Zwillingsparadoxon
Das Zwillingsparadoxon ist ein Gedankenexperiment, das einen scheinbaren Widerspruch in der speziellen Relativitätstheorie beschreibt. Es wurde 1911 von dem französischen Physiker Paul Langevin formuliert. Danach fliegt einer von zwei Zwillingen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit zu einem fernen Stern und kehrt anschließend mit derselben Geschwindigkeit wieder zurück. Nach der Relativitätstheorie schließt jeder Zwilling aus seinen Beobachtungen, dass während der Flugphasen mit konstanter Geschwindigkeit der jeweils andere Zwilling als Folge der so genannten Zeitdilatation langsamer altert. Nach der Rückkehr auf der Erde stellt sich aber heraus, dass der dort zurückgebliebene Zwilling älter geworden ist als der gereiste.
Dieses scheinbare Paradoxon beruht auf intuitiven, aber unzulässigen Annahmen über das Wesen der Zeit, wie beispielsweise der Gleichzeitigkeit. Insbesondere wird dabei der Einfluss des Richtungswechsels am Umkehrpunkt der Reise ignoriert. Durch diese Umkehr sind die beiden Zwillinge nicht gleichwertig, und nur aus der Sicht des irdischen und nicht des reisenden Zwillings liefert die Betrachtung der reinen Zeitdilatation das richtige Endergebnis.
1971 konnte bereits bei einem Interkontinentalflug eine Zeitdifferenz dieser Art indirekt durch den Vergleich zweier Atomuhren in bester Übereinstimmung mit der Vorhersage der Relativitätstheorie nachgewiesen werden. Bei diesem Hafele-Keating-Experiment spielen jedoch auch die Erdrotation und Effekte der allgemeinen Relativitätstheorie eine Rolle.
Zur Auflösung des Paradoxons im Detail sind folgende zwei Fragen zu beantworten:
- Wie kommt es, dass jeder Zwilling den jeweils anderen langsamer altern sieht?
- Wieso erweist sich der auf der Erde zurückgebliebene Zwilling nach der Reise als der ältere?
Das wechselseitig langsamere Altern der Zwillinge
Zur Beantwortung der ersten Frage betrachte man, wie der Zwilling auf der Erde überhaupt feststellt, dass der fliegende langsamer altert. Dazu vergleicht er die Anzeige auf einer Uhr, die der fliegende Zwilling mit sich führt, mit zwei ruhenden Uhren, die sich am Anfang und am Ende einer bestimmten Teststrecke befinden, die der fliegende Zwilling passiert. Dazu müssen diese beiden Uhren aus der Sicht des ruhenden Zwillings natürlich auf die gleiche Zeit eingestellt worden sein. Der fliegende Zwilling liest zwar bei den Passagen dieselben Uhrstände ab, wie der ruhende, er wird aber einwenden, dass seiner Ansicht nach die Uhr am Ende der Teststrecke vorgeht. Der gleiche Effekt tritt auf, wenn der fliegende Zwilling analog das Altern des irdischen mit zwei Uhren beurteilt.
Ursache ist der Umstand, dass es nach der Relativitätstheorie keine absolute Gleichzeitigkeit gibt. Die Gleichzeitigkeit von Ereignissen an verschiedenen Orten und damit auch die angezeigte Zeitdifferenz von zwei dortigen Uhren wird von Beobachtern, die sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten bewegen, unterschiedlich beurteilt. Eine genaue Betrachtung der Verhältnisse zeigt, dass die wechselseitige Einschätzung einer Verlangsamung der Zeit daher nicht zu einem Widerspruch führt. Hilfreich sind dazu die vergleichsweise anschaulichen Minkowski-Diagramme, über die sich dieser Sachverhalt grafisch und ohne Formeln nachvollziehen lässt.
Die wechselseitige Verlangsamung steht in Einklang mit dem Relativitätsprinzip, das besagt, dass alle Beobachter, die sich mit konstanter Geschwindigkeit gegeneinander bewegen, völlig gleichberechtigt sind. Man spricht von Inertialsystemen, in denen sich diese Beobachter befinden.
