflichten des Menschen gegenüber Anderen und gegenüber Gott. Der Begriff Schari'a ist keineswegs eine islamische Erfindung; während das Wort im Koran ein einziges Mal in Sure 45, Vers 18 vorkommt, ist es in der Bibel - sowohl im Alten, als auch im Neuen Testament - viel häufiger, und zwar je nach Sprache/Ausgabe als شريعة, das Gesetz, Moses Gesetz, das griechische "Nomos" oder auch das arabische "Namus", z.B. auch in der Bergpredigt:

لاَ تَظُنُّوا أَنِّي جِئْتُ لأُلْغِيَ الشَّرِيعَةَ أَوِ الأَنْبِيَاءَ. مَا جِئْتُ لأُلْغِيَ، بَلْ لأُكَمِّلَ
Meint nicht, daß ich gekommen sei, das Gesetz  oder die Propheten aufzulösen;
ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen (Mt 5,17-18)

Die Wurzeln der Rechtswissenschaft

Die vier orthodoxen Rechtsschulen kennen 4 «Wurzeln der Rechstwissenschaft» (اصول الفقه usūl al-fiqh), von denen allerdings nur die ersten beiden den Charakter von Quellen haben:

  1. Der Koran ist für Muslime das unmittelbare Wort Gottes und die erste Rechtsquelle. Allerdings haben nur einige hundert Verse juristischen Bezug, weshalb schon früh die zweite Rechtsquelle hinzugezogen wurde.
  2. Die Sunna des Religionsstifters Muhammad, sein gelebtes Vorbild und seine Aussprüche, stellt den Großteil des Materials der islamischen Jurisprudenz. Die Sunna wird in Hadithen überliefert, die schon früh schriftlich festgehalten wurden. Eine mit zeitlichem Abstand zum Tode Muhammads eskalierende «Hadith-Inflation» führte im 9. Jahrhundert zur Kodifizierung der «authentischen» Hadithe in den «Sechs Büchern» (الكتب الستة al-kutub as-sitta), von denen zwei (Buchari und Muslim) besonderes Ansehen genießen.
  3. Qiyas, der «Analogieschluss», erlaubt die Übertragung der Ergebnisse eines Falles auf einen ähnlich gelagerten. Ein Beispiel ist das Weinverbot des Koran (Sure 5, Vers 90f.), dass strenge Juristen im Analogieschluss auf alle berauschenden Mittel ausdehnen, während man im Volk, z.B. in der Türkei, zuweilen keinen Zusammenhang zwischen Wein und anderen Alkoholika erkennen mag; eine Position die allerdings von keinem Rechtsgelehrten unterstützt wird.
  4. Idschma, der Konsens, meint nicht den Konsens der gesamten muslimischen Gemeinde (umma), sondern den der Rechtsgelehrten (consensus doctorum). Ist der Konsens erst einmal erreicht, was daran erkannt wird, dass kein Einspruch eines anerkannten Rechtsgelehrten vorliegt, gilt ein Rechtsproblem in der Orthodoxie als endgültig abgeschlossen. Das hat historisch zu einer Stabilisierung der Schari'a geführt, die allerdings von Manchen auch als «Erstarrung» bezeichnet wird.

Daneben gibt es eine Reihe weiterer Rechtsquellen, die heute nicht mehr oder nur noch eingeschränkt verwendet werden:

  • Das Gewohnheitsrecht (عرف urf oder عادة āda). Vorislamische Rechtspraktiken wurden, vor allem in der islamischen Expansionsphase, in großem Umfang in die Schari'a übernommen und durch den idschma legitimiert. Das medinensische Gewohnheitsrecht spielte hier eine große Rolle, aber auch Verwaltungspraktiken der eroberten Gebiete.
  • Die «Entscheidung nach eigenem Gutdünken» (رأى ra'y) des Juristen, dort wo weder Koran noch Sunna einen Anhaltspunkt boten, stand schon früh in der Kritik und ist heute nicht mehr statthaft. Allerdings lebt der ra'y insofern in abgeschwächter Form im qiyas fort, als es im Ermessen des Juristen liegt, welche Präzedenzfälle er als analog betrachtet.
  • Der Idschtihad (اجتهاد idschtihād), die selbstständige Interpretation der Rechtsquellen, wurde im orthodoxen Islam durch den Einfluss des Konsenses immer weiter zurückgedrängt, bis im Zuge der Konsolidierung der Rechtsschulen um das Jahr 300 der Hidschra, das «Tor das Idschtihad» als geschlossen galt. In der Schia wird er weiterhin eingesetzt, die formalen Anforderungen an die Ausbildung des entsprechend befähigten Theologen sind jedoch sehr hoch. In jüngerer Zeit wurde von Seiten von Reformbewegungen (z.B. der Salafiya, aber auch liberalen Muslimen – allerdings mit entgegengesetzten Zielen) die Wiedereinführung des Idschtihad gefordert, bzw. seine Ausübung regelrecht in Anspruch genommen.

