Sozialdemokratische Zukunftsbilder

Sozialdemokratische Zukunftsbilder. Frei nach Bebel von 1891 ist ein Buch des freisinnigen Politikers und Publizisten Eugen Richter. Das Werk ist als fiktives Tagebuch eines begeisterten Sozialdemokraten angelegt, der nach dem Sieg der Revolution sein Leben und die Umgestaltung der Gesellschaft in persönlichen Erlebnissen beschreibt. Der Sozialismus entwickelt sich allerdings anders, als der Tagebuchschreiber erwartet hatte. So wird beispielsweise ein Heer von Spizeln aufgebaut, die Opposition drangsaliert, die mit dem Ruf "Wir sind das Volk!" demonstriert, oder an der Grenze der Schießbefehl eingeführt, um die Bürger an der Flucht in die noch freien Länder (USA, Großbritannien, Schweiz) zu hindern. Das Buch wird häufig als eine visionäre Vorwegnahme des realen Sozialismus bezeichnet.[1]
Vorgeschichte
Eugen Richter hatte die Sozialdemokratie seit ihren ersten Anfängen in den 1860er Jahren aus nächster Nähe beobachtet und kritisch begleitet, wobei er die Ähnlichkeit reaktionärer und sozialistischer Staatsgläubigkeit hervorhob. In seiner Reichstagsrede zur Ablehnung der ersten Version des Sozialistengesetzes vom 23. Mai 1878 erklärte er:[2]
„Der sozialistische Staat hat die Vernichtung der persönlichen und politischen Freiheit zur Vorbedingung. (Widerspruch bei den Sozialisten.) — Jawohl! Krasser Despotismus einer Majorität oder einzelner weniger Leute, die dem Einzelnen vorschreibt, was er zu arbeiten hat, was er dafür für einen Lohn empfängt und was er dafür zu konsumiren hat; das ist der sozialistische Staat. (Widerspruch.) Es ist ja alles, was die Sozialisten wollen, gedruckt zu lesen; über ihre Tendenz ist ja nur die Polizei im Unklaren. (Große Heiterkeit.)“
Die Mentalität der Sozialisten sei auf die Denkgewohnheiten des Obrigkeitsstaates zurückzuführen:
„Meine Herren, der Herr Abgeordnete Jörg hat die sozialistische Bewegung bezeichnet als einen Schatten, der das moderne Kulturleben begleitet. Ich weise das zurück. Meine Herren, das ist der Schatten des untergehenden Polizeistaats, der noch in unser Kulturleben hineinfällt; der Polizeistaat hat die Menschen erzogen in dem Wahn, daß es nur auf den Staat und die Staatsgewalt ankomme, um die größte Glückseligkeit auf der Welt hervorzubringen. Daher ist in den Köpfen jener Leute die Meinung entstanden, daß es nur darauf ankomme, des Staatsruders sich zu bemächtigen, seine Leute in die Leitung des Staates einzusetzen, und jene geträumte Glückseligkeit sei sofort zu erreichen, die angeblich jetzt aus bösem Willen von denen, die den Staat leiten, ihnen vorenthalten wird.“
Aus einer solchen Sicht schöpfte Eugen Richter die Inspiration, daß der Sozialismus an der Macht sich ähnlich wie der preußische Polizeistaat verhalten würde, den er und seine Parteigenossen unmittelbar erlebt hatten, mit Bevormundung, Bespitzelung und kleinlichen Schikanen gegen jede Opposition.
