Karlsruher Modell
Als Karlsruher Modell wird im Bezug auf den ÖPNV die Idee bezeichnet, das Schienennetz der Deutschen Bahn für den Stadtbahn-Verkehr mitzunutzen. Dies wurde 1992 in Karlsruhe umgesetzt und wird seitdem von zahlreichen anderen Städten übernommen. Motivation war die Überlegung, die Gemeinden im Karlsruher Umland besser mit dem ÖPNV zu erschließen und umsteigefrei bis in die Karlsruher Innenstadt zu fahren. Wichtiger Faktor ist der städteübergreifende Karlsruher Verkehrsverbund (KVV), innerhalb dessen eine Fahrkarte genügt, gleichgültig, ob man zur Fahrt die Regionalbahn, die Straßenbahn, den Omnibus oder eine Kombination daraus wählt. Das Karlsruher Modell ergänzende Zusammenhänge sind in Nahverkehr in Karlsruhe und Linksverkehr im Tunnel nachzulesen.
Frühere Geschichte
Einen seiner Ausgangspunkte hatte das Karlsruher Modell auf der privaten, in den Jahren 1897 bis 1899 in Betrieb genommenen Albtalbahn von Karlsruhe nach Bad Herrenalb. Hier fuhr noch bis Ende der 50er Jahre eine abgewirtschaftete Schmalspurbahn, die ihren Endpunkt in der Nähe des 1913 ausgelagerten Hauptbahnhofs und somit weitab vom Stadtzentrum hatte. Da diese Linie unter anderem auch Ettlingen bediente und damit ein großes Fahrgastpotenzial besaß, wurde sie umgespurt und somit Straßenbahnfahrzeugen zugänglich. 1961 erreichte der erste moderne Zug die Kurstadt Herrenalb. Für den Betrieb auf der Albtalbahn gründete die Stadt Karlsruhe die Albtal-Verkehrs-Gesellschaft (AVG). Auch dies war eine Voraussetzung für das 'Karlsruher Modell', denn damit gibt es neben den städtischen Verkehrsbetrieben (VBK) eine zweite Gesellschaft, die sich um den Verkehr im Umland kümmert. AVG und VBK sind organisatorisch zusammengefasst.
Ausgangssituation
Hier der Stadtverkehr, dort der Regionalverkehr - durch Schnittstellen verbunden, aber nicht miteinander verwoben. So präsentierte sich über Jahrzehnte hinweg der öffentliche Verkehr in Ballungsräumen. Genau dort lag aber das Problem, neue Kunden zu gewinnen, denn der Übergang vom Zug zur Tram oder umgekehrt schreckte viele potenzielle Fahrgäste ab. In Frankfurt am Main, Stuttgart und München entstanden deshalb neue S-Bahn-Netze, die zwar Direktverbindungen zwischen Stadt und Umland schufen, aber mit immensen Kosten verbunden waren, weil innerstädtische Strecken im Tunnel angelegt werden mussten und der Ausbau bestehender Strecken oft einem Neubau gleichkam. Kaum noch einen Platz hatten in diesen Konzepten die "klassischen" Straßenbahnen, deren Netze schrumpften oder verschwanden. Ganz anders verlief die Entwicklung in Karlsruhe, wo sich der Gemeinderat in den 1960er Jahren bewusst für Erhalt und Ausbau der Straßenbahn ausgesprochen hatte. Zug um Zug wurden die Strecken auf eigenen Bahnkörper verlegt, so dass heute rund 80 Prozent des Netzes vom motorisierten Individualverkehr unabhängig sind. Außerdem erhielt die Straßenbahn ein Beschleunigungsprogramm mit 'eingebauter Vorfahrt'. An den meisten Ampelkreuzungen kann der Wagenführer sich 'Grün holen' und seine Bahn zügig durch die Stadt bringen. Ein derart leistungsfähiges wie modernes Streckennetz war die Grundvoraussetzung für weitere Maßnahmen.
