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West-Syndrom

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Das West-Syndrom ist eine vergleichsweise seltene und recht schwer erfolgreich zu behandelnde Form von Epilepsie, die bei Säuglingen in der Regel in der Zeit zwischen dem dritten und zwölften Monat nach der Geburt auftritt, und deren Ursache häufig in einer tief greifenden hirnorganischen Störung liegt, die entweder vorgeburtlich (pränatal), während der Geburt (perinatal) oder nachgeburtlich (postnatal) entstanden ist.

Als Synonyme für den Ausdruck West-Syndrom werden die Begriffe malinge Säuglingsepilepsie, infantile Spasmen, Propulsiv-Petit-mal und im deutschsprachigen Raum BNS-Epilepsie als Abkürzung für Blitz-Nick-Salaam-Epilepsie verwendet.

Geschichte

Das West-Syndrom wurde nach dem englischen Arzt und Chirurgen J. William West benannt, der diese besondere Form der Epilepsie im Jahre 1841 bei seinem eigenen Sohn beobachtete und sie aufgrund dessen auch unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten beschrieb. Er bezeichnete sie damals als Salaam-Tic.

Auftretenshäufigkeit und Ursachen

Statistisch gesehen sind Jungen im Verhältnis 3:2 häufiger vom West-Syndrom betroffen als Mädchen. Bei etwa 90 von 100 betroffenen Kindern treten die Anfälle erstmals in der Zeitspanne vom dritten bis zum zwölften Monat nach der Geburt auf. In vergleichsweise seltenen Fällen setzen die Anfälle in den ersten beiden Monaten oder im Verlauf des zweiten bis vierten Lebensjahres ein.

Die Ursache dieser Form von Epilepsie muss im Einzelfall betrachtet werden, da es keine einheitliche Ursache gibt: Bei etwa zwei Drittel der Kinder ist eine tief greifende hirnorganische Störung nachweisbar wie z.B. Mikrozephalie, Entwicklungsbesonderheiten der Hirnrinde (Cortikale Dysplasien), Gehirnentzündung, Tuberöse Sklerose (Bourneville-Syndrom), Lissenzephalie (Agyrie), vaskuläre Malformationen, Sauerstoffmangel unter der Geburt oder Schädel-Hirn-Traumata verschiedener Art. Lässt sich eine solche oder eine ähnliche Ursache nachweisen, spricht man von einem Symptomatischen West-Syndrom, da die Anfälle als Begleiterscheinung oder Merkmal (Symptom) einer anderen Besonderheit auftreten.

In etwa 15% treten innerhalb einer Familie mehrere Fälle von West-Syndrom auf. Die Anfälle nehmen oftmals einen vergleichsweise positiven Verlauf und lassen sich medikamentös gut einstellen. In diesem Fall spricht man von einem Idiopathischen West-Syndrom, bei dem erbliche Einflüsse vermutet werden.

Erscheinungsbild und Diagnose

Die epileptischen Anfälle, die bei Säuglingen mit West-Syndrom beobachtet werden können, lassen sich in drei Anfallsformen gliedern, die der Besonderheit das Synonym BNS-Epilepsie eingebracht haben. Manchmal sind abgeschwächte Anfallstypen zu beobachten, die (zunächst) nicht dem klassischen Bild entsprechen (z.B. Augenverdrehen, Kopfdrehungen, einseitige Extremitätenbewegungen) und / oder mit anderen Anfallsformen (z.B. Grand-Mal-Anfällen) einhergehen.