Unter dem Sozialistengesetz ab 1878 konnten sich die Sozialdemokraten einer Kritik ihrer Lehren mit dem Hinweis entziehen, sie könnten nicht frei ihre Ansichten vertreten. Als das Gesetz dann 1890 auslief, prahlten sie, dass es keine Kritik gebe. Eugen Richter veröffentlichte daraufhin in der von ihm redigierten Freisinnigen Zeitung eine Serie von Artikeln, in denen er die wesentlichen Punkte der sozialistischen Ideologie einer Kritik unterzog. Als diese Artikel Anklang fanden,[3]
„... wurde dem Verfasser eine Flut von Schimpfworten in dem anerkannten Hauptorgan der sozialdemokratischen Partei, im "Berliner Volksblatt", und anderen sozialdemokratischen Blättern zu teil. "Narren", "krasse Ignoranten", "dogmatische Dickköpfe", "Idioten", "Petrefakten", "Museum der Antiquitäten", "Altweibermärchen", "böhmische Dörfer", "hinter's Ohr schreiben", "Falstaff", "phrasengeschwollener Molch", waren die Ausdrücke, in denen die sozialdemokratische Presse ihrer Wut und ihrem Aerger über die Ausführungen Ausdruck gab.“
Eugen Richter brachte daraufhin seine Artikel im November 1890 in überarbeiteter Form als "Die Irrlehren der Sozialdemokratie" heraus, die rasch eine Auflage von über 60.000 Exemplaren erreichten. Wie er spöttisch bemerkte:[4]
„Alles dies verstärkt nur den Eindruck, einer jammervollen Hilflosigkeit der Sozialdemokratie, sobald sie sich einer Kritik ihres eigentlichen Programms gegenüber befindet. Gern ist deshalb dem mehrfach geäußerten Wunsch entsprochen worden, eine Kritik der sozialdemokratischen Irrlehren auch in Form einer Broschüre wie der vorliegenden zu verbreiten.“
In den "Irrlehren der Sozialdemokratie" stützte sich Eugen Richter auf das offizielle Programm der sozialdemokratischen Partei sowie verschiedene Reden und Äußerungen führender Sozialdemokraten. Insbesondere orientierte er sich an den Ausführungen August Bebels in seinem erstmals 1883 in Zürich erschienenen Buch "Die Frau in der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft" und in dessen Broschüre "Unsere Ziele" von 1877. Ergänzend nutzte er den utopischen Roman "Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887" des amerikanischen "Nationalisten" Edward Bellamy, der zwar selbst kein Sozialdemokrat, doch stark von diesen beeinflußt war und in seinem Werk eine zukünftige sozialistische Gesellschaft auszumalen suchte.
Im folgenden Jahr brachte Eugen Richter seine Thesen dann in den "Sozialdemokratischen Zukunftsbildern" in die Form eines dystopischen Tagebuchromans.
Ausgaben
Die "Sozialdemokratischen Zukunftsbilder" erschienen im November 1891 im Verlag "Fortschritt, Aktiengesellschaft". Sie gingen durch zahlreiche Auflagen und erreichten eine Verbreitung von über 250.000 Exemplaren. Schon im selben Jahr erschien eine dänische Übersetzung, im folgenden Jahr Übersetzungen in die tschechische, schwedische, polnische, niederländische und französische Sprache. Es folgten weitere Übersetzungen in das Rumänische, Spanische, Ungarische, Polnische, Finnische, Italienische, Englische und Japanische. Zudem wurde das Buch bis in jüngste Zeit immer wieder neu herausgegeben.
Inhalt
Beschrieben werden ein Zerfall der Arbeitsdisziplin, Verknappung und Rationierung der Grundnahrungsmittel, Kapitalverzehr sowie Schäbigkeit und Monotonie des Alltagslebens. Auch schildert Richter wachsenden Terror und den Verlust geistiger Freiheit sowie Zerfall der sozialen Beziehungen.
Kritik
Von Seiten der Sozialdemokraten suchte man die große Auflage der "Sozialdemokratischen Zukunftsbilder" damit zu erklären, dass Arbeitgeber massenhaft Exemplare aufgekauft und an ihre Belegschaften verteilt hätten. Allerdings wurden nur Einzelfälle angeführt und nicht belegt, daß dies einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung leistete. Das hätte auch im Widerspruch zu der Ansicht Eugen Richters gestanden, daß politische Auseinandersetzungen nicht im Arbeitsleben ausgetragen werden und Arbeitgeber ihre Stellung nicht zur politischen Beeinflussung nutzen sollten, wie er beispielsweise am 25. Januar 1882 im Reichstag ausführte, als er die Sozialdemokraten bei der Anfechtung einer Wahl in Breslau unterstützte, bei der Arbeitgeber ihre Arbeiter zur Wahl konservativer Kandidaten genötigt hatten.
