Bohr-sommerfeldsches Atommodell
Das Bohr-Sommerfeldsche Atommodell, Sommerfeldsche Atommodell oder die Sommerfeld-Erweiterung ist eine physikalische Beschreibung der Elektronenbahnen in einem Atom. Es wurde 1915/16 von Arnold Sommerfeld vorgeschlagen und stellt eine Verfeinerung des Bohrschen Atommodells dar.
Überblick
Das Bohr-Sommerfeldsche Atommodell von 1916 baut auf dem bohrschen Modell von 1913 auf und ist damit auch eine der älteren Quantentheorien vor Entwicklung der Quantenmechanik. Es wird angenommen, dass sich die Elektronen um den Atomkern auf wohldefinierten Bahnen bewegen, die sich aus den Bewegungsgleichungen zunächst der klassischen Mechanik ergeben, also auf den aus der Planetenbewegung bekannten Ellipsen. Quantentheoretische Prinzipien werden durch zusätzliche Quantisierungsbedingungen (Bohr-Sommerfeld-Quantisierung) eingeführt. Diese führen dazu, dass nur eine kleine Auswahl der Bahnen, die nach der klassischen Mechanik möglich wären, erlaubt ist. Als Folge davon können auch die mit der Bahnbewegung verbundenen Erhaltungsgrößen (Energie, Drehimpuls) nicht mehr beliebige, sondern nur noch bestimmte, diskrete Werte annehmen. Diese sind also „gequantelt“.
Zusätzlich werden die Korrekturen berechnet, die sich durch die Bewegungsgleichung der speziellen Relativitätstheorie ergeben. Sie führen zu kleinen Aufspaltungen der klassisch berechneten Energien, die durch die Sommerfeldsche Feinstrukturkonstante parametrisiert werden.
Das Bohr-Sommerfeldsche Atommodell hat wegen seiner Anschaulichkeit hohen Erklärungswert; statt der bisher im Bohrschen Modell begründeten einzigen Quantenzahl der Elektronenzustände lieferte es nun richtig alle drei räumlichen Quantenzahlen und ermöglichte damit erstmals eine wenigstens qualitative physikalische Erklärung des Periodensystems der chemischen Elemente. Das Modell versagt aber wie schon das bohrsche Modell bei allen Berechnungen von Atomen mit mehr als einem Elektron. Dass dieser Fehlschlag von der irrigen Annahme definierter, klassischer Teilchenbahnen herrührte, wurde ab 1925 deutlich, als die neue Quantenmechanik wesentlich mehr Beobachtungen erklären und Vorhersagen machen konnte, und diese sogar zumeist quantitativ richtig. In der Quantenmechanik gibt es keine definierten Bahnen, wie man z.B. an der heisenbergschen Unschärferelation erkennen kann, sondern nur Wahrscheinlichkeitsverteilungen.
Geometrie der Elektronenbahnen
Während im Modell von Niels Bohr die möglichen Bahnen des Elektrons Kreise um den Atomkern sind, führt Sommerfeld allgemeinere Ellipsenbahnen ein, der Kreis kommt noch als Spezialfall der Ellipse vor. Der Kern befindet sich nach diesem Modell in einem der Brennpunkte einer Bahnellipse, so dass sich eine geometrische Konfiguration wie bei den Planetenbahnen nach den Keplerschen Gesetzen ergibt. Auf diesen Bahnen soll sich wie im Bohrschen Modell das Elektron ohne Emission elektromagnetischer Strahlung, wie sie nach der klassischen Elektrodynamik auftreten muss, bewegen.
Das Bohr-Sommerfeldsche Modell stellt also ein keplersches Planetensystem im Kleinen dar, während das Bohrsche Modell der älteren kopernikanischen Vorstellung entspricht. Die Analogie zur Planetenbewegung um die Sonne ist naheliegend, da die Kraftfelder der Coulombkraft des Atomkerns und der Gravitation der Sonne die gleiche Form haben: die Kraft ist proportional zum reziproken Abstandsquadrat:
- .