Meist gleichzeitig, zum Teil jedoch auch unabhängig voneinander tritt beim West-Syndrom in typischer Form jedoch folgende Trias von Anfallstypen auf:

  • Blitz-Anfälle (B)
    • Plötzlich (blitzartig) auftretende heftige myoklonische Zuckungen des gesamten Körpers oder einzelner Körperteile in Sekundenbruchteilen, wobei in der Regel insbesondere die Beugung der Beine auffällig ist, die meist angezogen, selten gestreckt werden,
  • Nick-Anfälle (N)
    • Zuckungen der Nacken- und Halsmuskulatur, wobei das Kinn ruckartig in Richtung Brust gebeugt oder der Kopf eingezogen wird (nicken),
  • Salaam-Anfälle (S)
    • schnelle Beugung des Kopfes und des Rumpfes nach vorne und gleichzeitiges Hochwerfen und Beugen der Arme mit teilweisem Zusammenführung der Hände vor der Brust und / oder Ruderbewegungen. Würde man sich diesen Vorgang verlangsamt vorstellen, ähneln die Bewegungen dem morgenländisch-orientalischen Friedensgruß (Salaam), was diesem Anfallstyp den Namen eingebracht hat.

Bevorzugt können die Anfälle kurz nach dem morgendlichen Aufwachen oder kurz vor dem Einschlafen bei den betroffenen Säuglingen beobachtet werden. Sie können jedoch durchaus auch tagsüber auftreten. Manchmal treten sie anfangs vereinzelt, später dann in Serien (Clustern) von bis zu mehr als 100 Anfällen auf.

Obgleich die Anfälle nicht mit Schmerzen verbunden sind und das Bewusstsein vermutlich erhalten bleibt, weinen die betroffenen Kinder sehr häufig während den Anfällen oder oft auch danach, da sie sehr anstrengend sind. Da diese Form der Epilepsie eher selten und daher wenig bekannt ist, werden die BNS-Anfälle von vielen Eltern zunächst als Bauchschmerzen, als Schreckreaktion oder als Moro-Reflex (Umklammerungs-Reflex) gedeutet, insbesondere auch aufgrund des Weinens der Kinder. Oft holen sie erst dann ärztlichen Rat ein, wenn die Anfälle ihres Kindes in Serien auftreten und das unübliche Bewegungsmuster dadurch deutlich wird.

Sonstige Merkmale, die auffallend häufig bei Kindern mit West-Syndrom beobachtet werden können (oft auch schon, bevor die Anfälle einsetzen!) sind z.B. gestörte Kontaktaufnahmefähigkeit, oft mit gestörtem Blickkontakt, Verlernen des Lachens, Augenzittern (Nystagmus), Schwerhörigkeit (keine üblichen Reaktionen auf Geräusche und Ansprache), Muskelhypotonie (Verringerung der Muskelspannung, meist gut erkennbar daran, dass die Kinder ihren Kopf nicht altersentsprechend halten können), Stimmungsschwankungen, Grimassieren (teils mit unüblichem Schmatzen und Gähnen), zeitweise Apathie einerseits und zeitweise besondere Unruhe andererseits, Verzögerung der kognitiven Entwicklung, weiße Flecken auf der Haut.

Nicht alle Merkmale kommen bei allen betroffenen Kindern vor bzw. sind in gleich starke Ausprägung nachweisbar.

Auswirkungen

Obwohl die Anfälle aufgrund ihrer Kürze für Laien eher harmlos erscheinen mögen, führen sie unbehandelt in jedem Fall zu schweren, zum Teil dauerhaft bestehenden Störungen der kognitiven und körperlichen Entwicklung des Kindes:

Bleiben die Anfälle über längere Zeit hinweg unbemerkt bzw. unbehandelt, stellt sich bei den betroffenen Kindern über kurz oder lang eine Verlangsamung und schließlich ein weitgehender Stillstand der körperlich-motorischen und psychisch-kognitiven Entwicklung ein. Bereits erworbene Fähigkeiten wie z.B. der lautsprachliche Ausdruck, werden nicht selten wieder verlernt, die Muskelspannung verringert sich, was eine Einschränkung der Bewegungsfähigkeit mit sich bringt.

Zum Teil ist insbesondere allgemeinmedizinisch orientierten KinderärztInnen das West-Syndrom bzw. die entsprechende Symptomatik nicht oder nicht hinreichend bekannt; häufig wird z.B. der Moro-Reflex (Umklammerungs-Reflex) diagnostiziert. In jedem Fall sollte ein Kind, bei dem der Verdacht auf das West-Syndrom besteht, einem Kinderneurologen vorgestellt werden.