Von antikapitalischer Seite erschienen Gegenschriften. August Bebel veröffentlichte das Buch "Eugen Richters Sozialdemokratische Zerrbilder, beleuchtet von B. August" (Verlag von E. Thiele, Leipzig 1891) und der sozialdemokratische Parteihistoriker Franz Mehring "Herrn Eugen Richters Bilder aus der Gegenwart: eine Entgegnung" (Worlein & Comp., Nürnberg 1892). Der Antisemit Max Bewer brachte seinerseits die "Freisinnigen Zukunftsbilder" (Verlag der Druckerei Glöß, Dresden 1893) heraus.
Einzelnachweise
- ↑ So beispielsweise: Visionär des realen Sozialismus, Weltwoche, 2009, oder Prophet und Richter, Titanic, November 2009.
- ↑ Stenographische Berichte des Deutschen Reichstags, 3. Legislaturperiode, 1878,2, 54. Sitzung, S. 1515–1523. [1], [2]
- ↑ Eugen Richter: Die Irrlehren der Sozialdemokratie. Verlag der "Fortschritt, Aktiengesellschaft", Berlin 1891, Seite 9-10. (Wiederveröffentlicht nach der Auflage von 1893 von EOD Network, 2011, ISBN 3226001558.)
- ↑ Eugen Richter: Die Irrlehren der Sozialdemokratie. Verlag der "Fortschritt, Aktiengesellschaft", Berlin 1891, Seite 10. (Wiederveröffentlicht nach der Auflage von 1893 von EOD Network, 2011, ISBN 3226001558.)
Siehe auch
Weblinks
- Sozialdemokratische Zukunftsbilder Eugen Richter 1891, ISBN 3939562009
- Sozialdemokratische Zukunftsbilder Online als Text
- Sozialdemokratische Zukunftsbilder Online als Scans
- Socialistic Pictures of the Future Online-Ausgabe der englischen Übersetzung als Text mit biographischen Angaben von David M. Hart
- Socialistic Pictures of the Future Online-Ausgabe der englischen Übersetzung als Scans der Ausgaben von 1907 und 1912
- Où Mène le Socialisme Online-Ausgabe der französischen Übersetzung als Scans der Ausgabe von 1894
- Imagenes de un Futuro Socialista Online-Ausgabe der spanischen Übersetzung
- Diario de un operario socialista o el Socialismo y sus resultados prácticos, Barcelona, 1898 Online-Ausgabe der spanischen Übersetzung
- Социал-демократические картинки будущего по Бебелю: Izd. A.S. Suvorina, Moskau, 1906 Online-Ausgabe der russischen Übersetzung
- Obrazki socjalistycznej przyszłości: według Bebla, Perzyński, Niklewicz i Ska. Warschau, 1921 Online-Ausgabe der polnischen Übersetzung
- 社会主義が実行されたなら: 小說 / Shakai shugi ga jikkōsareta nara: Shōsetsu, オイゲネー・リヒテル著 ; 勝屋錦村訳 勝屋, 錦村 (Übersetzung von Kinson Katsuya), 天書閣, Tenshokaku, Tokyo, 1910 Online-Ausgabe der japanischen Übersetzung
Druckausgaben
- Sozialdemokratische Zukunftsbilder - frei nach Bebel. Verlag "Fortschritt, Aktiengesellschaft", Berlin 1891.
