Zum Inhalt springen

Schriftvergleichung

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 26. September 2005 um 17:26 Uhr durch Gsegse (Diskussion | Beiträge). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Forensische Schriftvergleichung und Schriftpsychologie

Die forensische Handschriftenuntersuchung prüft die Echtheit handschriftlicher Dokumente. Fragliche Schriften X werden mit einer Reihe von Vergleichsschriften V eines Schreibers verglichen. Die zu prüfenden Schriften werden in der Regel X, die Vergleichsschriften werden meist V genannt. Die forensische Handschriftenuntersuchung hat eine spezifische Methode:

  • Zunächst wird eine physikalisch-technische Untersuchung durchgeführt. Hierbei wird geprüft, ob sich irgendwelche Spuren feststellen lassen, die auf eine Fälschung oder eine Ver-fälschung des zu prüfenden Dokumentes hinweisen.
  • Anschließend folgt die schriftvergleichende Untersuchung, in der die Schriftmerkmale von X und V erhoben und verglichen werden. Die beobachtbaren Befunde werden registriert. Die Beurteilung der allgemeinen Merkmale erfolgt dabei auf Rangskalenniveau. Die beson-deren Schriftmerkmale werden durch hinweisende Definitionen bestimmt.
  • Nach der Befunderhebung folgt eine Befundbewertung. Dazu werden Hypothesen gebildet. Die Befunde werden unter den alternativen Hypothesen bewertet. Die Befundbewertung erfolgt durch ein definiertes Set von Bewertungsregeln. Es werden Schlussfolgerungen gezo-gen und das Ergebnis der Untersuchung wird als Wahrscheinlichkeitsaussage formuliert.

In der forensischen Handschriftenuntersuchung gibt es demzufolge keine Deutungen. Es werden nur beobachtbare Übereinstimmungen oder Unterschiede in den Schriftmerkmalen regi-striert.

In der forensischen Handschriftenuntersuchung ist aber auch eine Befundbewertung erforderlich. Diese sollte nach möglichst exakten wissenschaftlichen Methoden erfolgen. Dazu ist eine erfahrungswissenschaftliche Schriftpsychologie notwendig.

Die Arbeit eines Schriftsachverständigen ist immer mit großer Verantwortung verbunden. Es geht oft um existentielle Fragen. In Zivilverfahren kann es um viel Geld gehen; es kann sein, dass eine Zwangsvollstreckung eingeleitet oder ausgesetzt wird. Bei einer Unterschriftsfäl-schung oder einer Testamentsfälschung ist - anschließend an ein Zivilverfahren - mit einem Strafverfahren zu rechnen. Zeugen können wegen eidlicher oder uneidlicher Falschaussage verurteilt werden, wenn sie z.B. gesehen haben wollen, dass jemand eine Unterschrift geleistet hat, die sich dann als Fälschung herausstellt. Forensische Schriftgutachten sind öffentlich. In Zivilverfahren haben die beteiligten Parteien Gelegenheit, sich zu einem Gutachten zu äußern. Da ein Gutachten meist für eine Partei vorteilhaft und für die andere Partei unvorteilhaft ist, wird jedes Gutachten kritisch betrachtet. Es kann eine mündliche Anhörung des Sachverständi-gen beantragt werden. Schließlich haftet der Sachverständige für sein Gutachten. Aufgrund der hohen Verantwortung ist es unumgänglich, dass forensische Schriftgutachten auf beobachtba-ren Befunden und erfahrungswissenschaftlichen Methoden beruhen.

Schriftpsychologie

In der Praxis wird der Begriff „Schriftpsychologie“ häufig mit dem Begriff „Graphologie“ gleichgesetzt. Das hat unter anderen auch Teut Wallner kritisiert: „Schriftpsychologie und Gra-phologie werden heute oft als Synonyme verwendet, obwohl sie sich - was die wissenschaftli-chen Anforderungen angeht - deutlich unterscheiden: Seit den 60er Jahren wird die Schriftpsy-chologie in Abgrenzung zur Graphologie als empirisch fundierte und kontrollierte Methode der Handschriftendiagnostik entwickelt.“

[Angelika Seibt] hat 1994 den Begriff „Schriftpsychologie“ aus einer Gegenüberstellung graphologischer und graphometrischer Methoden entwickelt und dabei auch den graphometrischen Ansatz kritisiert. Insbesondere die Vorstellung einer voraussetzungslosen Forschung ist in der heutigen Wissenschaft nicht mehr haltbar. Wissenschaft setzt Theoriebildung voraus. In diesem Sinne basiert „Schriftpsychologie“ auf den traditionellen graphologischen Theorien; zugleich wird die Notwendigkeit empirischer Forschung betont. Graphologische Theorien dienen der Hypothesenbildung für empirische Forschungen. Schriftpsychologie ist eine Erfahrungswissenschaft.