Handlungen des Menschen

Die fünf Kategorien

Die Schari'a teilt die menschlichen Handlungen in fünf Kategorien ein, die wie angegeben bewertet werden:

  1. Pflicht (فرض fard oder واجب wādschib) – das Tun wird belohnt, das Unterlassen bestraft. Unterschieden wird zwischen persönlichen Pflichten (فرض العين fard al-ayn), denen jeder Muslim nachkommen muss, und gemeinschaftlichen Pflichten (فرض الكفاية fard al-kifāya «Pflicht des Genügeleistens»), bei denen es ausreicht, wenn eine ausreichende Anzahl der Muslime daran teilnimmt. In die erste Kategorie fällt z.B. das fünfmalige tägliche Gebet (صلاة, koranisch صلوة salat), in die zweite z.B. die Festgebete (Salatu'l Eid).
  2. Empfehlenswert (مندوب mandūb oder مستحب mustahabb oder سنة sunna) – das Tun wird belohnt, das Unterlassen nicht bestraft
  3. Erlaubt (مباح mubāh) – Tun und Unterlassen werden weder belohnt noch bestraft
  4. Verwerflich (مكروه makrūh) – das Tun wird nicht bestraft, das Unterlassen belohnt
  5. Verboten (حرام harām) – das Tun wird bestraft, das Unterlassen belohnt

Wenn hier von «belohnt» und «bestraft» gesprochen wird, so sind damit nur teilweise juristische Folgen gemeint, denn Pflichtverstöße gegenüber Gott werden im Jenseits behandelt.

Elemente einer Handlung

Zur Ausführung einer Handlung nach islamischem Recht gehören verschiedene Elemente, zu denen unter anderem die «Grundpfeiler» (اركان arkān) gehören, ohne die die ganze Handlung hinfällig wird. Einer dieser Grundpfeiler ist die «Absicht» (نية nīya): Eine Handlung, der die Absicht fehlt ist nichtig.

Am Vorhandensein der Elemente der Handlung erkennt der Jurist, ob sie rechtskräftig (صحيح sahīh) oder nichtig (باطل bātil) ist.

Teilbereiche der Scharia

Datei:Jeddah02.jpg
Amputation bei einem Dieb, Saudi Arabien, 50er Jahre des 20. Jahrhunderts

Strafrecht

Strafrecht im engeren Sinne ist in der Schari'a kaum vorhanden, da selbst bei Mord die Angehörigen des Opfers entscheiden, ob eine Entschädigungszahlung oder die Hinrichtung des Täters erfolgt, die Regelung also quasi privatrechtlich ist. Die Justiz beaufsichtigt hier im Prinzip nur die vorislamische Blutrache (ثأر tha'r) und verhindert deren Eskalation.

Einen besonderen Status haben die direkt vom Koran verbotenen Handlungen, die hadd-Straftaten (حد). Das sind Unzucht (زناء zinā), Verleumdung betreffs Unzucht, Weinkonsum, Diebstahl und Straßenraub. Diebstahl wird mit Amputation der rechten Hand, im Wiederholungsfalle mit Amputation des linken Fußes bestraft (siehe Abbildung). Außerehelicher Geschlechtsverkehr wird bei volljährigen, bereits verheirateten mit Steinigung geahndet. Allerdings setzt der Koran hier hohe Hürden, denn es werden speziell für dieses Vergehen vier männliche Zeugen gefordert, was praktisch ein Geständnis notwendig macht. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass der Richter hier den Prozess zugunsten des Beschuldigten zu führen und auch auf die Möglichkeit des Geständniss-Widerrufs hinzuweisen hat.

