Geschichte Deutschlands seit 1990
Vorbemerkung: Dieser Artikel befasst sich mit den Entwicklungen im wiedervereinigten Deutschland seit dem 3. Oktober 1990. Für die vorhergehende Zeit siehe Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (1945 - 1990) und Geschichte der DDR, sowie den Hauptartikel Geschichte Deutschlands.
Helmut Kohls Kanzlerschaft im wiedervereinigten Deutschland
Dritte Amtszeit
Am 14. Oktober 1990, elf Tage nach der Wiedervereinigung, erfolgt die Neugründung der fünf Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Die Stadt Berlin wurde zu einem eigenständigen Bundesland und zur deutschen Hauptstadt.
Vierte Amtszeit
Am 2. Dezember 1990 finden die ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen statt. Die Union erreicht 43,8%, die SPD nur 33,5%, die FDP 11%, die PDS mit 2,4% kann dank der für West- und Ostdeutschland getrennt ausgewiesenen Fünf-Prozent-Klausel in den Bundestag einziehen. Bündnis 90/Die Grünen scheitert im Westen mit 4,8% an der Fünf-Prozent-Hürde, im Osten erreicht eine Listenvereinigung Bündnis 90/Grüne 6,0% und zog damit in den Bundestag ein.
1991 beschließt der Bundestag nach kontroverser Debatte den Umzug von Regierung und Parlament von Bonn nach Berlin. Bis zu diesem Zeitpunkt war Bonn die vorläufige Bundeshauptstadt der Bundesrepublik Deutschland, für die sich am 10. Mai 1949 der Parlamentarische Rat entschieden hatte.
1992 kommt es zu einer Welle rechtsextremer Gewalt. Bei Brandanschlägen in Rostock, Mölln und Solingen sowie anderen Orten kommen insgesamt 17 Menschen ums Leben. Im Dezember protestieren Hunderttausende mit Lichterketten gegen den Fremdenhass.
Roman Herzog wird 1994 zum Bundespräsidenten gewählt. Der ehemalige Verfassungsrichter tritt dafür ein, dass ein "Ruck" durch Deutschland gehen müsse, um die verkrusteten Strukturen zu überwinden. Seine Auftritte sind sorgfältig auf ihre Medienwirkung hin inszeniert.
Fünfte Amtszeit
Am 16. Oktober 1994 bestätigen die Bundestagswahlen die Regierung von Helmut Kohl im Amt. Die Grünen schaffen den Sprung über die 5-Prozent-Hürde, die PDS zieht wieder in den Bundestag ein, da sie im Osten drei Direktmandate gewinnen kann. Die Treuhandanstalt, die das Staatsvermögen der DDR privatisieren sollte, wird aufgelöst. 1996 werden erstmals Bundeswehr-Soldaten in Auslandseinsätze geschickt. Im Juni 1997 verwüstet das Hochwasser der Oder ganze Landstriche.
Gerhard Schröders Kanzlerschaft
Erste Amtszeit

Bei den Bundestagswahlen vom 27. September 1998 wird zum ersten Mal in der deutschen Geschichte ein Bundeskanzler vom Volk abgewählt. SPD (40,9%) und Grüne (6,9%) erzielen mehr Sitze als Union (35,1%) und FDP (6,2%). Der Bundestag wählt Gerhard Schröder (SPD) zum Bundeskanzler, Außenminister wird Joschka Fischer (Grüne).
Bald nach der Bundestagswahl erklärt zur allgemeinen Überraschung Finanzminister Oskar Lafontaine seinen Rücktritt. Damit verliert die Regierung den innerparteilichen Konkurrenten von Gerhard Schröder und den prominentesten Vertreter der Linken. Lafontaines Nachfolger wird der ehemalige hessische Ministerpräsident Hans Eichel, der im Gegensatz zu Lafontaine nicht auf keynesianische Nachfragepolitik setzt.
Die CDU erlebt 1998/1999 die Demontage ihres Ehrenvorsitzenden, Helmut Kohl, nachdem bekannt wird, dass dieser jahrelang seiner Partei die Spenden anonymer Geldgeber zukommen ließ. Dies verstößt gegen das Parteiengesetz und das Grundgesetz, demzufolge alle Großspenden namentlich gekennzeichnet werden müssen. Kohl weigert sich, seine Geldgeber zu nennen und beruft sich auf das "Ehrenwort" ihnen gegenüber. Auch Wolfgang Schäuble steht unter Verdacht, Angela Merkel übernimmt den Vorsitz der CDU. Siehe auch: CDU-Spendenaffäre
Johannes Rau von der SPD, langjähriger Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, wird im Amt des Bundespräsidenten zum Nachfolger von Roman Herzog gewählt, der für keine zweite Amtszeit kandidiert. Rau, der sich seit Jahren intensiv um das Amt bemüht hatte, muss erst Widerstände in der öffentlichen Meinung überwinden, überrascht dann aber durch eine eminent politische Amtszeit mit bemerkenswerten Reden.