Lothar Michel hat sich 1984 für eine Schriftpsychologie als Grundlagendisziplin ausgesprochen. Auch Michel intendierte eine Schriftpsychologie als Erfahrungswissenschaft. Im Unterschied zu Wallner ging es Michel aber nicht um Handschriftendiagnostik oder persönlich-keitspsychologische Diagnostik, sondern um die Erforschung der Entstehungsbedingungen der Handschrift. Hier wird ein weiterer Aspekt der Unterscheidung von Graphologie und Schrift-psychologie deutlich:

  • Graphologische Deutungen oder schriftpsychologische Interpretationen wollen aus dem Ausdruck der Handschrift Aspekte der Persönlichkeit des Schreibers erfassen.
  • Schriftpsychologie als Grundlagendisziplin ist demgegenüber umfassender und will auch solche Entstehungsbedingungen der Handschrift erforschen, die nicht unmittelbar etwas mit der Persönlichkeit des Schreibers zu tun haben wie z.B. Schulvorlagen, Erkrankungen, schreibtechnische Aspekte.

Dabei ist zu bedenken, dass solche Aspekte auch in der traditionellen Graphologie - wie z.B. in Pfannes „Lehrbuch der Graphologie“ oder in der „Graphologischen Diagnostik“ von Müller und Enskat - immer schon berücksichtigt worden sind.

Bei Deutungen und Interpretationen sind nicht nur empirische, sondern auch geisteswissen-schaftliche Methoden sinnvoll. Auch dieser Gedanke soll kurz erwähnt werden - er ist aber nicht Thema dieser Arbeit.

Schriftpsychologie als Grundlagendisziplin erforscht die psychologischen, physiologischen, schreibtechnischen und sozialen Entstehungsbedingungen handschriftlicher Schreibleistungen mit erfahrungswissenschaftlichen Methoden. Die Ergebnisse schriftpsychologischer Forschun-gen können in der Praxis in vielfältigen Bereichen genutzt werden. Dazu gehören allgemeine psychologische Beratung, Beratung zur Persönlichkeitsentwicklung, Partnerschaftsberatung, Erziehungsberatung, Personalberatung. Auch Schreibbewegungstherapie sowie Zeichentests zur Diagnostik z.B. von Schulreife oder psychischen Schwierigkeiten sollen nicht unerwähnt bleiben. Ebenso ist an die traditionellen graphologischen Persönlichkeitsbilder und schriftpsycho-logischen Analysen zum besseren Verständnis von historischen Persönlichkeiten und ge-schichtlichen Vorgängen zu denken. Und schließlich können schriftpsychologische Forschun-gen auch in der forensischen Handschriftenvergleichung genutzt werden.

Das Gutachten

Sachverständige werden insbesondere in Gerichtsverfahren benötigt, um Sachverhalte klären zu können. Sachverständige gibt es für die unterschiedlichsten Fachgebiete - man denke z.B. an Kfz-Sachverständige und Bausachverständige, an Sachverständige für Betriebswirtschaft oder EDV, an Bewertungssachverständige für Grundstücke oder Kunst, Antiquitäten, Juwelen. Alle diese Sachverständigen arbeiten selbstverständlich nach erfahrungswissenschaftlichen Metho-den. Es gibt ein Sachverständigenrecht und eine Rechtsprechung. Es gibt auch allgemeine An-haltspunkte zu Aufbau und Gestaltung von Sachverständigengutachten.

Gutachten von Schriftsachverständigen sind methodisch so aufgebaut, dass die Aspekte „Auftrag“, „das Untersuchungsmaterial“, „Materialkritik“, „Durchführung der Untersuchung mit Befunderhebung und Befundbewertung“ sowie „Ergebnis der Untersuchung“. behandelt werden. Graphologische Gutachten haben meist keinen solchen Aufbau. Dabei wäre es durch-aus denkbar und sinnvoll, schriftpsychologische Gutachten z.B. für Firmen nach diesen Aspek-ten aufzubauen. Das soll kurz erläutert werden:

Der Auftraggeber erteilt den Gutachtenauftrag. Das kann in einem Begleitbrief geschehen. Der Gutachtenauftrag kann z.B. die folgende Formulierung beinhalten: „Gesucht wird eine vertriebsstarke Persönlichkeit, die durch ihre Ausstrahlung und persönliche Integrität, durch Kontaktfreude und Akquisitionsstärke Menschen überzeugen kann und zum Abschluss von Verträgen kommt. Unerlässlich für die vorgesehene Position sind überdurchschnittlicher Fleiß und Einsatzbereitschaft sowie Integrationskraft.“

Es ist sinnvoll, das Untersuchungsmaterial aufzulisten: handschriftlicher Lebenslauf, handschriftlich ausgefüllter Bewerbungsbogen, Stellenbeschreibung, Anforderungsprofil, Zei-tungsanzeige, die vollständigen Bewerbungsunterlagen eines Bewerbers mit Anschreiben, Le-benslauf, Lichtbild, Ausbildungs- und Arbeitszeugnissen, Angaben zu Fortbildung und Tätig-keitsschwerpunkten.

