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Galgenlieder

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So etwa sah das Hufeisen aus. Diese Rekonstruktion besteht aus einer original Galgenlieder-Seite und einem ersetzten Hufeisen.

Galgenlieder ist ein erstmals im März 1905 im Verlag Bruno Cassirer (Berlin) erschienener Gedichtband von Christian Morgenstern, der seit 1895 daran gearbeitet hatte.

Inhalt

Fisches Nachtgesang

Unter dem Motto „Im ächten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen.“ – einem Nietzsche-Zitat[1] – schrieb Morgenstern eine Reihe von formal und inhaltlich kindlich anmutenden, sprachspielerischen Gedichten, die auf große Begeisterung bei Hörern und Lesern stießen, von der Litereraturkritik aber lange Zeit aufgrund ihres kindlichen Gestus übergangen oder unterschätzt wurden.

Bald schon entfernte sich Morgenstern in den Galgenliedern vom ursprünglichen Thema des Galgens und erweiterte diese um sprachspielerische, oft Dinge verlebendigende, grotesk anmutende Gedichte, die erstmals in der Sammlung Der Gingganz veröffentlicht wurden. Diese Galgenlieder geben sich bewusst harmlos, sind dabei aber, von der Forschung oft übersehen, interpretatorisch von doppelbödiger Natur, bedürfen „eines zweiten und dritten Blicks“[2]. Die in der Forschung wiederholt als literarischer Nonsens verkannten Humoresken sind nicht bloße Spielerei, sondern, mit den Worten des Dichters gesprochen, „Spiel - und Ernst=Zeug“[3]. So besteht etwa Das große Lalulā aus vordergründig sinnlosen, dabei aber lyrisch-formal konsequent geordneten Silbenketten: Wie in so vielen Galgenliedern überhaupt wird hier „vor allen Experimenten der [literarischen] Avantgarde die Sprache selbst zum Anliegen der Dichtung“[4]. Die komplette Auflösung unserer Sprache treibt Morgenstern schließlich in Fisches Nachtgesang, das nur noch aus Längen- und Kürzezeichen besteht, als einem „wortwörtlich stumme[n] Protest gegen sprachliche Konvention und geistige Unbeweglichkeit“[5] auf die Spitze. Im Gedicht Der Lattenzaun wird die Vorstellungskraft des Lesers bis an die Grenzen herausgefordert und ein Haus allein gebaut aus dem einem Zaun entnommenen „Zwischenraum“. Das im Gedicht Das Nasobēm beschriebene, „[a]uf seinen Nasen“ schreitende Sprachgeschöpf wurde zu einem bekannten Scherz in der Wissenschaft.

Geschichte

Die Galgenlieder wurden zunächst 1895 im kleinen Kreis von acht Freunden, dem Bund der „Galgenbrüder“, bei Ausflügen zum Galgenberg in Werder (Havel) bei Potsdam im privaten Kreis vorgetragen. Wichtige Utensilien waren dabei in ein Hufeisen und zwischen Metallplatten in Form eines Henkersbeils gebundene Manuskripte (die skurrilen Exponate befinden sich heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach bzw. im Archiv des Verlages Urachhaus). Man traf sich in Kneipen, zelebrierte auf ironische Weise schön-schaurige Rituale (Durchschneiden des 'Lebensfadens', Henken und Köpfen kleiner Puppen) und sang, auch zum Klavier, Morgensterns dazu verfasste Texte: die Galgen-Lieder. Bei diesen Treffen redeten sich die „Galgenbrüder“ mit Pseudonymen wie "Gurgeljochen", "Verreckerle" und "Raabenaas" an; die tatsächlichen Namen waren Georg und Julius Hirschfeld, Fritz Beblo, Franz Schäfer, Paul Körner, Robert Wernicke, Friedrich Kayßler und Christian Morgenstern selbst. Zunächst hatte der Dichter die Manuskripte nicht für die Veröffentlichung vorgesehen. Bei Lesungen im Berliner Kabarett Überbrettl waren die Texte jedoch so erfolgreich, dass er sie zum Druck frei gab. Die Galgenlieder erschienen 1905 in Buchform und begründeten den literarischen Ruhm Morgensterns.