Mitnutzung von DB-Strecken
Von der ersten, zunächst als Linie A bezeichneten Strecke nach Bad Herrenalb ausgehend wuchs das Liniennetz der Albtalbahn in rascher Folge. Der Seitenast nach Ittersbach kam bis 1975 hinzu, bevor am 5. Oktober 1979 ein weiterer Meilenstein gesetzt wurde. An diesem Tag ging die Strecke Nordweststadt - Neureut in Betrieb. Auf 1,5 km Länge benutzten die Bahnen hier erstmals Gleise der Deutschen Bundesbahn. Durch Neureut führte das Reststück der einstigen Bahnlinie Mühlburg - Eggenstein - Graben-Neudorf, das die DB nur noch sporadisch im Güterverkehr nutzte. Aufgrund des sprunghaften Anstiegs der Fahrgastzahlen wurde die als 'Hardtbahn' bezeichnete Strecke bis 1989 schrittweise unter Benutzung weiterer 4,4 km DB-Trasse nach Hochstetten verlängert. Eine auf voller Länge strikte Befolgung der alten Bahnlinie wäre jedoch zu weit abseits der mittlerweile entstandenen Besiedlung verlaufen. Bei den engen, nur eingleisig möglichen Passagen der Orte übertrifft der Vorteil der direkten Erschließung die aus Begegnungsverboten resultierenden betrieblichen Nachteile bei Weitem. Die Linie verbindet zwei große Siedlungsgebiete mit der Karlsruher Innenstadt und erschließt damit umsteigefrei alle wichtigen Ziele, wie z. B. Behörden, Geschäfte, Freizeiteinrichtungen und auch die Universität. Auf dem Weg durch die Stadt wechselt der Zug dabei gleich zwei Mal seine Funktion: Während auf den Außenstrecken nach der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO) gefahren wird, d. h. mit relativ hohen Geschwindigkeiten und längeren Entfernungen, gilt in der Stadt die Verordnung über den Bau und Betrieb der Straßenbahnen (BOStrab), also niedrigere Geschwindigkeiten und geringe Haltestellenabstände. Auf wenigen Abschnitten teilen sich die Stadtbahnen ihren Fahrweg sogar mit dem übrigen Straßenverkehr.
Spätere Geschichte
Nachdem der Ausbau der Albtal- und Hardtbahn erhebliche Fahrgastzuwächse gebracht hatte, entstand die Idee der Erschließung das Karlsruher Umlandes mit weiteren Stadtbahnlinien. Hierfür boten sich die Strecken der DB an, auf denen der Nahverkehr bisweilen über eine Randexistenz nicht hinauskam. Die Gründe dafür waren vielfältig: veraltetes Wagenmaterial, mangelnder Taktverkehr, geringes Fahrtenangebot und unattraktive Fahrpreise. Außerdem kam der Umsteigezwang am Hauptbahnhof hinzu. Eine Verknüpfung mit dem Straßenbahnnetz lag nahe, doch stellte sich - im Gegensatz zur Situation bei der Albtalbahn - das Problem unterschiedlicher Stromsysteme. 1984 wurde eine erste Durchführbarkeitsstudie zur Verknüpfung von Schienenpersonennahverkehr der Deutschen Bundesbahn und der Verkehrsbetriebe Karlsruhe in Auftrag gegeben. Ab September 1986 wurden zwischen Karlsruhe und Wörth erste Testfahrten mit einem Zweisystem-Versuchsfahrzeug durchgeführt. Im Juni 1991 wurden die ersten Zweisystemfahrzeuge in Serie ausgeliefert und die erste Strecke (Karlsruhe Hauptbahnhof - Pforzheim) und damit der in Deutschland erste Stadtbahnwagen auf DB-Gleisen in Betrieb genommen. Am 25. September 1992 wurde mit der bis dahin noch im Personenverkehr bedienten DB-Strecke Karlsruhe Hbf - Bretten-Gölshausen die erste Zweisystem-Linie eingeweiht, die auf Stadtbahn-Gleisen über den Karlsruher Marktplatz und anschließend ab Grötzingen auf DB-Gleisen führt. Herzstück dieser neuen Verbindung war eine Rampe am Bahnhof Karlsruhe-Durlach mit anschließender Neubaustrecke bis Grötzingen, wo der Übergang zur DB erfolgt. Auf diesem Abschnitt befindet sich eine automatische Systemwechselstelle, wo das Fahrzeug selbständig und für den Fahrgast fast unmerklich von Gleich- auf Wechselstrom umschaltet. Zum Stadtbahnbau gehörte außerdem die Einrichtung zusätzlicher Haltestellen - getreu der Devise des KVV-Geschäftsführers Dieter Ludwig: 'Man muss die Bahn zu den Menschen bringen und nicht die Menschen zur Bahn'. Der Mischbetrieb mit den anderen Zügen der Bundesbahn, die wenigen Fahrplantrassen sowie die Kreuzungen von Zügen erzwingen von Anfang an merkbare Fahrpläne auch der beteiligten Stadtbahnlinien.
