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Tibetische Medizin

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Die Tibetische Medizin (tibetisch: bod sman) ist ein in Tibet entwickeltes Heilsystem, das vorwiegend in den Ländern und Regionen des Hochlands von Tibet verbreitet ist. Über ihren Ursprung gibt es verschiedene Legenden.[1]

Als Basistexte der tibetischen Medizin gelten das „Gyüshi“ (tibetisch: rgyud bzhi; „Vier Tantras“) von Yuthok Yönten Gönpo (dem Älteren) (tibetisch: g.yu thog (rnying ma) yon tan mgon po; 708–833) und das „Yuthok Nyingthig“ (tib.: g.yu thog snying thig; „Herzessenz von Yuthok“) von Yuthok Yönten Gönpo (dem Jüngeren) (tibetisch: g.yu thog (gsar ma) yon tan mgon po; 1126–1202). Im 17. Jahrhundert wurden Texte des „Gyüshi“ unter dem Titel „Der blaue Beryl“ erstmals zu Ausbildungszwecken illustriert und von Desi Sanggye Gyatsho kommentiert.[2]

Geschichte

Es gab im tibetischen Kulturraum schon 1000 v. u. Z. eine auf dem Bön aufbauende alte schamanische Tradition und eine magisch-medizinische Arzneimittelkunde. Tibetische Heilpflanzen hatten im antiken China den Ruf einer hervorragenden Qualität und werden bereits in frühen pharmakologischen Texten erwähnt. Ab dem 7. Jahrhundert bestand in Tibet ein reger Austausch mit den Nachbarkulturen in China im Osten, Indien und Nepal im Süden, den Oasenstädten Zentralasiens, den Regionen der Hochebene und Persien im Westen. Mit dem Buddhismus kamen die wesentlichen Schriften aus Indien nach Tibet, darunter auch medizinische Werke. Insobesondere die Grundwerke der Tibetischen Medizin, die vier medizinischen Tantras (Gyud-bzhi), gelangten aus Indien nach Tibet. Als Begründer der Tibetischen Medizin gilt Yuthog Yontan Gonpo, der das Standardwerk, die Vier Wurzeln, im 12. Jahrhundert geschrieben und darin verschiedene fremde Einflüsse vereinigt hat.

Die Vier Wurzeln sind noch heute das wichtigste Lehrmittel der Tibetischen Medizin. In der sehr wechselhaften Geschichte zwischen Tibet und China wurde die Tibetische Medizin auch stark durch die traditionelle Chinesische Medizin (TCM) beeinflusst. Besonders die Pulsdiagnose beruht auf Einflüssen aus der TCM. Trotzdem sind die beiden Medizinsysteme grundsätzlich verschieden: Während die geistesgeschichtlichen Grundlagen der Chinesischen Medizin im Daoismus und im Konfuzianismus liegen, basiert die Philosophie der Tibetischen Medizin auf dem aus Indien stammenden Buddhismus. Die medizinischen Grundlagen stammen aus der vedischen Medizin, die in Tibet eine eigene Ausprägung erlangt hat, sowie Einflüssen aus dem Mittelmeerraum ("galenische Medizin") und der weiter oben erwähnten Traditionellen Chinesischen Medizin sowie der Grundlage des Bön-Schamanismus. Die Harndiagnose ist eine der Tibeitschen Medizin eigene Diagnoseform die erst später vom indischen Ayurveda integriert wurde. Auch die in den Medizinthangkas (medizinische Rollbilder) dargestellten wöchentlichen Entwicklungsschritte des Fötus bzw. Embryos sind spezifisch tibetischer Natur. Die Tibeische Medizin weist zudem eigenständige Klassifikationen der Erkrankungen sowie hiermit einhergehend auch eigenständige Behandlungsstrategien bzw. Rezepturen auf.