Diagnose

Das West-Syndrom zeichnet sich durch ein besonderes EEG-Muster aus: Während eines Anfalls sind im gesamten Gehirn schnell aufeinander folgende Wellen niedriger Spannung oder langsame Wellen hoher Spannung mit zum Teil spitzen Wellen nachzuweisen. Zwischen den Anfällen und manchmal auch nur im Schlaf weist das EEG ein Muster mit sogenannter Hypsarrythmie auf, das charakterisiert wird durch langsame Wellen und beiderseits hohe Spitzen.

Neben der Diagnose durch die Messung der elektrischen Aktivität im Gehirn des Kindes wird in der Regel empfohlen, eine Analyse des Blutes und des Urins vornehmen zu lassen, um das Vorliegen von Chromosomenbesonderheiten, Erbkrankheiten, Stoffwechselkrankheiten und Infektionskrankheiten zu überprüfen, um hier ggf. behandelnd eingreifen zu können und um die Ursache der epileptischen Anfälle zu klassifizieren bzw. einzugrenzen.

Die Überprüfung des Vorliegens einer hirnorganischen Besonderheit ist durch eine bildgebende Untersuchung des Gehirns mittels Ultraschall (bei Säuglingen machbar, da sich das knöcherne Schädeldach noch nicht geschlossen hat), Magnetresonanztomographie (MRT) oder Computertomographie (CT) möglich.

Treten die Bewegungsmuster der Anfälle seitenbetont auf, lässt dies z.B. eine Hirnschädigung der entsprechenden Seite vermuten, der nachgegangen werden sollte. Häufig finden sich z.B. Erweiterungen der Hirnventrikel (Hirnwasserräume), narbenartige Verdichtungen, Verkalkungen oder knotige Besonderheiten des Hirngewebes, Besonderheiten der Hirnfurchung oder eine nicht altersentsprechende Hirnreifung.

Therapie

Das West-Syndrom ist eine vergleichsweise schwer behandelbare Form von Epilepsie. Eine möglichst frühzeitige Diagnose ist ausgesprochen wichtig, kann jedoch einen Therapieerfolg nicht garantieren. Ist eine behandelbare hirnorganische Besonderheit Ursache der Anfälle, ist in einigen Fällen nach gründlicher Abwägung der Vor- und Nachteile eine operative Korrektur möglich, und durch die Beseitigung der Ursache verschwinden die Anfälle. In den meisten Fällen von West-Syndrom basiert die Therapie jedoch auf der Gabe von Medikamenten, wobei zunächst oft versucht wird, die Anfälle durch die hochdosierte Gabe des Vitamins B6 in den Griff zu bekommen, da in eher seltenen Fällen (ca. 10%) ein entsprechender Mangel oder eine Verwertungsstörung für die Epilepsie verantwortlich ist.

Gelingt dies nicht, wird mit der Gabe von Medikamenten begonnen. Es wird hierbei meist versucht, zunächst mit möglichst gut verträglichen, mit wenig Nebenwirkungen einhergehenden Präparaten bzw. Dosierungen zu beginnen und die Medikation ggf. zu steigern bzw. zu verändern, wenn nach einem entsprechenden Kontrollzeitraum die Anfälle nicht weniger werden oder aufhören. Gängige Medikamente, die zur Behandlung des West-Syndroms eingesetzt werden sind z.B. ACTH, Ospolot, Valproat und verschiedene Corticosteroide. Das Mittel der Wahl ist oftmals Vigabatrin, welches die Konzentration des hemmenden Neurotransmitters GABA erhöht.

Zum Teil sind die Nebenwirkungen der Medikamente sehr belastend für den kindlichen Organismus, sodass die Kinder sich wie in einem Dämmerzustand befinden.