Morgenstern ließ den imaginären Privatgelehrten Jeremias Müller und dessen Ehefrau Gundula (ursprünglich: Erica) eine umfangreiche Einleitung und augenscheinlich völlig abwegige Interpretationen zu den Gedichten schreiben, die den komischen Effekt zusätzlich verstärkten. Dass, wie bei einem Großteil der humoristischen Dichtung Morgensterns, der komische Effekt ein oft nur vordergründiger war, zeigt Muellers alias Morgensterns Interpretation zu Fisches Nachtgesang, den er lapidar als „das tiefste deutsche Gedicht“ bezeichnet; berücksichtigt man allerdings die Fischform des Gedichts und die Abwesenheit konventioneller Sprache, sozusagen das Gedicht gewordene Verstummen, gewinnt der Nachtgesang des Fisches tatsächlich eine solche 'Tiefe'. Seine „kritischen Anmerkungen“ schickte Morgenstern 1908 mit einem Begleitbrief an seinen Verleger; der nahm sie aber in keine der folgenden Auflagen auf. Sie wurden postum 1921 in einem eigenen Bändchen unter dem Titel Über die Galgenlieder veröffentlicht.

Resonanz

Die Trichter

Die Galgenlieder sind der wohl bekannteste Teil von Christian Morgensterns Werk und haben, wenn auch von der Literaturkritik weitgehend unbeachtet geblieben, auch außerhalb des deutschsprachigen Raumes begeisterte Leser gefunden. Viele der ursprünglich als Liedtexte vorgesehenen Gedichte wurden zum Teil mehrfach vertont und illustriert.

Das Nasobēm begründete einen wissenschaftlichen Witz, der noch heute ausgebaut wird, und verfügt über mehrere, zum Teil illustrierte fingierte Lexikonartikel.

Das Gedicht Die Trichter wurde als Beispiel für ein Figurengedicht in die Brockhaus Enzyklopädie aufgenommen.

Das Gedicht Der Werwolf fand Eingang in zahlreiche Schulbücher zum Deutschunterricht.

Der Rabe Ralf stand Pate für Künstlernamen und Zeitungstitel.

Beispiel

Die Hystrix[6]
Das hinterindische Stachelschwein
(hystrix grotei Gray),
das hinterindische Stachelschwein
aus Siam, das tut weh.
Entdeckst du wo im Walde drauß
bei Siam seine Spur,
dann tritt es manchmal, sagt man, aus
den Schranken der Natur.
Dann gibt sein Zorn ihm so Gewalt,
daß, eh du dich versiehst,
es seine Stacheln jung und alt
auf deinen Leib verschießt.
Von oben bis hinab sodann
stehst du gespickt am Baum,
ein heiliger Sebastian,
und traust den Augen kaum.
Die Hystrix aber geht hinweg,
an Leib und Seele wüst.
Sie sitzt im Dschungel im Versteck
und büßt.

Buchausgaben

Erstausgabe

Erweiterte Ausgaben

  • Chritian Morgenstern: Galgenlieder. 3., erweiterte Auflage. Cassirer, Berlin 1908.
  • Chritian Morgenstern: Galgenlieder. Nebst dem "Gingganz", vom Christian Morgenstern durchgesehene Neuausgabe. Cassirer, Berlin 1913.
  • Chritian Morgenstern: Alle Galgenlieder. Durch 14 Gedichte aus dem Nachlaß erweitert. Hrsg.: Margareta Morgenstern. Cassirer, Berlin 1932 (Neben den Galgenliedern noch durch die Sammlungen: „Palmström“ (1910), „Palma Kunkel“ (1916) und „Der Gingganz“ (1919) ergänzt).
  • 1940 wurde der Band Alle Galgenlieder in derselben Zusammenstellung durch den Insel-Verlag zu Leipzig veröffentlicht. Das Buch enthält einen vom Dichter selbst unter dem falschem Namen „Dr. Gundula Mueller“ verfassten, ironischen „Versuch einer Einleitung zur dritten beziehungsweise ersten Auflage“ mit der Datumsangabe „Im Schaltmonat A.D. MDCCCCCVIII“.

Textkritische Ausgabe

  • Christian Morgenstern: Humoristische Lyrik. Kommentierte Ausgabe. In: Maurice Cureau (Hrsg.): Werke und Briefe. Band 3. Urachhaus, Stuttgart 1990, ISBN 978-3-87838-503-5.