Technik
Auf technischer Seite musste ein entscheidendes Problem gelöst werden: In der Innenstadt dürfen Straßenbahnen nur mit Gleichstrom betrieben werden, im Netz der Deutschen Bahn wird jedoch Wechselstrom verwendet. Also waren Zweisystemfahrzeuge zu konstruieren, die beide Systeme benutzen können. Somit entwickelte die VBK/AVG in Zusammenarbeit mit dem Elektrokonzern ABB einen Stadtbahnwagen mit Systemwechseleinrichtung (DUEWAG GT 8-100). Außerdem waren an den Systemübergängen Rampen zu bauen. Die Zweisystemfahrzeuge müssen ebenfalls alle Signalisierungsverfahren (IWS im Straßenbahnnetz und INDUSI im DB-Netz) beherrschen. Eine andere Einschränkung: Die leichten Straßenbahnwagen dürfen nur auf Strecken eingesetzt werden, auf denen eine Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h gilt - Schnellfahrstrecken, beispielsweise Richtung Graben-Neudorf, dürfen nicht befahren werden. Zweisystemfahrzeuge sind gleichzeitig Zweirichtungsfahrzeuge (die einzigen in Karlsruhe), da einige Haltestellen auf eingleisigen DB-Strecken nur auf einer der beiden Seiten des Gleises einen Bahnsteig aufweisen und da Einrichtungsfahrzeuge Wendeschleifen erforderten, für die im Eisenbahnbetrieb kein Platz vorhanden ist. Zweisystemzüge verfügen ebenso wie die Einsystem-Vorgänger über eine automatische Kupplung, die die Stärkung / Schwächung (An-/Abhängen) in Haltestellen, also während des Betriebes, erlaubt. Auch können beide Fahrzeugtypen auf dem Gleichstromnetz gemeinsam im Zugverband verkehren.
Das Netz wächst
Der unmittelbare und durchschlagende Erfolg der neuen Direktverbindung mit erheblich ausgedehntem Angebot ermutigte die Verantwortlichen in Politik und beteiligten Unternehmen zur Ausdehnung des Zweisystemverkehrs. Begünstigt auch durch das einheitliche Tarifsystem des im April 1994 in Kraft getretenen Karlsruher Verkehrsverbundes wuchs das Stadtbahnnetz in die Region: Als Ziele kamen beispielsweise Bruchsal, Pforzheim, Wörth, Rastatt und Eppingen hinzu. Auch auf der von der SWEG übernommenen Strecke Bruchsal - Menzingen / Odenheim fahren nach gründlicher Sanierung moderne Stadtbahnen. Mit dem Netz wuchs gleichzeitig die Zahl der Verknüpfungspunkte. Richtung Westen schließt (nach Überwindung von Widerständen durch Naturschützer) die Stadtbahnlinie nach Wörth am Rhein bei Knielingen an das Straßenbahnnetz an, und Richtung Süden wird die Linie Richtung Durmersheim - Rastatt am Albtalbahnhof in die DB-Gleise eingefädelt. In der Folge wurden weitere DB-Strecken von der Stadtbahn in Beschlag genommen. 11 Jahre nach einem entsprechenden Beschluss wurde 2002 der erste Teil Rastatt - Raumünzach der Murgtalbahn elektrifiziert eröffnet, und seit Ende 2003 kann man durchgehend bis nach Freudenstadt fahren; die Elektrifizierung der Murgtalbahn, das größte Projekt im Zusammenhang des Karlsruher Modells, vermied die Strecken-Stilllegung und führte im Gegenteil dazu, dass sich die Fahrgastzahlen mehr als verdoppelten und auch beim Güterverkehr eine Verlagerung von der Straße auf die Schiene eintrat. Bemerkenswert sind spätere Folgewirkungen des Bahn-Entwicklung, zum Beispiel die Ausweisung eines neuen, bahnnahen Siedlungsgebietes im Osten von Weisenbach im Murgtal sowie die Fremdnutzung des Bahnhofsgebäudes in Bruchsal. Inzwischen ist die AVG nach der DB zweitgrößter Anbieter von Schienenverkehrsleistungen in Baden-Württemberg: Über 400 km werden von den markanten Zügen bedient. Bis in den mittleren Neckarraum reicht inzwischen die Stadtbahn mit dem Endpunkt Bietigheim-Bissingen. Auch in den Tälern des Nordschwarzwalds rollen bereits Stadtbahnen. Die Murgtalbahn von Rastatt nach Freudenstadt wurde ebenso von der AVG gepachtet wie die Enztalbahn von Pforzheim nach Bad Wildbad. Bei aller Expansion ins weitere Umland gerät jedoch die engere Region nicht in Vergessenheit. So sollen künftig Germersheim in der Pfalz elektrisch erreicht und die bisher in Blankenloch endende Stadtbahnlinie bis Spöck verlängert werden. Auch hier kehrt die Stadtbahn damit auf alte Trassen zurück, denn nach Spöck fuhr schon einmal die Karlsruher Lokalbahn ('Lobberle'), doch diese ist schon seit 1922 stillgelegt. Im Stadtgebiet von Karlsruhe sind die Verlängerungen Nordstadt begonnen und Südoststadt geplant. Ferner soll eine Querverbindung in Rintheim (auf dem Hirtenweg) die betriebliche Flexibilität des Netzes erhöhen.
