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Anthony Giddens

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Anthony Giddens, Baron Giddens (*18. Januar 1938) ist ein britischer Soziologe. Er wurde in Edmonton, London geboren. Anthony Giddens war bis 2003 Direktor der London School of Economics and Political Science und war zuvor Professor der Soziologie an der Universität Cambridge in England.

Giddens ist bekannt für seine Theorie der Strukturierung [1]. Dieser Ansatz der Soziologie versucht einen Mittelweg zwischen Positionen, die den Vorrang sozialer Systeme bzw. des Individuums betonen. Giddens Hauptaugenmerk liegt darauf, wie Handeln sich über Raum und Zeit erstrecken kann, und untersucht dazu den Bereich des unbewusst gesteuerten Alltagshandelns. Giddens argumentiert, dass individuelle Handlungen und soziale Strukturen in einer engen Beziehung zueinander stehen. Soziale Strukturen wie Traditionen und Institutionen beeinflussen das Individuum, aber die Strukturen können auch ignoriert und ersetzt werden. Nach Giddens bilden sich also in jeder Handlung eines Individuums soziale Systeme ab. Damit können aus individuellen Verhaltensweisen Rückschlüsse auf soziale Systeme gezogen werden.

Mit der Strukturationstheorie ergaben sich vermehrt Querverbindungen zur Psychologie und zur Sozialpsychologie.

In seiner politischen Soziologie postuliert Giddens den so genannten "dritten Weg" zwischen liberalem Kapitalismus und Sozialismus. Der dritte Weg versucht die positiven Aspekte von beiden Systemen zu vereinen. Giddens ist ein Berater vom Britischen Premier Tony Blair, der einige von Giddens Ideen umgesetzt hat.

Giddens befasst sich außerdem mit der Moderne und deren Einfluss auf die Identität von Individuen. Er ist auch bekannt für seine Ansichten über die Globalisierung und deren Aspekte von Risiko, Tradition und Demokratie.

Im Bezug auf methodische Fragen der Sozialwissenschaft betonte Giddens die Problematik der doppelten Hermeneutik. Mit diesem Konzept verweist Giddens auf das Spannungsfeld zwischen Selbstinterpretation der Forscherin und Interpretationen zweiter Ordnung.

Im Juni 2004 wurde Anthony Giddens durch Verleihung des Titels Baron Giddens of Southgate in the London Borough of Enfield auf Lebenszeit geadelt (life peer).

Kritik des Utopischen Realismus

Übers Schlüsselkonzept "Strukturierung" hinausgehend hat Anthony Giddens in seinen 1991 erschienenen Büchern "The Consequences of Modernity" (Policy Press, 1991, xi/196 p.) ISBN 0-7456-0923-6 und "Modernity & Self-Identity. Self & Society in the Late Modern Age" (Policy Press, 1991, vii/256 p.) ISBN 0-7456-0932-5 einerseits versucht, Modernität und Globalisierung als Leitvorstellungen jeder soziologischen Zeitdiagnose zu profilieren und in vier institutionellen Globalisierungsfeldern und Modernitätsgrundrisiken zu bündeln (Zunahme unkontrollierter totalitärer Macht und atomarer Gefahr; Zusammenbruch jeder Wachstumswirtschaft und Umweltkatastrophe) und andererseits seinen Ansatz mit Blick aufs handelnde Individuum zu unterfüttern.


Im Zusammenhang mit der Ausarbeitung eines alternativen Ansatzes - des kultur- und wissenssoziologischen Forschungsparadigmas "The Utopian Paradigm" (Communications 3.1991, pp. 283-318 ISSN 0341-2059), gekürzte Netzversion[[2]]) - hat der Sozialwissenschaftler Richard Albrecht Anthony Giddens´ politiksoziologische "Dritte Weg"-Begründung Ernst genommen und zugleich dessen Utopischen Realismus als modernisierungs- und trendsoziologisches Leitkonzept kritisiert:


"In den letzten beiden knappen Ausblickskapiteln [von "The Consequences of Modernity"] versucht Giddens, sich auf zukünftige Entwicklungstrends im Innern der Metropolen-Gesellschaften einzulassen: Riding the Jauggernaut, auf einem gefährlichen Moloch reiten, nennt Giddens das Unternehmen, das hierzulande bedeuten würde: Auf dem Rücken eines Tigers über den Bodensee reiten.