Aktuelle Ausgaben (Auswahl)

Einzelausgabe
Erweiterte Ausgaben
  • Galgenlieder, Gingganz und Horatius Travestitus (= Sämtliche Dichtungen, Band 6), hg. u. mit einem Nachwort v. Heinrich O. Proskauer, Zbinden, Basel 1972, ISBN 978-3-85989-155-5
  • Alle Galgenlieder, Insel (= IT 6), Frankfurt 1972, ISBN 978-3-458-31706-7
  • Galgenlieder. Palmström. Palma Kunkel. Der Gingganz, Reclam (= RUB 9879), Stuttgart 1978, ISBN 978-3-15-009879-0
  • Alle Galgenlieder (Fotomechanischer Nachdruck von Berlin 1932), Diogenes (= detebe 20400), Zürich 1981, ISBN 978-3-257-20400-1
  • Sämtliche Galgenlieder. Mit einem Nachwort von Leonard Forster und einer editorischen Notiz von Jens Jessen, Manesse, Zürich 1985, ISBN 978-3-7175-1696-5
  • Alle Galgenlieder, Nachwort von Jürgen Walter, Reclam, Stuttgart 1989, ISBN 978-3-15-050354-6
  • Galgenlieder, hg. v. Joseph Kiermeier-Debre, Deutscher Taschenbuch-Verlag (dtv Bibliothek der Erstausgaben), München 1998, ISBN 978-3-423-02639-0

Übertragungen in andere Sprachen

  • Das Mondschaf – The Moon Sheep. Eine Auswahl aus den Galgenliedern. Authorized English Version by A.E.W. Eitzen, Insel (Insel-Bücherei, Band 696), Wiesbaden 1953
  • Gallows Songs. Translated by W.D. Snodgrass and Lore Segal, Michigan Press, Ann Arbor 1967
  • Galgenlieder und andere Gedichte. Gallows Songs and other Poems, ausgewählt und ins Englische übertragen von Max Knight, Piper, München 1972
  • Songs from the Gallows: Galgenlieder. Translated by Walter Arndt, Yale University Press, New Haven 1993
  • Christian Morgenstern sechssprachig. Dreißig heitere Gedichte mit Übertragungen ins Englische, Französische, Hebräische, Italienische und Spanische. Mit 30 Grafiken von Igael Tumarkin. Hg. v. Niels Hansen, Urachhaus, Stuttgart 2004, ISBN 978-3-8251-7476-7

Schallplatten, Hörbücher

Literatur

  • Morgenstern, Christian: Über die Galgenlieder. Cassirer, Berlin 1921
  • Morgenstern, Christian: Das aufgeklärte Mondschaf. Achtundzwanzig Galgenlieder und ihre gemeinverständliche Deutung durch Jeremias Mueller, Dr. phil.. Aus dem Nachlass herausgegeben von Margareta Morgenstern. Insel-Verlag, Leipzig 1941
  • Wilson, Anthony T.: Über die Galgenlieder Christian Morgensterns, Königshausen und Neumann (= Epistemata – Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft, Band 448), 2003, ISBN 978-3-8260-2490-0

Einzelnachweise

  1. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, Erster Teil, Von alten und jungen Weiblein
  2. Anthony T. Wilson: Über die Galgenlieder Christian Morgensterns, Königshausen und Neumann (= Epistemata – Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft, Band 448), 2003, S. 38.
  3. So Christian Morgenstern zur 15. Auflage der Galgenlieder. Zit. in: Anthony T. Wilson: Über die Galgenlieder Christian Morgensterns, Königshausen und Neumann (= Epistemata – Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft, Band 448), 2003, S. 38.
  4. Anthony T. Wilson: Über die Galgenlieder Christian Morgensterns, Königshausen und Neumann (= Epistemata – Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft, Band 448), 2003, S. 204.
  5. Anthony T. Wilson: Über die Galgenlieder Christian Morgensterns, Königshausen und Neumann (= Epistemata – Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft, Band 448), 2003, S. 261.
  6. John Edward Gray: On the Species of Porcupines in the Gardens of the Society and in the British Museum, Proceedings of the scientific meetings of the Zoological Society of London, 1866, S. 306-311 (englisch; bei Google Books: [1])