Grenzen
Über weitere Rampen im Bereich von Karlsruhe Hbf wird diskutiert, nämlich - aus dem Stadtzentrum gesehen - in Richtung Muggensturm (- Rastatt) und in Richtung Durlach. Letztere könnte den Marktplatz entlasten, ohne die Fahrzeit zwischen Europaplatz und der östlichen Region zu erhöhen; dagegen sprechen allerdings die Überlastung des Europaplatzes sowie die Trassenpreise der Deutschen Bahn. Ebenso wie die Stärkung einer zweiten Nord-Süd-Achse (Karlstraße) im Karlsruher Zentrum scheitern die Verbindung zwischen Rheinstetten und Durmersheim sowie die Benutzung der stillgelegten und mittlerweile abgebauten Bahnstrecke, ehemals Baden-Oos - Baden-Baden, an lokalen Widerständen. Zwecks Beruhigung aller Beteiligten wurde Baden-Oos in "Baden-Baden" umbenannt. Auch im französischen Elsass sind noch technische und vor allem bürokratische Fragen zu lösen. Anders ist die Situation hingegen wie nachfolgend beschrieben in Saarbrücken. Betriebliche Grenzen bestehen natürlich auch an den Übergängen zu separat, u. U. sogar früher, eingerichteten S-Bahn-Netzen, z. B. Rhein-Neckar und Stuttgart (hier verkehrt Baureihe 423). Diese unterscheiden sich vom Karlsruher Netz teilweise auch in der Bahnsteighöhe über Schienenoberkante. Baureihe 425 ist bei der S-Bahn Rhein-Neckar im Einsatz, welche bis Karlsruhe auch die S3 stellt. In Ubstadt Ort (S31/S32) wird zeitweise geflügelt.
Auf dem Weg zum Exportschlager
Unter dem Eindruck des Karlsruher Erfolgs wuchs auch in anderen Städten das Interesse an diesem Modell. Vor allem kleinere Großstädte, die für ein eigenständiges Schnellbahnsystem zu klein sind, eignen sich für eine solche Stadtbahn. Dabei ist nicht einmal relevant, ob noch ein Straßenbahnbetrieb besteht. Die erste, nach Karlsruher Vorbild eingerichtete Stadtbahn entstand in Saarbrücken, wo bereits in den 1960er Jahren die letzte Straßenbahn gefahren war. Seit 1997 ist in der saarländischen Hauptstadt eine erste 19 km lange Linie der Saarbahn GmbH in Betrieb. Hier wurde die 5 km lange innerstädtische Neubaustrecke mit der DB-Linie ins französische Sarreguemines verknüpft. Die Chemnitzer Stadtbahn verfügt heute über eine 22 km lange Regionalbahnlinie, weitere drei sollen 2007 bis 2008 folgen. Auch in Bremen, Braunschweig, Kassel und Hanau gibt es entsprechende Pläne. Zwickau übernimmt die Idee ebenfalls, verzichtet aber auf nachträgliche Elektrifizierung und führt eine dieselbetriebene Regionalbahn in die Stadt (Dreischienengleis). Im Ausland finden sich vor allem in Frankreich Interessenten für Tram-Trains, wie die Stadtbahnen jenseits des Rheins genannt werden, beispielsweise in Straßburg.

Für eine Tochter im eigenen Einzugsbereich hat darüber hinaus die Karlsruher Stadtbahn selbst gesorgt: Im Sommer 2001 ging in Heilbronn ebenfalls eine Innenstadtstrecke in Betrieb. Somit kann man mit der S4 von Stadtmitte zu Stadtmitte fahren. Die Verbindung in die Heilbronner Innenstadt ist zugleich als Keimzelle für ein eigenes Netz im württembergischen Unterland geplant. Vom Bahnhof in die Innenstadt kann man ferner auch im pfälzischen Wörth mit der Stadtbahn fahren. Auch hier erhielt die bisher rund 1,5 Kilometer lange Innenstadtstrecke vom Bahnhof zum Rathaus eine Fortsetzung zum Badepark. Die dritte Ausfädelung einer Stadtbahnlinie im Umland bietet die Enztalbahn Pforzheim - Bad Wildbad, die durch die Innenstadt von Bad Wildbad bis zur Talstation der Sommerbergbahn verlängert wurde.