Es ist ebenfalls sinnvoll, das vorliegende Untersuchungsmaterial einer Materialkritik zu unterziehen. Dabei wird gefragt, wie geeignet das vorliegende Untersuchungsmaterial zur Be-antwortung der Frage der Untersuchungsauftrages ist. Welche Unterlagen hätte noch vorliegen sollen? Sind die Anforderungen an die Persönlichkeit des Bewerbers und die fachlichen Anfor-derungen ersichtlich? Gibt es eine Aufgabenbeschreibung? Sind in der Stellenbeschreibung die Position, Verantwortungsbereich, Anzahl der Mitarbeiter und das vorgesehene Gehalt genannt? Ist das Schriftmaterial umfangreich und ausdrucksstark genug? Handelt es sich um Kurrent-schriften? Enthält es Unterschriften? Gibt es Arbeitsproben? Wurde ein persönliches Gespräch durchgeführt? Als Ergebnis der Materialkritik wird beurteilt, wie aussagekräftig die vorliegen-den Untersuchungsunterlagen zur Beantwortung der Frage des Untersuchungsauftrages sind.

Bei der Durchführung der Untersuchung ist es sinnvoll, zwischen fachlichen und persönli-chen Aspekten, zwischen der Inspektion und Prüfung der Bewerbungsunterlagen und der Ana-lyse der Handschrift zu unterscheiden. Das Ergebnis der Untersuchung beantwortet die Fragen des Untersuchungsauftrages. Das Gutachten soll eine Entscheidungshilfe für den Auftraggeber sein. Und das Gutachten sollte sprachlich so abgefasst sein, dass es mit auch dem Beurteilten besprochen werden kann. Schreibtechnische Bedingungen

Für Schriftsachverständige ist es selbstverständlich, zunächst nach schreibtechnischen Bedin-gungen zu fragen, die sich auf eine Schreibleistung ausgewirkt haben könnten. Dazu gehören Schreibstift, Schriftträger, Schreibunterlage, Schreibhaltung.

Auch in der seriösen traditionellen Graphologie sind solche Aspekte berücksichtigt worden. Als Beispiel kann auf die Ausführungen von Pfanne zu den Begriffen „Feder“, „Federbeine“ und „Federwinkel“ hingewiesen werden. Heute wird weniger mit einem Federhalter, sondern meist mit Kugelschreiber geschrieben. Auch bei Kugelschreiberschriften sind materialtechni-sche Einflüsse wirksam. Solche schreibtechnischen Einflüsse haben nichts mit der Persönlich-keit des Schreibers zu tun. Bei der Arbeit mit Eindruckscharakteren kann es aber sein, dass hier rein materialtechnische Einflüsse wirksam sind. Auch für Graphologen ist es daher sehr sinn-voll, sich mit schreibtechnischen Einflüssen zu beschäftigen.


Literatur

  • Aderjan, Rolf (Hrsg.) (2000): Marker missbräuchlichen Alkoholkonsums; Stuttgart, Wissenschaftliche Verlags*gesellschaft
  • Bayerlein, Walter (1996): Praxishandbuch Sachverständigenrecht; München, C.H. Beck
  • Hecker, Manfred (1993): Forensische Handschriftenuntersuchung * eine systematische Darstellung von For*schung, Begutachtung und Beweiswert * , Heidelberg, Kriminalistik Verlag
  • Heermann, Magdalene (1977): Schreibbewegungstherapie * als Psychotherapieform bei verhaltensgestörten, neurotischen Kindern und Jugendlichen; München, Ernst Reinhardt
  • Michel, Lothar (1982): Gerichtliche Schriftvergleichung * eine Einführung in Grundlagen, Methoden und Praxis; Berlin, Walter de Gruyter
  • Michel, Lothar (1984): Für eine Schriftpsychologie als Grundlagendisziplin; Zeitschrift für Menschenkunde, 48, 278*288
  • Müller, W.H. / Enskat, A. (19873): Graphologische Diagnostik; Bern, Hans Huber
  • Pfanne, Heinrich (1961): Lehrbuch der Graphologie; Berlin, Walter de Gruyter
  • Seibt, Angelika (1994): Schriftpsychologie * Theorien, Forschungsergebnisse, wissenschaftstheoretische Grundlagen; München, Profil
  • Seibt, Angelika (1997): Methode schriftvergleichender Untersuchungen; Zeitschrift für Menschenkunde, 61, 87*101
  • Seibt, Angelika (1999): Forensische Schriftgutachten * Einführung in Methode und Praxis; München, C.H. Beck
  • Seibt, Angelika (2000): Schriftvergleichende Befunderhebung: Skalen und Messtechniken; Zeitschrift für Schriftpsychologie und Schriftvergleichung, 64, 38*53
  • Wallner, Teut (1998): Lehrbuch der Schriftpsychologie * Grundlegung einer systematisierten Handschriftendia*gnostik; Heidelberg, Asanger
  • Wildt, Marzella (1990): Pathologische Veränderungen der Handschrift, Universität Mannheim, Dissertation
  • Zimmermann, Peter (2001): Wofür ein Sachverständiger so alles haften kann, und weshalb das so ist; Der Sach*verständige, 28, Seiten 21*34, Seiten 53*63 und Seiten 85*92