Freileitungs-Monitoring
Freileitungs-Monitoring (Abkürzung FLM, auch Freileitungs-Temperatur-Monitoring oder Witterungsabhängiger Freileitungsbetrieb) ist eine Methode zur Erhöhung der Übertragungskapazität von Freileitungen, besonders auf bestehenden Trassen des Höchstspannungsnetzes. Die Übertragungskapazität von Freileitungen wird durch die maximale Betriebstemperatur des Leiterseils begrenzt. Statt der Annahme eines statischen Worst-Case-Szenarios wird beim Freileitungs-Monitoring diese Betriebstemperatur entweder direkt gemessen, oder es wird die Kühlwirkung des Wetters entlang der Trasse anhand realer Klimadaten modelliert. Dadurch kann die Übertragungskapazität einer Freileitung um bis zu 50% Nennleistung erhöht werden. Wegen des Ausbaus der Erneuerbaren Energien ist es erforderlich, den Durchsatz im bestehenden Übertragungsnetz zu erhöhen. Freileitungs-Monitoring ist neben der Verwendung von Hochtemperatur-Leiterseilen das Hauptmittel dazu.
Verfahren
Die Übertragungskapazität von Freileitungen, bezogen auf den Leiterquerschnitt auch Strombelastbarkeit genannt, ist der maximale Stromfluss, der unter Einhaltung von Sicherheitsbestimmungen dauerhaft erreicht werden kann. Bei gegebenem Material und Leitungsdurchmesser des Leiterseils wird die Übertragungskapazität durch die Leiterseiltemperatur begrenzt. Eine Betriebstemperatur größer als 80°C muss dabei nach EN 50182 vermieden werden, da jenseits der Grenztemperatur der Seildurchhang in Folge von Wärmeausdehnung zu groß wird, und dadurch ein Kontakt der Leitung mit Boden oder Vegetation droht. Auch kann das Seilmaterial durch stark erhöhte Temperaturen seine Festigkeit verlieren.[1]
Neben dem Wärmeeintrag durch den Widerstand, den der elektrische Strom im Leiterseil erfährt, ist die Kühlung (seltener auch Erwärmung) durch die Umgebung der andere wesentliche Faktor für die Leiterseiltemperatur. Die dafür wesentlichen Umgebungsfaktoren sind Umgebungstemperatur, Windgeschwindigkeit und Sonneneinstrahlung. Luftfeuchte und Niederschlag spielen während der warmen Jahreszeiten keine wesentliche Rolle, da die Leiterseiltemperatur unterhalb des Siedepunktes von Wasser liegen muss, und so keine Verdampfungswärme abgeführt wird. Eine Eisschicht auf den Leitungen, wie sie in kalten Jahreszeiten auftreten kann, hat einen wesentlichen Einfluss auf den Wärmehaushalt des Leiterseils. Dies ist jedoch im Sinne der maximalen Leiterseiltemperatur kein auslegungsrelevanter Betriebszustand.[2]
In der Europäischen Norm EN 50182 („Leiter für Freileitungen - Leiter aus konzentrisch verseilten runden Drähten“) wird die Dauerstrombelastbarkeit festgelegt, die unter der Worst-Case-Annahme eines heißen Sommertages ohne Wolken und praktischer Windstille zur Einhaltung der maximal zulässigen Leiterseiltemperatur führt. Dadurch werden die Mindestabstände des Leiters zum Boden oder anderen Objekten eingehalten. Diese Umgebungsbedingungen sind in der Norm auf 35° C Außentemperatur, volle Globalstrahlung mit 900 W/m² und 0,6 m/s Windanströmung orthogonal zum Leiter gemäß EN 50341 („Freileitungen über AC 45 kV“) festgelegt.[3] Solche klimatischen Bedingungen herrschen in Mittel- und Nordeuropa nur selten vor. Dadurch werden dort Freileitungen meist mit erheblicher Übertragungsreserve betrieben.
Beim Freileitungs-Monitoring verzichtet man auf diese statischen Annahmen, und überwacht stattdessen Klimadaten entlang der Trasse und ggfs. die Betriebstemperatur der Leiterseile. Bei entsprechend kühlenden Witterungsbedingungen, beispielsweise Starkwind oder niedriger Außentemperatur, können die Leiter stärker belastet werden, als dies unter klimatischen Normbedingungen der Fall wäre. Das Problem überlasteter Übertragungsnetze tritt in Mitteleuropa besonders seit Beginn des starken Ausbaus der Erneuerbaren Energien bei Windenergie-Spitzen auf. Die besonders leistungsfähigen Windkraftanlagen befinden sich in Überschussgebieten mit starkem Wind und wenigen Verbrauchern. Gerade zu Zeiten von hohem Übertragungsbedarf durch starke Windenergieeinspeisung herrscht per Definition auch viel kühlender Wind. So kann durch FLM die Strombelastbarkeit von Freileitungen in Küstennähe um bis zu 50 % erhöht werden.