Um dieses möglich werden zu lassen, skizziert Giddens sein Konzept des Utopisches Realismus. Es soll dem globalen Modernisierungsgrad mit seinem zunehmendem Bedarf an Zukunftsorientierung entsprechen. Insofern Vorwegnahme von Zukunft - so Giddens - zunehmend Teil der modernen Gegenwart wird, soll Utopischer Realismus "die Fenster in die Zukunft öffnen", indem er weiterführende Trends, die schon in der Gegenwart aufzuspüren sind, bedenkt. Giddens plädiert damit für neue und richtungsweisende Modelle von Gesellschaft, die - als kritische Theorie - utopische Visionen mit gesellschaftlichem Realismus verbinden. Also, einerseits und insofern utopisch: "an den Möglichkeiten eines erfüllten und befriedigenden Lebens festhalten". Und, andererseits und insofern realistisch: mit soziologischer Sensibilität auch die politischen Rahmenbedingungen stets taktisch einvernehmen. Ein so verstandener Utopischer Realismus hat für Giddens vier Leitfelder: Lebensnahes, auf individuelle Identität zielendes und emanzipatorisches, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit anstrebendes politisches Handeln einerseits und zugleich die doppelte Politisierung des Lokalen und Globalen andererseits.

Der Ansatz verweist zu Recht auf die neuen sozialen Bewegungen: Think globally - act locally - global denken, vor Ort handeln. Und in sozialen Bewegungen sieht Giddens auch zentrale Markierungen der Entwicklungsrichtung möglicher zukünftiger sozialer Wandlungen. Vor allem vier Hauptformen sozialer Bewegungen interessieren den Autor: Erstens die alten, auf Bändigung des Kapitalismus und Veränderung seines Klassensystems zielenden Arbeiterbewegungen. Zweitens die gegen unkontrollierte militärische Macht kämpfenden Friedensbewegungen. Drittens die für demokratische Rechte und für Demokratisierung von Informationen aktiven basisdemokratischen und Bürgerrechtsbewegungen. Und viertens ökologische Bewegungen, die als gegen den Industrialismus selbst gerichtete Strömungen auch gegenkulturelle Tendenzen ausdrücken. Die vier Hauptfelder künftiger Sozialbewegungen entsprechen dem Modell der vier institutionellen Eckpfeiler von Modernität. Sie vernachlässigen freilich die Frauenbewegungen, die - so Giddens in einer Fußnote - zu seinen vier Dimensionen einfach quer liegen.

Aber nicht nur hier liegt ein Webfehler der modernisierungssoziologischen Tafeln des Autors. Vielmehr ist es die gezähmte oder halbierte Utopie selbst und damit die Perspektive des Utopischen Realismus Gidden´scher Ausprägung, die Utopie aufs Machbare zuschneidet. Denn der Utopische Realismus soll - ich zitiere -: "Die Unausweichlichkeit der Macht anerkennen und ihre Anwendung für nichts grundsätzlich Schädliches halten." Und weiter: "Sympathie mit der Not der Benachteiligten gehört zu allen Formen emanzipatorischer Politik - aber die Verwirklichung der Ziele hängt oft von dem ab, was die Bevorrechteten unternehmen."

So gesehen ist der Utopische Realismus von Anthony Giddens ein soziomoralischer Spagatschritt. Die scheinbare Paradoxie von Utopie und Realismus verkürzt sich auf politischen Pragmatismus. Seid realistisch ! Und fordert nicht länger das Unmögliche ! Denn wer noch immer das Unmögliche einfordert - steht -vormodern- links vom Möglichen überhaupt ... ein Fossil, wer an selbstbewußter Durchsetzung aller utopischen Visionen eines besseren Lebens in einer gerechteren Welt festhält.

Man kann also doch über den Bodensee auf dem Rücken eines Tigers reiten - indem man ihm, bevor man ihn besteigt, die Zähne ziehen läßt."


(Communications 3.1991, pp. 396-398 ISSN 0341-2059; (c) by the author. Hier zitiert mit dessen ausdrücklichem Einverständnis)

Schriften

  • Capitalism and Modern Social Theory (1971)
  • Politics and Sociology in the Thought of Max Weber (1972)
  • The Class Structure of Advanced Societies (1973)
  • New Rules of Sociological Method (1976)
  • Political Theory (1977)
  • Emile Durkheim (1978)
  • Central Problems in Social Theory (1979)
  • A Contemporary Critique of Historical Materialism (1981)
  • Sociology (1982), ein beliebter Einführungstext in die Disziplin, auch auf deutsch erschienen
  • Profiles and Critiques in Social Theory (1983)
  • The Constitution of Society (1984)
  • The Nation-State and Violence (1985)
  • The Consequences of Modernity (1990)
  • Modernity and Self-Identity (1991)
  • The Transformation of Intimacy (1992)
  • Beyond Left and Right (1994)
  • The Third Way (1998), deutsch Der dritte Weg (1999)
  • Runaway World (1999)
  • The Third Way and its Critics (2000)
  • Runaway World (2000)
  • Sociology (2001)
  • The Global Third Way Debate (Hrsg., 2001)
  • Where Now for New Labour? (2002)
  • The Progressive Manifesto (Hrsg., 2003)