Die Unterdrückung der Albaner im Kosovo durch die serbische Regierung unter Slobodan Milošević führt zur kriegerischen Intervention der Nato. Erstmals ist auch die Bundeswehr an Kampfeinsätzen beteiligt.
Nachdem der Euro als parallele Buchwährung schon 1999 eingeführt wurde, löst er am 1. Januar 2002 die D-Mark auch als Bargeld ab. Die Umstellung erfordert größere logistische Anstrengungen, läuft aber in Deutschland wie im übrigen Europa planmäßig ab. Der Umrechnungskurs beträgt 1,95583 DM zu 1,00 Euro.
Im Sommer 2002 treten die Elbe und etliche ihrer Nebenflüsse über die Ufer. Große Städte wie Dresden und Magdeburg leiden unter dem Hochwasser im August 2002 von ungekannten Ausmaßen.
Zweite Amtszeit
Bei der Bundestagswahl am 22. September 2002 stellt seit 1980 zum ersten Mal wieder die CSU den Kandidaten der Union: Edmund Stoiber. Union und SPD kommen fast punktgenau aufs gleiche Ergebnis: 38,5%. Die Grünen erzielen 8,6%, die FDP aber nur 7,4%. Die PDS scheitert an der 5-Prozent-Hürde und entsendet nur die zwei direkt gewählten Abgeordneten in den Bundestag. Damit kann die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder ihre Koalition fortsetzen.
Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, die absehbare Überalterung der Gesellschaft sowie die angespannte Haushaltslage der öffentlichen Kassen beschleunigen die Diskussion um Reformen in Deutschland. Der Arbeitsmarkt soll mit den Konzepten der Hartz-Kommission belebt werden, Renten- und Krankenversicherung werden immer neuen Reformen unterzogen. Die Unionsmehrheit im Bundesrat verringert den Handlungsspielraum der Regierung Schröder.

Prof. Dr. Horst Köhler
Am 23. Mai 2004 wählt die Bundesversammlung mit 604 von 1205 Stimmen Horst Köhler, den Kandidaten von CDU/CSU und FDP, im ersten Wahlgang zum Bundespräsidenten. Für Rot-Grün trat Gesine Schwan an, der bisherige Amtsinhaber Rau hatte sich nicht zur Wiederwahl gestellt, da diese aufgrund der Mehrheitsverhältnisse kaum realistisch erschien. Köhler profiliert sich schnell als ein überparteilicher Unterstützer des Reformprozesses, der aktiv am tagespolitischen Geschehen teilnimmt und sich mit kritischen Kommentaren zu Sachfragen äußert.
Die Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg am 19. September 2004 lösen einen bundesweiten Schock aus: Einerseits erhält in Brandenburg die rechtsextreme DVU rund 6,1% der Stimmen und ist dadurch weiterhin im Landtag vertreten, andererseits zieht die ebenfalls rechtsextreme NPD als viertstärkste Partei mit zwölf Abgeordneten erstmals in den Sächsischen Landtag ein. Die Große Koalition unter Matthias Platzeck in Brandenburg kann trotz Stimmenverlusten weiterregieren, während der sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt auf die SPD als Juniorpartner angewiesen ist. In den nächsten Monaten kommt es zu mehreren Eklats, die mit Empörung zur Kenntnis genommen werden. Unter anderem verweigert die NPD am 13. Februar 2005 die Teilnahme an einer Schweigeminute im Landtag, die anlässlich der Bombardierung Dresdens vor sechzig Jahren abgehalten wird; der Abgeordnete Jürgen W. Gansel nannte die Luftangriffe gar "Bombenholocaust". Der Bundestag verschärft das Versammlungsrecht und den Straftatbestand der Volksverhetzung, um eine weitere Ausbreitung des Rechtsextremismus zu verhindern. Auch die Diskussionen um einen neuerlichen Anlauf des NPD-Verbotsverfahrens flammen erneut auf.
