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Christdemokratie

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Christdemokratie ist ein politischer Begriff, der verschiedene inhaltliche Ausprägungen hat. Im engeren Sinne wird unter Christdemokratie heute eine politische Ideologie verstanden, die tief mit den Lehren der Katholischen Kirche verwoben ist; im weiteren Sinne werden auch orthodoxe, klassisch-protestantische und gemischtkonfessionelle Parteien als Christdemokraten bezeichnet.

Besondere Bedeutung erlangte die Christdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg durch Parteien, die sich vor allem in Europa und Südamerika gründeten und in einigen Staaten zumindest zeitweise die Politik bestimmten. Im deutschsprachigen Raum verstehen sich unter anderem die CDU/CSU aus Deutschland, die ÖVP aus Österreich und die CVP aus der Schweiz als christdemokratisch.

Ursprüngliche Bedeutung

Ursprünglich entstand der Begriff Christdemokratie in Frankreich (frz. democratie chretienne). Er war anfangs allein ein kirchlich-religiöses Reformprogramm. Die Christdemokratie strebte eine innere Erneuerung der (katholischen) Kirche an. Hierzu wurde eine Demokratisierung der Organisationsstrukturen propagiert.

Politische Ideologie

Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Begriff immer mehr in Richtung einer politischen Ideologie. Im Umfeld der bürgerlichen Revolutionen und sozialen Umwälzungen im Zuge der Industrialisierung entstand mit der Christdemokratie ein gesellschaftliches und politisches Gegenmodell des politischen Katholizismus gegen Nationalismus, Liberalismus und Sozialismus.

Als Gründungsschrift der politischen Christdemokratie wird allgemein die päpstliche Enzyklika Rerum Novarum von Papst Leo XIII. aus dem Jahr 1891 angesehen, in welcher sich der Vatikan als Reaktion auf den Aufstieg der sozialistischen und der gewerkschaftlichen Bewegung erstmals mit der Lage der Arbeiter auseinandersetzte. Mit der Enzyklika Quadragesimo Anno aus dem Jahr 1931 von Papst Pius XI. konkretisierte die Römisch-katholische Kirche ihre Position. Daneben werden insbesondere aber auch die Schriften des Philosophen Jacques Maritain für bedeutende Träger christdemokratischen Gedankenguts erachtet.

Die christdemokratische Bewegung ist sehr heterogen. Daher gibt es in der wissenschaftlichen Debatte auch keinen Konsens über ein einheitliche, geschlossene Ideologie der Christdemokratie. Es herrscht jedoch in einigen wichtigen Punkten Übereinstimmung. Eine entscheidende Rolle spielt in der Christdemokratie das Subsidiaritätsprinzip. Der Staat soll möglichst dezentral organisiert sein. Auch das Prinzip der Solidarität wird propagiert. Obwohl der Kapitalismus nicht grundsätzlich infrage gestellt wird, soll sich die Wirtschaft in den Dienst der Menschen stellen. Das Fürsorgegebot des Staates für seine Bürger wird von Christdemokraten stark betont. Ein bedeutender Einfluss bei der Formulierung christdemokratischer Politik wurde in der Vergangenheit den Stellungnahmen der Kirchen zu Fragen der öffentlichen Moral zugeschrieben. So kommt im christdemokratischen Denken der Stellung der Familie eine besondere Bedeutung zu. Von einigen Wissenschaftlern wird der Christdemokratie zudem eine größere Bereitschaft zur Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten (beispielsweise zwischen Arbeitern und Unternehmern) und eine im Vergleich zu anderen poitischen Strömungen größere Bereitschaft zum politischen Kompromiss zugeschrieben.

Die Christdemokratie hat sich im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert in unterschiedlichen Organisationen manifestiert. Neben dem Entstehen christdemokratischer Parteien brachte die Bewegung auch Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände und andere Organisationen hervor. Die Christlichen Gewerkschaften grenzten sich von den aus der sozialistischen Arbeiterschaft heraus entstandenen Gewerkschaften dabei stark ab. Teilweise wird in der Forschung sogar eine typisch christdemokratische Art des Wohlfahrtsstaates behauptet.