Grundlagen der Tibetischen Medizin

Die Tibetische Medizin beruht auf der vedischen Medizin, dem überlieferten Medizinsystem Indiens. Dieses System hat sich später in Indien zur ayurvedischen Medizin weiter entwickelt. In der Lebenszeit Shakyamuni Buddhas hat sich das vedische Medizinsystem zum buddhistischen Medizinsystem weiter entwickelt. Zusammen mit dem Buddhismus kam auch die buddhistische Medizin nach Tibet.

Elemente

Grundbestandteil allen Seins sind die fünf Elemente Raum, Luft, Feuer, Wasser und Erde. Dies entspricht der kosmologischen Entstehung des Universums in der Sichtweise des tibetischen Buddhismus. Alles im Universum besteht aus einem individuellen Verhältnis dieser fünf Elemente. Wichtig ist das harmonische Fließ-Gleichgewicht der individuellen Elementemischung, d.h. das offene System Mensch muß auf innere und äußere Reize reagieren können. Störungen können durch äußere Bedingungen (planetare Konstellationen, geomantische Störungen, falsche Lebensmittel, Bedingungen des Lebensraums etc.) sowie durch innere Bedingungen (emotionale und seelische Faktoren) hervorgerufen werden. Diese Störungen können durch die Ernährungs- und Verhaltensweisen sowie durch therapeutische Verfahren (innere und äußere) wieder ausgeglichen werden.

nye pa

Die Grundeigenschaften des Körpers werden als nye pa definiert, wörtlich Fehler oder Makel. Ein nye pa ist jeder Fehler oder Irrtum, jeder Verstoss gegen den Lebensrhythmus, der Chaos verursacht. Befänden sich diese nicht im Zustand der Norm, zerstörten sie den Körper; wenn sie zusammen in Harmonie arbeiteten, dann sei der Mensch gesund. Wenn sich diese Körperprinzipien in einem Zustand des Mangels oder des Überschusses befänden, störten sie sich gegenseitig, was zur Entstehung von Krankheiten führe. Jede der "Körperenergien" trete in fünf verschiedenen Formen mit unterschiedlichen Funktionen und Lokalisationen auf. Es gebe ein differenziertes System von Körperkanälen, in denen verschiedene Formen von "Energien" und Flüssigkeiten transportiert würden. Aus diesen Annahmen ergibt sich in der Tibetischen Medizin ein komplexes System mit einer spezifischen Diagnostik.

Die drei nye pa sind aktive Verdichtungen der fünf großen Elemente. Lung entsteht aus Luft und Raum, Tripa aus Feuer, Peken aus Wasser und Erde. Ihre Aufgabe besteht darin, diese Elemente im Mikrokosmos des Körpers zu beeinflussen. Die Übersetzung der Begriffe würde am ehesten "Wind" für "Lung", "Galle" für "Tripa" und "Schleim" für "Peken" lauten.

  • rlung, Sanskrit vayu, vatta (Wind) – die Energie der Bewegung: rlung steht für das bewegliche Element im Körper und im Geist; rlung sei an allen physiologischen Prozessen beteiligt, die ihrem Wesen nach dynamisch sind, und ist die treibende Kraft hinter den vegetativen Funktionen Atmung, Herztätigkeit und Peristaltitk; rlung steht aber auch für die Sinneswahrnehmungen und die psychischen Aktivität. In der Praxis werden fünf Unterarten von Lung unterschieden die wiederum verschiedenen körperlichen Funktionen zugeordnet werden.
  • mkhrispa, tripa, Sanskrit pitta (Galle) – das Feuer des Lebens: mkhrispa, tripa steht für die unterschiedlichen Arten von Wärme im Körper, ist am Prozess des Metabolismus beteiligt, besonders an der Verdauung, die mit dem Kochen der Nahrung verglichen wird. In der Praxis werden fünf Unterarten von Tripa unterschieden die wiederum verschiedenen körperlichen Funktionen zugeordnet werden.
  • peken, Sanskrit Kapha (Schleim) – das flüssige Element: Peken steht für alle Faktoren des Flüssigen im Körper, es erfüllt u.a. Funktionen mechanischer Natur: Kohäsion, Stützung, Schmierung usw.; in der Praxis werden ebenfalls fünf Arten von Peken unterschieden welche wiederum verschiedenen körperlichen Funktionen zugeordnet werden. In vielen deutschen Übersetzungen finden sich für Peken die Bezeichnung badkan; dies wurde aus englischen Übersetzungen des tibetischen Originalwortes übernommen und ist falsch.