Die Umkehrphase des reisenden Zwillings
Zur Beantwortung der zweiten Frage ist die Abbrems- beziehungsweise Beschleunigungsphase zu betrachten, die für die Rückkehr des fliegenden Zwillings erforderlich ist. Während dieser Phase vergeht nach Einschätzung des fliegenden Zwillings die Zeit auf der Erde schneller. Der dort zurückgebliebene Zwilling altert dabei soweit nach, dass er trotz des langsameren Altern während der Phasen mit konstanter Geschwindigkeit im Endergebnis der ältere ist, so dass sich auch aus der Sicht des fliegenden Zwillings kein Widerspruch ergibt. Das Ergebnis nach der Rückkehr steht auch nicht im Widerspruch zum Relativitätsprinzip, da die beiden Zwillinge aufgrund der Beschleunigung, die nur der fliegende erfährt, bezüglich der Gesamtreise nicht als gleichwertig betrachtet werden können.
Ursache dieser Nachalterung ist wiederum die Relativität der Gleichzeitigkeit. Während der Beschleunigung wechselt der fliegende Zwilling gewissermaßen ständig in neue Inertialsysteme. In jedem dieser Inertialsysteme ergibt sich jedoch für den Zeitpunkt, der gleichzeitig auf der Erde herrscht, ein anderer Wert und zwar derart, dass der fliegende Zwilling auf eine Nachalterung des irdischen schließt. Je weiter sich die Zwillinge voneinander entfernt haben, umso größer ist dieser Effekt.

Die Verhältnisse sind im dargestellten Weg-Zeit-Diagramm einer Reise von A nach B und wieder zurück mit 60% der Lichtgeschwindigkeit c dargestellt. Die Bahn des zurückbleibenden Zwillings verläuft entlang der Zeitachse von A1 nach A4, der fliegende nimmt den Weg über B. Jede horizontale Linie im Diagramm entspricht Ereignissen, die aus der Sicht des Zwillings auf der Erde gleichzeitig erfolgen. Der fliegende Zwilling dagegen schätzt beim Hinflug alle Ereignisse auf den roten Linien als gleichzeitig ein und beim Rückflug die auf den blauen. Unmittelbar vor seiner Ankunft am Ziel B befindet sich der ruhende Zwilling nach Ansicht des fliegenden daher bei A2 und erscheint daher weniger gealtert. Während der Umkehrphase, die hier als so kurz angenommen wurde, dass sie im Diagramm nicht zu erkennen ist, schwenken die Linien der Gleichzeitigkeit für den fliegenden Zwilling, und sein Bruder auf der Erde altert bis zum Punkt A3 nach. Während der Rückreise nach A4 scheint der Zwilling auf der Erde wieder langsamer zu altern. Da die dargestellten Neigungen der Linien der Gleichzeitigkeit nur von der Reisegeschwindigkeit vor und nach der Umkehrphase abhängen, ist die Stärke der Beschleunigung für die Nachalterungszeit nicht relevant.
Bei all diesen Betrachtungen wurde vorausgesetzt, dass die Zwillinge bei ihrer Einschätzung des Geschehens nicht das, was sie unmittelbar sehen, für die gleichzeitig anderswo stattfindende Realität halten, sondern die ihnen bekannte Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichtes berücksichtigen.
So kann beispielsweise der beschriebene Nachalterungssprung nicht unmittelbar beobachtet werden, da die zugehörigen Lichtsignale, die von A2 und A3 auf der Erde ausgehen, erst während der Rückreise beim reisenden Zwilling eintreffen.