Umsetzung
1995 publizierte Edmund Handschin, Professor für Energiesysteme an der TU Dortmund, die Belastbarkeit von Leiterseilen in Abhängigkeit von Windgeschwindigkeit und Lufttemperatur. Bei einer Windgeschwindigkeit von 10 m/s, also 36 km/h und damit mäßiger Wind, verdoppelt sich die zulässige Dauerstrombelastung gegenüber den Werten in der Norm EN 50182.[4]
Beginnend 2006 führte E.ON (nun TenneT) in Schleswig-Holstein auf der 110-kV-Leitung Niebüll–Flensburg einen FLM-Feldversuch durch. Dadurch konnte die Übertragungskapazität dieser Freileitung in Abhängigkeit vom Wetter zeitweise um bis zu 50% gesteigert werden.[5] Darauf folgten weitere Feldversuche in Nordeutschland mit 110-, 220- und 380-kV-Leitungen.[1] Praktisch wurden Klimadaten entlang der Trasse erhoben bzw. von metereologischen Dienstanbietern bezogen. Darauf wurde mittels eines Modells in Echtzeit die aus Widerstands-Wärmeeintrag und klimatischer Kühlung resultierende Leitertemperatur errechnet. Diese Daten wurden der Netzleitstelle zur Verfügung gestellt, wo die Übertragung entsprechend erhöht werden kann. Mit Stand 2011 hatte TenneT unter Einsatz von 55 Mio. Euro Investitionen mehr als 900 km Höchstspannungsleitungen und 20 Umspannwerke von Hamburg bis Gießen auf wettergeführtes FLM umgerüstet.[6]
Da bei dem von TenneT gewählten wettergeführten Verfahren im Modell gewisse Sicherheitsannahmen getroffen werden müssen, könnte die Übertragungskapazität durch direkte Messung der Leitertemperatur noch weiter erhöht werden. Dazu kann die faseroptische Temperaturmessung eingesetzt werden, die in den USA für FLM in Einsatz ist.[4]
Die von der halbstaatlichen DENA 2010 veröffentlichte Netzstudie II geht in ihrer Netzprognose vom Einsatz zweier technischer Möglichkeiten zur Erhöhung der Strombelastbarkeit von Freileitungen aus: Freileitungsmonitoring (FLM) und Hochtemperaturseile (TAL).[7] Allerdings steigt die Übertragungskapazität durch FLM im Starkwindszenario nur im Norden um 50%, aufgrund abnehmender Wetterkorrelation, schwächerer Winde und des abschirmenden Effekts von Vegetation werden in der Mitte Deutschlands 30% und im Süden nur 15% erwartet.[4] Die Schlussfolgerungen von DENA und den vier großen Übertragungsnetzbetreibern aus der Netzstudie II wurden kritisiert, weil sie die Optimierungspoteniale in bestehenden Leitungen auf FLM mit Wetterführung und TAL-Hochtemperaturseile beschränkt. Mit direkter Leitertemperatur-Messung und ACCC- oder ACCR-Hochtemperaturseilen liesse sich mehr erreichen, und der Bedarf für teuere und in der Bevölkerung umstrittene Neubautrassen würde entsprechend sinken.[8]
Beim VDE entwickelt die Projektgruppe „Witterungsabhängiger Freileitungsbetrieb“ des Forums Netztechnik/Netzbetrieb (FNN) eine VDE-Anwendungsregel, die 2011 als VDE-AR-N 4210-5 Witterungsabhängiger Freileitungsbetrieb veröffentlicht wurde.[9]
Einzelnachweise
- ↑ a b Klaus Heuck, Klaus-Dieter Dettmann, Detlef Schulz: Elektrische Energieversorgung : Erzeugung, Übertragung und Verteilung elektrischer Energie für Studium und Praxis, 8. Auflage. Vieweg + Teubner, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-8348-0736-6, S. 356–357.
- ↑ Ralf Puffer: Netzoptimierung durch witterungsabhängigen Freileitungsbetrieb und Hochtemperaturleiter, Vortrag vom 6. Mai 2010 am Institut für Hochspannungstechnik der RWTH Aachen, S. 5–6.
- ↑ DIN EN 50182:2001-12: Leiter für Freileitungen - Leiter aus konzentrisch verseilten runden Drähten; Deutsche Fassung EN 50182:2001. Beuth, Berlin 2001.
- ↑ a b c Lorenz Jarass, Gustav M. Obermair, Wilfried Voigt: Windenergie : zuverlässige Integration in die Energieversorgung. 2. Auflage. Springer, Berlin 2009, ISBN 978-3-540-85252-0, S. 68–72. (Unterkapitel „Freileitungsmonitoring“)
- ↑ E.ON Netz GmbH: Freileitungs-Monitoring. Broschüre von 09/07.
- ↑ Freileitungsmonitoring - Optimale Kapazitätsauslastung von Freileitungen bei TenneT TSO (Abgerufen am 31. Januar 2012.)
- ↑ dena-Netzstudie II – Integration erneuerbarer Energien in die deutsche Stromversorgung im Zeitraum 2015-2020 mit Ausblick auf 2025. DENA, Dezember 2010.
- ↑ Jörg-Rainer Zimmermann: Flaschenhals Netz. In: neue energie, Nr. 01/2011, S. 29–39.
- ↑ VDE-AR-N 4210-5 Witterungsabhängiger Freileitungsbetrieb (Anwendungsregel des VDE)