Die Berücksichtigung der speziellen Relativitätstheorie ergibt Bahnen näherungsweise in Form einer Ellipse, deren Hauptachse sich langsam dreht (Periheldrehung).
Bohr-Sommerfeld-Quantisierung
Eine Ellipse kann nicht mehr wie ein Kreis durch einen Parameter (Radius) beschrieben werden, vielmehr benötigt man dazu zwei (z. B. große und kleine Halbachse). Deshalb sind bei Ellipsenbahnen auch schon zwei Quantenzahlen notwendig, um allein die Form festzulegen. Eine dritte braucht man für die Orientierung der Bahnebene im Raum. Eine Quantenzahl, aber auch nur eine, kann die bohrsche Quantisierung des Drehimpulses beisteuern, denn im kugelsymmetrischen Potential besitzen alle Bahnen einen bestimmten Drehimpuls. Sommerfeld legt für jede Koordinate eine eigene Quantenbedingung in verallgemeinerter Form zugrunde:
Darin ist die Quantenzahl, eine Koordinate und ihr kanonisch zugeordneter Impuls. Das Integral ist die Fläche innerhalb der betreffenden Bahn in der -Ebene. Es wird in der Mechanik als die Wirkung bezeichnet, die dieser Bewegung zugeordnet ist. Im 1-dimensionalen Fall kann einfach die x-Koordinate und der gewöhnliche Impuls sein. Dann ergibt sich aus der Quantenbedingung z. B. sofort die Quantisierung des harmonischen Oszillators mit Energiestufen . Durch kanonische Transformation kann man jedoch zu anderen Variablen kommen, die dann automatisch die gleiche Bedingung erfüllen. Bei Bewegung in zwei oder drei Dimensionen kann man z. B. als Koordinate einen Drehwinkel wählen, wozu als kanonischer Impuls dann der Drehimpuls gehört. Das Wirkungsintegral für einen vollen Umlauf ist dann
,
und es ergibt sich die Drehimpulsquantisierung wie bei Bohr zu .
Quantenzahlen
Sommerfeld betrachtet das System in den drei Polarkoordinaten (Abstand r und zwei Winkel) und unterwirft jede der neuen Quantisierungsbedingung. So erhält er drei Quantenzahlen, die radiale , die azimuthale , die magnetische .
Hauptquantenzahl
Die Quantenzahl n, die wie im Bohrschen Modell und in den Rydberg-Formeln auch hier die Energie bestimmt, wird nun Hauptquantenzahl genannt und erweist sich als .
Nebenquantenzahl

Die azimuthale Quantenzahl , nun Nebenquantenzahl genannt, gibt den (Bahn-)Drehimpuls an. ( ist die Plancksche Konstante geteilt durch .) Bei gegebenem n kann die Nebenquantenzahl als Werte die natürlichen Zahlen von 1 bis annehmen, wobei der größtmögliche Drehimpuls ( ) zur Bohrschen Kreisbahn gehört. Ausdrücklich wird der Wert ausgeschlossen, weil in diesem Fall das Elektron auf einer Geraden hin und her schwingt, die durch den Kern geht. (Dass doch möglich und der richtige Wertebereich ist, kommt erst in der quantenmechanischen Berechnung heraus.)
Magnetische Quantenzahl
Die magnetische Quantenzahl m gibt den Neigungswinkel des Drehimpulses gegen die z-Achse an: . Der Wertebereich dieser Quantenzahl ist (−l), …, −1, 0, 1, …, (+l), insgesamt verschiedene Werte. Damit ist die Richtungsquantelung vorhergesagt, denn es gibt von genau parallel zu genau antiparallel nur diese endliche Anzahl von Einstellmöglichkeiten. (Die Quantenmechanik gibt dem Drehimpulsvektor statt die Länge , wodurch die beiden extremen Einstellmöglichkeiten doch nicht ganz mit der z-Achse zusammenfallen.)