Christdemokratische Parteien

Heute wird die Christdemokratie oftmals mit ihrer wirkungsmächtigsten Ausprägung gleichgesetzt, den politischen Parteien. Diese gelten in der Politikwissenschaft als eine Spielart der bürgerlichen Parteien. Die ersten christdemokratischen Parteien, die sich so nannten, gründeten sich um das Jahr 1830 in Belgien, Irland und Frankreich. Sie hatten eine liberal-demokratische Ausrichtung. Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden in Italien die ersten christdemokratischen Parteien nach heutigem Verständnis. Die Blütezeit der christdemokratischen Parteien bildeten jedoch die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie spielten eine besonders bedeutende Rolle in Ländern wie Italien, Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten. Nachdem die Christdemokratie anfangs vor allem der römisch-katholischen Kirche nahe gestanden hatte, veränderte sich das Bild zumindest in Deutschland. Die CDU versteht sich im Gegensatz zur Zentrumspartei als überkonfessionell. Bis heute versucht sie auch Protestanten adäquat in ihren Führungsgremien und Ämtern zu besetzen. Auf europäischer Ebene haben die christdemokratischen Parteien heute stark an Einfluss verloren. So haben sich die einstmals wichtigen französischen Christdemokraten des Mouvement Républicain Populaire sowie die lange Zeit die italienische Politik bestimmende Democrazia Cristiana inzwischen aufgelöst. In Skandinavien konnten christdemokratische Parteien in ihren Ländern nie eine vergleichbare Bedeutung erlangen. Dennoch zeigt ihre Existenz, dass sich die Christdemokratie der Nachkriegszeit von der katholischen Kirche emanzipiert hat und auch protestantische Wähler anspricht. Weitaus größere Bedeutung ist jedoch den seit den 1940er Jahren in Südamerika entstandenen Parteien beizumessen. Besonders die Partido Demócrata Cristiano in Chile sowie das Comité de Organización Política Electoral Independiente in Venezuela wurden mächtige politische Kräfte in ihren Ländern. Nachdem 1989 in Ostmitteleuropa die kommunistischen Systeme zusammenbrachen, entstanden auch dort christdemokratische Parteien. Ihr Einfluss und ihre Bedeutung ist jedoch als äußerst gering anzusehen. Hier spielen auch die jahrzehntelangen atheistischen Traditionen eine für diese Parteien negative Rolle. Eine Ausnahme ist das traditionell katholisch geprägte Polen.

Heute scheint die Zukunft der christdemokratischen Parteien ungewiss. Während der 1970er Jahre kam es zu einer ersten Krise für die Parteien. Diese beschräkte sich jedoch vor allem auf dem Verlust der Regierungsmacht, stellte also lediglich ein normales demokratisches Tief dar. Tiefgreifendere Auswirkungen sind seit den 1990er Jahren zu verzeichnen. Sie haben ihre Ursache neben der fortschreitenden Säkularisierung auch im normalen Verschleiß nach langen Regierungszeiten. Am dramatischsten war dabei das Schicksal der italienischen Democrazia Cristiana, die sich nach unzählichen Skandalen Mitte der 1990er Jahre selbst auflöste und in mehrere kleinere Nachfolgeparteien zerfiel. In den übrigen europäischen Staaten mussten die christdemokratischen Parteien zu Teil dramatische Stimmenverluste erleiden. So landeten die deutschen Christdemokraten von CDU und CSU bei den Bundestagswahlen 1998 und 2002 erstmals seit 1972 wieder hinter ihrer sozialdemokratischen Konkurrenz. Ähnlich erging es auch ihren Schwesterparteien in den Niederlanden, Belgien und Österreich. Vereinzelt, wie in Österreich und in den Niederlanden, versuchten die Christdemokraten diese Verluste durch eine neue Bündnispolitik mit erfolgreichen rechtspopulistischen Parteien aufzufangen.

Trotz ihrer Verankerung in kirchlich-religiösen Moralvorstellungen haben in vielen Staaten die christlich-demokratischen Parteien wichtige Grundentscheidungen zur Trennung von Staat und Kirche, zum Recht auf Ehescheidung und sogar zum Recht auf Abtreibung anerkannt.

Siehe auch: Konservatismus

Literatur

  • Michael Gehler u.a. (Hrsg.): Christdemokratie im 20. Jahrhundert, Böhlau, Wien u.a. 2001. ISBN 3-205-99360-8