Statistisch gesehen überleben 10 von 50 Kindern mit West-Syndrom die ersten fünf Jahre ihres Lebens nicht, und nur bei weniger als der Hälfte der Kinder gelingt die Herstellung von Anfallsfreiheit durch medikamentöse Behandlung: Statistisch gesehen können etwa 15 von 50 befriedigend behandelt werden, wobei sich lediglich 5 von 50 Kindern kognitiv und motorisch regelgerecht entwickeln.

Ein Teil der betroffenen Kinder ist auch nach erfolgreicher Einstellung der Anfälle körperlich und kognitiv deutlich beeinträchtigt, wobei dies in der Regel nicht in erster Linie auf die epileptischen Anfälle sondern auf deren Ursache (hirnorganische Besonderheit bzw. dessen Schweregrad) zurückgeführt werden kann.

Abhängig davon, welche Ursache die Anfälle im Einzelfall haben, kann in manchen Fällen schnelle Anfallsfreiheit erreicht werden, und die Entwicklung des Kindes nimmt einen deutlich günstigeren Verlauf.

Prognose

Allgemeine Entwicklungsprognosen sind aufgrund der angesprochenen Variabilität der Ursachen und der Ausprägung der Symptomatik nicht möglich, sondern es muss stets der Einzelfall betrachtet werden. Wie ausgeführt ist die Behandlung des West-Syndroms vergleichsweise schwierig und der Therapieerfolg oftmals unbefriedigend, wenngleich statistische Werte zur Entwicklungsprognose von Kindern mit West-Syndrom nicht verallgemeinerbar sind.

Etwa die Hälfte aller Kinder mit West-Syndrom bekommt im Laufe ihres Lebens eine andere Form von Epilepsie. Manchmal geht das West-Syndrom in das Lennox-Gastaut-Syndrom über.


West-Syndrom bei Säuglingen mit Down-Syndrom

Bei durchschnittlich 1 bis 5 von 100 Kindern mit Down-Syndrom (Trisomie 21) tritt im Säuglingsalter das West-Syndrom auf. Während diese Epilepsieform bei den meisten Kindern ohne die dem Syndrom zugrundeliegende Chromosomenbesonderheit vergleichsweise schwer erfolgreich zu behandeln ist, kann bei Kindern mit Down-Syndrom vielfach ein deutlich milderer Verlauf und eine bessere Ansprechbarkeit auf Medikamente beobachtet werden: Bei ihnen besteht "die Besonderheit ... also darin, dass es sich um eine relativ gutartige Form einer sonst schweren Epilepsie handelt" (LmDS, Nr. 43, Mai 2003). EEG-Aufzeichnungen zeigen bei ihnen häufig mehr Symmetrie und weniger Auffälligkeiten und obgleich nicht alle Kinder durch medizinische Behandlung Anfallsfreiheit erlangen, entwickeln Kinder mit Down-Syndrom im Anschluss an das West-Syndrom seltener das Lennox-Gastaut-Syndrom oder andere Formen von Epilepsie als Kinder ohne zusätzliches Erbmaterial des 21. Chromosoms.

West-Syndrom bei Säuglingen mit anderen Syndromen

Neben Kindern mit Down-Syndrom (Trisomie 21) haben auch Kinder mit Bloch-Sulzberger-Syndrom, Bourneville-Pringle-Syndrom, Foix-Chavany-Marie-Syndrom und Strunge-Weber-Syndrom ebenfalls ein in unterschiedlichem Maße überdurchschnittlich hohes Risiko, das West-Syndrom zu entwickeln.

Literatur

  • Krämer, Günter: Diagnose Epilepsie (2003)
  • Puckhaber, Haiko: Epilepsie im Kindesalter (2000)
  • Altrup, Ulrisch & Elger Christian: Epilepsie – Informationen in Texten und Bildern (2000)
  • Schneble, Hansjörg: Epilepsie bei Kindern - Wie Ihre Familie damit leben lernt (1999 / mit Erfahrungsberichten)

Siehe auch