Das sich um den Atomkern bewegende Elektron bildet einen magnetischen Dipol , dessen Richtung senkrecht auf der Bahnellipse, also parallel zum Bahndrehimpulsvektor steht. Bringt man das Atom in ein äußeres Magnetfeld (das die z-Achse definiert), dann hängt seine Energie auch vom Einstellwinkel ab. Wegen der Richtungsquantelung spaltet die Energie je nach dem Wert der magnetischen Quantenzahl (daher ihr Name) in eine stets ungerade Anzahl von verschiedenen Werten auf (Zeeman-Effekt).
Spinquantenzahl
Neben diesen im bohr-sommerfeldschen Atommodell eingeführten räumlichen Quantenzahlen gibt es für jedes Elektron auch noch die Spinquantenzahl für die stets genau zwei Einstellmöglichkeiten seines Eigendrehimpulses (Spin). Sie wird mit den Werten +½ oder −½ beziehungsweise den Symbolen ↑ oder ↓ angegeben. Diese Quantenzahl resultiert nicht aus Sommerfelds Quantisierungsbedingungen, sondern wurde später aufgrund sonst unerklärlicher experimenteller Befunde (z. B. geradzahlige Aufspaltung im Stern-Gerlach-Versuch und im anomalen Zeeman-Effekt) ins Modell eingefügt. Die Energie jeder der bisher genannten Bahnen kann durch dadurch in zwei Energien aufgespalten werden.
Pauli-Verbot
s. Hauptartikel: Pauli-Prinzip
Aufgrund der durch das Sommerfeldsche Modell ermöglichten Ordnung im Verständnis des Atomaufbaus konnte Wolfgang Pauli 1925 das Pauli-Verbot entdecken: Jede der durch die drei räumlichen Quantenzahlen bestimmten Bahn kann maximal zwei Elektronen aufnehmen, die dann entgegengesetzte Spinquantenzahl haben müssen.
Verbesserung gegenüber dem Bohrschen Atommodell
Der Fortschritt des sommerfeldschen Atommodells gegenüber seinem Vorgänger bestand zuerst vor allem darin, dass es die Feinstruktur des Wasserstoffspektrums erklären kann und berechenbar macht. Sie rühren von der Erhöhung der trägen Masse her, die die speziellen Relativitätstheorie mit steigender Geschwindigkeit voraussagt. Bei gleicher Hauptquantenzahl n ist dieser Effekt umso stärker, je näher das Elektron im Perihel am Kern vorbeifliegt, also je größer die numerische Exzentrizität der Ellipse bzw. je kleiner der Bahndrehimpuls ist. Daher wird die Energie nun auch vom Bahndrehimpuls abhängig; die unterschiedlichen Bahnen zu einer Hauptquantenzahl haben nicht mehr exakt das gleiche Energieniveau. Dies ist eine der Ursachen für die Feinstruktur der Spektrallinien des Wasserstoffs: Bei genauerer Untersuchung der hatte schon Albert Michelson 1891 festgestellt, dass diese in Wirklichkeit aus mehreren dicht beieinander liegenden Linien bestehen. Ein weiterer Fortschritt des sommerfeldschen Atommodells ist, dass es den normalen Zeeman-Effekt und den Stark-Effekt erklären kann.
Quellen
- Arnold Sommerfeld: Zur Quantentheorie der Spectrallinien (I + II). In: Annalen der Physik. 51. Jahrgang, 1916, S. 1–94 (wiley.com). (statt Bd. 51 gilt bei Wiley-online: Bd. 356)
- Helmut Rechenberg Quanta and Quantum Mechanics in: Laurie M Brown et al. (Hrsg.) Twentieth Century Physics vol. I, IOP Publishing Ltd. AIP Press. Inc. 1995, ISBN 0750303530
- Friedrich Hund: Geschichte der Quantentheorie, BI Hochschultaschenbücher Bd. 200/200a, Bibliographisches Institut Mannheim 1967