Die Krankheitslehre

In den vier Hauptwerken der Tibetischen Medizin ist von 84'000 Störungen (eine andere Tradition spricht von 72.000 Störungen) die Rede, die in 404 Krankheiten eingeteilt werden. Davon wiederum seien 101 Krankheiten karmisch bedingt und endeten, wenn unbehandelt, mit dem Tod. 101 Krankheiten stammten aus dem jetzigen Leben und könnten grundsätzlich mit Arzneien geheilt werden. 101 Krankheiten würden durch Geister bzw. Dämonen verursacht.

101 Krankheiten sind oberflächlicher Natur. Das heißt, sie können durch richtige Ernährung und richtiges Verhalten geheilt werden. Die buddhistischen „Drei Geistesgifte“ werden den nye pa zugeordnet. Die drei Gifte führten zu einem gestörten Gleichgewicht der drei nye pa. Nach tibetischem Verständnis entscheidet so die geistige Grundhaltung über Gesundheit oder Krankheit.

Unwissenheit, Verblendung, Verschlossenheit; Ignoranz; → Peken, Schleim
Gier (Begierde oder Anhaftung) Dö-chag → lung, Wind
Hass (Zorn, Aggression oder Neid) She-tang → Tripa, Galle

Ti-mug, die Unwissenheit über die Nichtexistenz eines Ichs, sei die wichtigste Ursache allen Leidens. Solange der Mensch das Ich-Bewusstsein besitze, trage er die Krankheit inhärent mit sich. Aus diesem Ich-Bewusstsein heraus entstünden die Ignoranz, die Anhaftung und die Ablehnung.

Diagnostik

Die Diagnostik in der Tibetischen Medizin soll über das Ungleichgewicht der drei Körperenergien Aufschluss geben. Die Beobachtung ermittelt am Patienten äußere Zeichen der Störung, dazu wird vor allem die Zungen- und die Urindiagnostik verwendet. Zudem wird der Patient generell in Augenschein genommen (Größe, Geruch, Stimme, Verhalten etc.). Die Befragung der Vorgeschichte und des derzeitigen Zustandes zeigt auf, wie der Körper in den Zustand des Krankseins geraten ist, und was die Auslöser der Krankheit sind. Die Tastung der Pulsqualität wurde in der Tibetischen Medizin bis zur höchsten Fertigkeit gesteigert. So können durch Tastung der Pulsqualitäten Rückschlüsse auf Störungen oder Disharmonien der drei Körperprinzipien gezogen werden. Zudem existieren für viele Erkrankzungen spezische Pulse. Als mögliche Ursache gesundheitlicher Störungen wird darüber hinaus der negative Einfluss von Geistern angesehen.

Therapie

Gesundheit wird als ein Zustand der Ausgewogenheit definiert. Vorbeugende und therapeutische Methoden haben zum Ziel, das Gleichgewicht innen wie außen zu wahren oder wiederherzustellen. Die erste Heilmethode ist die richtige Ernährung, die Verordnung von Diäten und Ernährungsrichtlinien, die eine der Tages- und der Jahreszeit angepasste, maßvolle Nahrungsaufnahme beinhalten. Da die Nahrungsmittel postulierte Körperenergien durch ihre elementare Zusammensetzung direkt beeinflussen, kann man über die richtige Diätetik gezielte Vorbeugungsmedizin betreiben.

