Tyburn



Tyburn war ein Dorf in der Grafschaft Middlesex, die heute ein Teil des Londoner Stadtbezirks City of Westminster bildet. Sein Name stammt vom Flüsschen Tyburn (oder auch Ty Bourne), einem Nebengewässer der Themse, das inzwischen von seiner Quelle bis zur Mündung bei Vauxhall vollständig in unterirdischen Kanälen verläuft.
Das Dorf war eines der beiden Güter der Gemeinde "St Marylebone", die selbst nach einem Wasserlauf benannt worden war: "St Mary's church by the bourne". Tyburn wurde bereits im "Domesday Book" verzeichnet und befand sich ungefähr in der Gegend des heutigen "Marble Arch" am westlichen Ende der Oxford Street an der Kreuzung zweier Römerstrassen. Die Vorläufer der Oxford Street und der Park Lane waren Strassen, die zum Dorf führten: Tyburn Road und Tyburn Lane.
Tyburn erlangte bereits in der Vorzeit durch ein Denkmal namens "Oswulfs Stein" eine gewisse Bedeutung. Dieser war namensgebend für die altenglische Verwaltungseinheit "Ossulston Hundred" von Middlesex. Der Stein wurde 1851 überbaut als man den "Marble Arch" dorthin versetzte. Kurze Zeit später grub man ihn jedoch wieder aus und stützte ihn gegen den Marmorbogen, bis er 1869 spurlos verschwand.
Das Dorf war jahrhundertelang als Londons wichtigster Galgenplatz für öffentliche Hinrichtungen berüchtigt. Die englische Gelehrtenzeitschrift "Notes & Queries" berichtete am 19. Januar 1850, dass sich die Tyburn-Galgen am Connaught Square No. 49 befunden hätte (siehe [1]). Vom 12. Jahrhundert bis 1783 fanden dort Hinrichtungen statt, danach wurden sie zunächst auf den öffentlichen Platz vor das Newgate-Gefängnis verlagert und erst ab 1868 innerhalb des Newgate-Gefängnisses nicht-öffentlich durchgeführt.
Die erste Hinrichtung wurde im Jahre 1196 für einen Platz nahe des Flüsschens dokumentiert. 1571 wurde der "Tyburn Baum" in der Nähe des heutigen "Marble Arch" errichtet. Dieser "Dreifach-Baum" (engl. "Triple Tree") war eine neuartige Konstruktion aus Holzbalken, die ein grosses Dreieck bildeten. Daher wurde das Gerüst auch als "three legged mare" (dt. "dreibeinige Stute") oder "three legged stool" (dt. "dreibeiniger Schemel") bezeichnet. Es konnten gleichzeitig mehrere Verbrecher erhängt werden. Der "Tyburn Baum" stand in der Mitte des Straßendammes und stellte einen wichtigen Orientierungspunkt im Westen Londons sowie ein sehr offensichtliches Gesetzessymbol für Vorbeireisende dar. Gelegentlich wurden die Galgen für Massenhinrichtungen verwendet, so wie am 23. Juni 1649 als man 24 Gefangene, 23 Männer und eine Frau, die in 8 Pferdewagen herbeitransportiert wurden, gemeinsam erhängte. Nach den Hinrichtungen wurden die Leichen entweder in der Nähe verscharrt oder aber Anatomie-Ärzten für Obduktionen zur Verfügung gestellt.
Das erste Opfer des "Tyburn Baumes" war Dr. John Story, ein katholischer Agitator, der sich weigerte, Elisabeth I. anzuerkennen. Am 30. Januar 1661 wurde Tyburn zum Schauplatz einer makaberen Leichenschändung. Die monarchistische Restauration hatte nach einer kurzen Episode der englischen Republik (engl. "Commonwealth") im Jahre 1660 wieder den Stuart-König Karl II. an die Macht gebracht. An drei prominenten Vertretern der Republik wurde daraufhin das schauerliche Ritual einer "posthumen Hinrichtung" vollzogen: Oliver Cromwell (* 1599 - † 1658), Lordprotektor des Commonwealth von England, Schottland und Irland wurde aus seiner letzten Ruhestätte in der Westminster Abbey exhumiert, in Tyburn aufgehängt, sodann ertränkt und gevierteilt. Dasselbe Schicksal teilten die Leichen von John Bradshaw (* 1602 - † 1659), einem Richter der 1649 das Todesurteil über Karl I. gefällt hatte, sowie Henry Ireton (* 1611 - † 1651), einem erfolgreichen General der Parlaments-Armee während des Englischen Bürgerkrieges,.