Zu betonen ist auch, dass dieser „Nachalterungssprung“ (wie auch die Zeitdilatation) kein physikalischer Vorgang im eigentlichen Sinne ist (der zurückgebliebene Zwilling erfährt nicht etwa einen Alterungsschub durch die Umkehr des reisenden Zwillings), sondern rein auf einer unterschiedlichen Beschreibung der Ereignisse durch den reisenden Zwilling beruht. Dies kann man deutlich sehen, wenn man Ereignisse betrachtet, die viel weiter von der Erde entfernt sind als der umkehrende Zwilling: Aus Sicht des umkehrenden Zwilling verläuft in diesem Bereich die Zeit während der Beschleunigung rückwärts! Das kann man vergleichen mit den Vorgängen beim Abbiegen: Wenn man z.B. eine Rechtskurve fährt, dann können Objekte auf der rechten Seite, an denen man bereits vorbeigefahren ist, plötzlich wieder „nach vorne wandern“, so dass man ein weiteres Mal an ihnen vorbeifährt. Hier ist es jedem unmittelbar klar, dass sich nicht die Objekte so merkwürdig bewegt haben, sondern es ist die Drehung des Autos, die diese Objekte wieder nach vorne gebracht hat. Analog ist es auch bei der Beschleunigung des Zwillings: Sein Bezugssystemwechsel (Beschleunigung) führt dazu, dass er die Gleichzeitigkeit von Ereignissen nun anders bewertet, so dass die Objekte auf der Erde nach der Beschleunigung scheinbar älter, weit entfernte Objekte auf der entgegengesetzten Seite jedoch scheinbar jünger geworden sind.
Andererseits sind die unterschiedlichen Eigenzeiten beim Zusammentreffen physikalisch real, ganz so, wie die unterschiedlichen Fahrstrecken eines geradeausfahrenden und eines Kurven fahrenden Autos real sind.
Variante ohne Beschleunigungsphasen
Durch Einführen einer dritten Person lässt sich eine Variante des Zwillingsparadoxons formulieren, die völlig ohne Beschleunigungsphasen auskommt. Dabei passiert der reisende Zwilling den Stern mit gleichbleibender Geschwindigkeit, während die dritte Person gleichzeitig den Stern mit einer gleich großen aber zur Erde gerichteten Geschwindigkeit passiert, wobei beide lediglich ihre Uhren abgleichen. Wenn beide auch die Erde mit konstanter Geschwindigkeit passieren und dabei lediglich mit dem irdischen Zwilling Uhrenstände vergleichen, findet überhaupt keine Beschleunigung statt. Die mathematische Behandlung dieses Szenarios und sein Endergebnis sind identisch mit dem zuvor geschilderten, sofern die Dauer der Beschleunigungsphasen vernachlässigbar kurz ist. Diese Variante mit drei Personen demonstriert, dass nicht unbedingt die Beschleunigung als Phänomen das Zwillingsparadoxon auflöst, sondern der Umstand, dass das Geschehen während der Hin- und Rückreise aus unterschiedlichen Inertialsystemen mit unterschiedlichen Einschätzungen der Gleichzeitigkeit heraus beurteilt wird. Sie demonstriert damit auch, dass sich das Zwillingsparadoxon anders als vielfach behauptet vollständig im Rahmen der speziellen Relativitätstheorie auflösen lässt und keine Betrachtung der allgemeinen Relativitätstheorie erfordert.
Andere Reisewege
Der fliegende Zwilling erweist sich nach der Rückkehr zur Erde unabhängig von den Details seiner Flugroute immer als der weniger gealterte. Das bedeutet, dass die zeitlich längste Reise von irgendeiner Stelle in Raum und Zeit zu einer anderen stets diejenige ist, die mit konstanter Geschwindigkeit, also ohne Beschleunigung erfolgt. In der Relativitätstheorie werden Raum und Zeit zur so genannten Raumzeit vereinigt. Jeder Reisende beschreibt in ihr eine Kurve, deren Länge die Zeit repräsentiert, die für ihn dabei vergeht. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem dreidimensionalen Raum und der vierdimensionalen Raumzeit besteht daher darin, dass eine Strecke im Raum die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten darstellt, die ein Reisender zurücklegen kann, während es in der Raumzeit die längste ist.