Das richtige Verhalten ergänzt die Ernährung, da die wichtigste Krankheitsursache aus buddhistischer Sicht in der Geisteshaltung liegt. Gier und Anhaften, Wut und Hass sowie der Glaube an eine den Dingen innewohnende Wirklichkeit werden mit spezifischen Krankheitsmustern in Verbindung gebracht; sie führten zu einem Ungleichgewicht der Elemente und der drei Körperprinzipien.

Als nächster therapeutischer Schritt verschreibt der tibetische Arzt zusätzlich Medikamente in Form von Pillen und Pulvern. Die etwa zweihundert von tibetischen Ärzten im Westen verwendeten Heilmittel bestehen vorwiegend aus Pflanzenbestandteilen. In etwa zwanzig Arzneien werden Bestandteilen tierischer Herkunft verwendet, und in Ausnahmefällen kommen etwa zehn verschiedene mineralische Substanzen hinzu. In den Juwelenpillen sind außerdem pulverisierte Edel- und Halbedelsteine enthalten.

Als letzte Maßnahme wird die äußere Behandlung in Form von Schröpfen, bestimmten Formen der Akupunktur ("Goldene Nadel"), Aderlass, Massagen, Bäder, Blutegel, Räucherungen, Moxibustion, Massagen und Kauterisation angewandt.

Zur Bestimmung des idealen Einnahmezeitpunkts tibetischer Medikamente wird häufig die Benutzung von Astrologie und Zahlenmystik empfohlen. Die tibetische Astrologie wird im medizinischen Bereich auch zur Bestimmung von "bösen Geistern" herangezogen, die den Patienten beeinträchtigen sollen, sowie zur Ermittlung von Gebeten, die als therapeutische Maßnahme gegen diese anzuwenden seien.

Heilpflanzen

Typische tibetische Heilpflanzen sind

Literatur

  • Jan van Alphen, Anthony Aris, Fernand Meyer (Hrsg.): Orientalische Medizin. Haupt Verlag, Bern/Stuttgart/Wien 1997, ISBN 3-258-05651-X.
  • Jürgen C. Aschoff (Hrsg.), Ina Rösing: Tibetan Medicine: East meets West – West meets East. Fabri Verlag, Ulm 1997, ISBN 3-931997-04-9.
  • Nils Florian Besch: Tibetan Medicine Off the Roads. Modernizing the Work of the Amchi in Spiti. Dissertation, Universität Heidelberg 2006 (Volltext).
  • Thomas Dunkenberger, "Das tibetische Heilbuch", 1. Auflage, Windpferd-Verlag, Aitrang 1999, ISBN 3-89385-305-7
  • Ingfried Hobert: „Die Praxis der tibetischen Medizin“. 2 Auflage, O. W. Barth Verlag, Frankfurt 2004 ISBN 978-3-502-61139-4.
  • Yuri Parfionovitch, Gyurme Dorje, Fernand Meyer (Hrsg.): Klassische Tibetische Medizin – Illustrationen der Abhandlung „Blauer Beryll“ von Sangye Gyamtso (1653–1705). Haupt Verlag, Bern/Stuttgart/Wien 1996, ISBN 3-258-05550-5.
  • Gerti Samel: Tibetische Medizin. Mosaik Verlag, München 1998, ISBN 3-576-11202-2.
  • Pasang Yonten Arya: Handbuch aller Heilmittel der Tibetischen Medizin. O. W. Barth, Bern 2001, ISBN 3-502-61051-7.
  • Gyamtso K, Kölliker S. "Tibetische Medizin". Baden, München: AT Verlag, 2007, 978-3038002079
  • Clark Barry (ed). "Die Tibeter-Medizin". Bern, München, Wien: Barth Verlag, 1998, ISBN 3-502-67100-1

Siehe auch

Einzelnachweise

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  2. Dharmapala Thangka Centre: 1000 Jahre tibetische Medizin auf Rollbildern