Die Hinrichtungen waren stets beliebte öffentliche Spektakel, die Massen von Schaulustigen anzogen. Die einfallsreichen Dorfbewohner von Tyburn erichteten grosse Zuschauertribünen, deren Plätze sie an zahlendes Publikum vermieteten. Das Vergnügen mit dem gutem Überblick war jedoch nicht immer ganz ungefährlich. Gelegentlich brachen die Aussichtsplattformen zusammen und begruben hunderte Besucher unter ihren Trümmern. Die abschreckende Wirkung solcher Unfälle blieb aber gering und die Exekutionen wurden als willkommene Feiertagsunterhaltung betrachtet. Londoner Lehrlinge bekamen sogar einen Tag frei. William Hogarth, der grosse englische Graphiker und Karikaturist, warnte deshalb 1747 die Auszubildenden der Themsestadt in seinem satirischen Kupferstich "The Idle 'Prentice executed at Tyburn" (dt. "Der faule Lehrbub wird in Tyburn gerichtet") eindringlich vor allzu grosser Neugier.
Tyburn tauchte in vielen beschönigenden und spöttischen Redensarten auf, die sich auf die Todesstrafe bezogen. Wem kein guten Schicksal vorausgesagt wurde, der "machte eine Fahrt nach Tyburn" (engl. "to take a ride to Tyburn". Den "Tyburn-Hüpfer tanzte" (engl. "dancing the Tyburn jig"), wer bereits am Galgen baumelte. Als "Grundherr von Tyburn" (engl. "Lord of the Manor of Tyburn") bezeichnete man den öffentlich bestellten Henker. Verurteilte wurden im offenen Ochsenkarren vom Newgate-Gefängnis herbeitransportiert. Von ihnen wurde eine "gute Vorstellung" erwartet, worunter das zeitgenössische Publikum verstand, dass die "armen Seelen" in ihrer besten Kleidung und mit lässiger Haltung aus dem Leben schieden. In diesem Fall brüllten die Zuschauer beifällig "Gut Gestorben!" (engl. "good dying!"), doch Schwächeanfälle der Todeskandidaten wurden lauthals verhöhnt.
Letztmals kam der Tyburn-Galgen am 3. November 1783 zum Einsatz, als der Straßenräuber John Austin hingerichtet wurde. Heutzutage erinnern drei Messingtafeln, die im Dreieck im Pflaster an der Ecke Edgware Road und Bayswater Road eingelassen sind, an den Galgenplatz. Eine weitere Gedenkstätte bildet das "Tyburn Convent", ein katholisches Kloster, das der Erinnerung der während der Reformation hingerichteten Märtyrer gewidmet ist.
Literatur
- Benson, Captain: Tyburn Death Trip: The Lives, Crimes and Executions of the Most Notorious Highwaymen, Murderers and Thieves. - 624 S. - New York: Creation Books, 2004. - ISBN 184068075X
- Brooke, Alan: Tyburn : London's fatal tree / Alan Brooke & David Brandon. - IX, 246 S. - Stroud : Sutton, 2004. - ISBN 0750929715
- Rumbelow, Donald: The Triple Tree : Newgate, Tyburn and Old Bailey. - 223 S. - London : Harrap, 1982. - ISBN 0245538771
- Wheatley, Dennis: Shadow of Tyburn Tree. - 448 S. - London : Arrow Books, 1979. - ISBN 0099137704