Zahlenbeispiel
Für eine Hin- und Rückreise mit 60% der Lichtgeschwindigkeit zu einem Ziel in 3 Lichtjahren Abstand ergeben sich folgende Verhältnisse (siehe obige Grafik): Aus der Sicht des Zwillings auf der Erde sind für Hin- und Rückweg jeweils 5 Jahre erforderlich. Der Faktor für die Zeitdilatation und die Längenkontraktion beträgt 0,8. Das bedeutet, dass der fliegende Zwilling auf dem Hinweg nur um 5x0,8=4 Jahre altert. Dieser erklärt sich diesen geringeren Zeitbedarf damit, dass die Wegstrecke sich durch die Längenkontraktion bei seiner Reisegeschwindigkeit auf 3x0,8=2,4 Lichtjahre verkürzt hat. Da nach seiner Einschätzung auf der Erde die Zeit auch langsamer verstreicht, scheint auf der Erde unmittelbar vor seiner Ankunft am fernen Stern lediglich 4x0,8=3,2 Jahre verstrichen zu sein. Während der Umkehrphase verstreichen aber auf der Erde seiner Ansicht nach zusätzlich 3,6 Jahre. Zusammen mit den 3,2 Jahren auf dem Rückweg sind also auch aus der Sicht des fliegenden Zwillings auf der Erde insgesamt 10 Jahre verstrichen, während er selbst lediglich 8 Jahre gealtert ist.
Austausch von Lichtsignalen

Bisher wurde dargestellt, was die Beobachter unter Berücksichtigung der ihnen bekannten Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichtes für das reale Geschehen halten. Im folgenden sei beschrieben, was beide Zwillinge unmittelbar sehen, wenn sie periodisch, beispielsweise einmal pro Jahr, ein Lichtsignals zu ihrem Bruder senden. Die Wege von Lichtsignalen im obigen Weg-Zeit-Diagramm sind Geraden mit einer Neigung von 45°. Bezogen auf dieses Beispiel ergeben sich damit die nebenstehenden Diagramme. Danach treffen die rot dargestellten Signale, die der reisende Zwilling während der Hinreise empfängt (links) und auch die, die er in dieser Zeit sendet (rechts), mit der halben Frequenz beim jeweiligen Empfänger ein. Die blau dargestellten Signale, die reisende Zwilling während der Rückreise empfängt (links) und sendet (rechts) treffen dagegen mit der doppelten Frequenz ein. Es handelt sich in beiden Fällen um den relativistischen Doppler-Effekt, der in Übereinstimmung mit dem Relativitätsprinzip für beide Zwillinge gleich stark ausfällt.
Damit führt die Annahme, beide Zwillinge wären nach der Rückkehr gleich alt, so dass beide Zwillinge gleich viele Signale vom anderen empfangen hätten, nun aber zu einem Widerspruch. Denn während der reisende Zwilling am Umkehrpunkt und damit nach der halben Reisezeit sofort die zeitlich komprimierten Signale erhält, erreichen den irdischen Zwilling die gedehnten Signale noch länger. Daher können nicht beide gleich viele Signale erhalten haben.
Bedingt durch eine Kombination von relativistischen Effekten und Laufzeiteffekten sieht der reisende Zwilling den irdischen daher zunächst in 4 Jahren um 2 Jahre altern und in weiteren 4 Jahren um 8 Jahre, insgesamt also um 10 Jahre. Der irdische Zwilling sieht entsprechend den reisenden zunächst in 8 Jahren um 4 Jahre altern und anschließend in 2 Jahren um 4 Jahre, insgesamt also um 8 Jahre. Dieses widerspruchsfreie Endergebnis ist dabei allerdings schon durch die Position der Zeitmarken auf den Reisewegen in der ersten Grafik des Artikels vorgegeben.
Weblinks
- Franz Embacher, Spezielle Relativitätstheorie: Zwillingsparadoxon und Geodäten der Raumzeit
- Klaus Kassner, Crash Course in spezieller Relativitätstheorie: Das Zwillingsparadoxon
- Mike Bernhard, Zum Zwillingsparadoxon in der Speziellen Relativitätstheorie (PDF)