Erbrecht

Das Erbrecht ist im Islam recht kompliziert. Seine koranische Grundlage hat es in Sure 4, Vers 11-12 (Die Frauen), in der insbesondere der Erbteil der Frauen geregelt wird, was auf eine Präzisierung vorislamischen Erbrechts schließen lässt.

Aus unserer Sicht auffallend ist, dass der Erblasser lediglich über ein Drittel seines Vermögens frei verfügen kann und dass Schulden nicht vererbt werden. Töchter erben die Hälfte des Erbteils von Söhnen, dies ist allerdings in der Schia anders: hier sind Töchter und Söhne zu gleichen Teilen erbberechtigt.

Wirtschaft

Für den Kapitalverkehr ist das Zinsverbot (Sure 2, Vers 278 u.a.) eine besondere Belastung, was schon früh zu Umgehungsgeschäften geführt hat: So kann man z.B. eine Ware mit Zahlungsziel kaufen und sofort zu einem niedrigeren Preis an den Verkäufer, der sofort zahlt, zurückveräußern. Praktisch ist das dann ein Kredit mit Zinsen, der Wortlaut des Gesetzes jedoch eingehalten. Rechtskniffe (حيلة hīla; pl. حيل hiyal) dieser Art finden sich in der islamischen Rechtspraxis häufig; sie sind eines Mittel, die Scharia an gewandelte Voraussetzungen anzupassen.

Die einzige genuin islamische Steuer und gleichzeitig eine der «Säulen des Islam» ist die «Almosensteuer» (زكاة zakāt) eine Mischung aus Einkommens- und Vermögenssteuer, die nur zwischen 2,5% und 10% liegt. Ihre Verwendung ist im Koran (Sure 9, Vers 60) festgelegt. Schon in der ersten Expansionsphase reichte sie zur Deckung der Staatsausgaben (wozu sie auch nicht gedacht ist) nicht mehr aus und wurde durch weitere Abgabenarten (z.B. die Grundsteuer خراج charādsch) ergänzt.

Geltungsbereich

Nich alle Vorschriften der Scharia sind für jeden gültig: manche richten sich nur an ein bestimmtes Geschlecht (z.B. das Kopftuch bei Frauen) oder bestimmte Altersstufen. Die kultischen Vorschriften gelten nur für Muslime, Angehörige anderer Religionen (siehe Dhimmi) sind davon nicht betroffen, allerdings gelten für sie spezielle Regelungen.

Wer zu bestimmten Handlungen verpflichtet (مكلف mukallaf) ist, wird jeweils genau vermerkt. Meist muss man im Vollbesitz der geistigen Kräfte (عاقل `āqil) und volljährig (بالغ bāligh) sein, aber wie bei uns genügt es in vielen Fällen auch «vernünftig» (مميز mumayyiz), d.h. eingeschränkt rechtsfähig, zu sein.

In islamischen Staaten der Gegenwart

Datei:Jeddah04.jpg
Öffentliche Enthauptung, Saudi Arabien, 50er Jahre des 20. Jahrhunderts

Seit der «Kairiner Deklaration der Menschenrechte im Islam» 1990 ist die Scharia wieder Basis der Gesetzgebung in allen islamischen Ländern. Die praktische Umsetzung ist jedoch sehr unterschiedlich und reicht von «praktisch nicht erkennbar», wie in der Türkei, über die Umsetzung nur im zivilrechtlichen Bereich (Tunesien) bis zur fast vollständigen Geltung (Sudan). Zuweilen gilt die Scharia nur in islamisch dominierten Landesteilen (Nigeria). Zur Zeit ist die Scharia geltendes Recht in Nigeria (einige Bundesstaaten), Iran, Saudi-Arabien, Bangladesch, Afghanistan, Marokko, Sudan, Katar und Pakistan.

Literatur

Siehe auch

Liste islamischer Begriffe auf Arabisch, Strafgesetz der Islamischen Republik Iran

Diskussion weiterer Teilbereiche der Scharia, Geltung der Scharia in einzelnen Ländern