- En socialdemokratisk Fremtidsstat: Efter 'Socialdemokratische Zukunftsbilder'. Hjørring 1891. (Dänisch)
- V budoucím sociálně-demokratickém státě: satira Eugena Richtra. Národní tiskárna a nakladatelstvo, Prag 1892 (Tschechisch)
- Socialdemokratiska framtidsbilder: fritt efter Bebel. Norstedt & Söner, Stockholm 1892. (Schwedisch)
- Wizerunki przyszłości socyalistycznej: (podług zasad Bebla). Nakł. Księg. J.K. Żupańskiego, Posen 1892. (Polnisch)
- Tafereelen uit de sociaal-democratische toekomst: vrij naar Eugen Richter's "Sozialdemokratische zukunftsbilder" met een naschrift. H. L. Smits, 's-Gravenhage 1892. (Übersetzung ins Niederländische: Willem Frederik Rochussen)
- En socialdemokratisk Fremtidsstat. Aarhus, 1892 (Übersetzung ins Dänische: R. P. Rossen)
- Socialdemokratiske Fremtidsbilleder. Frit efter Bebel. Overs. Føljeton til Sorø Amtstidende, Slagelse 1892. (Übersetzung ins Dänische: Martha Ottosen)
- Où mène le socialisme? Journal d'un ouvrier. Édition française, d'après le 225e mille de l'original, par P. Villard, avec une préface de Paul Leroy-Beaulieu. H. Le Soudier, Paris 1892. ((Übersetzung ins Französische: Pierre Villard)
- Unde duce socialismul: jurnalul unui lucrator. Librariei Socecū, Bukarest 1895. (Rumänisch)
- Adonde conduce el socialismo: diario de un obrero. San Francisco de Sales, Madrid 1896. (Übersetzung ins Spanische von Manuel Mariátegui y Vinyals San Bernardo, Conde de)
- Diario de un operario socialista o el Socialismo y sus resultados prácticos. Barcelona 1898. (Spanisch)
- Szocziálista világ; megálmodott történet, Richter munkája után. Franklin-Társulat, Budapest 1900. (Ungarisch)
- Adonde conduce el socialismo: diario de un obrero. Antonio Gascón, Madrid 1896. (Übersetzung ins Spanische von Manuel Mariátegui y Vinyals San Bernardo, Conde de)
- Социал-демократические картинки будущего по Бебелю. Izd. A.S. Suvorina, Moskau 1906. (Russisch)
- Obrazki socyalistycznej przyszłości: według Bebla. Nakł. Słowa Polskiego, Lwów 1907. (Polnisch)
- Socialdemokratiska framtidsbilder : efter svenska förhållanden lämpad af S. Å. Norstedt, Stockholm 1907. (Schwedisch)
- När socialismen segrat: Eugen Richters "Socialdemokratiska framtidsbilder. Fritt efter Bebel. Åbo 1907. (Übersetzung ins Schwedische: Ernst von Wendt)
- Elämä sosialistivaltiossa: vapaasti Bebelin mukaan- Turun kirjapaino- ja sanomalehti, Turku 1908. (Finnisch)
- Dopo la vittoria del socialismo. Unica traduzione autorizzata, sulla 225. ed., illustrata. F. Treves, Mailand 1909. (Italienisch)
- 社会主義が実行されたなら: 小說 Shakai shugi ga jikkōsareta nara: Shōsetsu オイゲネー・リヒテル著 ; 勝屋錦村訳 勝屋, 錦村, 天書閣, Tenshokaku, Tokyo 1910. (Übersetzung ins Japanische von Kinson Katsuya)
- Socialdemokratiska framtidsbilder: Efter nutida svenska förhållanden bearb. övers. från tyskan. Stockholm 1918. (Schwedisch)
- A kommunizmus bukása. Helios könyvkiadóvállálat, Budapest 1919. (Ungarisch)
- Obrazki socjalistycznej przyszłości: według Bebla. Perzyński, Niklewicz i Ska., Warschau 1921. (Polnisch)
- 社会主義審判 Shakai shugi shinpan オイゲネ・リヒテル原著; 荒川賢[訳]. 荒川賢 協調会事務所, Kyōchōkaijimusho, Tokyo 1921. (Übersetzung ins Japanische von Ken Arakawa)
- Sosialidemokraattisia tulevaisuudenkuvia: vapaasti Bebelin mukaan. Mattila & Kumpp, Helsinki 1924. (Finnisch)
- Dopo la vittoria del socialismo. Libreria Frattina Editrice, Rom 196?. (Italienisch)
- Le gioie del socialismo. Prefazione di Mario Missiroli. Pan, Mailand 1974. (Italienisch)
Rezensionen
- Visionär des realen Sozialismus, Weltwoche, 2009
- Prophet und Richter, Titanic, November 2009