Eine schwere Belastung für die Regierung stellt die Visa-Affäre Anfang 2005 dar. Durch einen entsprechenden Erlass hatte Staatsminister a.D. Ludger Volmer für eine großzügigere Vergabe von Visa, insbesondere in der ukrainischen Botschaft in Kiew, gesorgt. Vorwürfe werden laut, die Bundesregierung hätte damit den Menschenhandel gefördert. Außenminister Fischer gerät massiv unter Druck und muss vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags aussagen. Auch Innenminister Otto Schily soll sich nach dem Willen der Opposition im Ausschuss erklären. Die Beweisaufnahme wird von Rot-Grün am 2. Juni beendet, muss jedoch nach einer Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichtes fortgesetzt werden. Geklagt hatten die Union und die FDP.

Franz Müntefering
Bei der Ministerpräsidentenwahl in Schleswig-Holstein am 17. März scheitert die SPD-Amtsinhaberin Heide Simonis überraschend, da ihr eine Stimme aus den eigenen Reihen verwehrt wird. Es kommt zur Bildung einer Großen Koalition unter dem CDU-Politiker Peter Harry Carstensen. Bei der nächsten Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai fährt die SPD deutliche Verluste ein und verliert nach 39 Jahren die Regierungsverantwortung. Damit endet die letzte Rot-Grüne-Koalition auf Landesebene. Noch am selben Tag geben Gerhard Schröder und Franz Müntefering ihre Absicht bekannt, im Herbst vorgezogene Bundestagswahlen stattfinden zu lassen. Dazu müsste der Bundestag aufgelöst werden. Bis zum 1. Juli will er mit einer gescheiterten Vertrauensfrage die Grundlage dafür schaffen.

Der Vertrag über eine Verfassung für Europa wird am 12. Mai mit 569 von 594 Stimmen im Bundestag und mit 66 von 69 Stimmen fünfzehn Tage später im Bundesrat verabschiedet. Zuvor hatte sich die FDP nicht mit ihrer von weiten Teilen der Bevölkerung unterstützten Forderung durchsetzen können, eine bundesweite Volksabstimmung über das Vertragswerk durchzuführen. Parteiübergreifend wird die historische Bedeutung der Verfassung für das vereinigte Europa gewürdigt, die wenigen Neinstimmen rekrutieren sich aus den Reihen der PDS und der CSU. Der christsoziale Abgeordnete Peter Gauweiler, der bereits mit einer Verfassungsbeschwerde gegen die Abstimmung vom 12. Mai gescheitert war, reicht kurze Zeit nach der Annahme Organklage beim Bundesverfassunsgsgericht ein. Bundespräsident Köhler erklärt am 15. Juni, mit der Ratifikation bis zum Urteil der Verfassungshüter zu warten. Aufgrund der negativen Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden bleibt die Zukunft der Europäischen Verfassung ungewiss.
Die Diskussionen der nächsten Wochen konzentrieren sich insbesondere auf die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der von Schröder angepeilten Vertrauensfrage, die von zahlreichen Experten bestritten wird. Andere Möglichkeiten für eine vorgezogene Neuwahl, darunter eine Verfassungsänderung, durch die sich der Bundestag ein Selbstauflösungsrecht geben soll, werden diskutiert. Der Grünen-Abgeordnete Werner Schulz sowie die Kleinparteien ödp und Die Republikaner kündigen für den Fall einer Neuwahl Klage vor dem Bundesverfassungsgericht an. Ungeachtet dessen beantragt Bundeskanzler Schröder am 27. Juni bei Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, wie geplant am 1. Juli die Vertrauensfrage im Bundestag zu stellen. Diese verliert er erwartungsgemäß sehr deutlich, nur 151 Abgeordnete sprechen ihm das Vertrauen aus. Bundespräsident Horst Köhler gab am 21. Juli seine Entscheidung bekannt, den Bundestag aufzulösen. Damit wird es am 18. September 2005 zu Neuwahlen kommen.
Bereits mit Schröders Neuwahl-Ankündigung setzen bei allen Parteien Wahlkampfvorbereitungen ein. Die Union kürt am 30. Mai ihre Vorsitzende Angela Merkel zur Kanzlerkandidatin, die FDP bekennt sich auf ihrem Parteitag zu einer Koalition mit der CDU und erklärt, sich als Bürgerrechtspartei profilieren zu wollen. Die SPD wird erneut Gerhard Schröder ins Rennen schicken, gibt jedoch entgegen 2002 kein klares Bekenntnis zu den Grünen ab, die mit Joska Fischer als Spitzenkandidaten antreten. PDS und die im Januar 2005 gegründete WASG streben eine gemeinsame Kandidatur als Die Linkspartei. an. Aktuelle Umfragen bescheinigen einer Schwarz-Gelben Koalition eine deutliche Mehrheit, in weiten Teilen der Bevölkerung wird mit einem Regierungswechsel gerechnet.