Räterepublik
Eine Räterepublik bezeichnet allgemein ein Herrschaftssystem, bei dem die Herrschaft vom Volk über direkt gewählte Räte ausgeübt wird. Rätesysteme sind der Versuch einer Direkten Demokratie.
Die Räte werden auf mehreren Ebenen gewählt. So werden auf Wohn- und Betriebsebene in Vollversammlungen Arbeiter aus den eigenen Reihen in die örtlichen Räte entsendet. Die örtlichen Räte delegieren nun wiederum Mitglieder in die nächsthöhere Ebene – in die Bezirksräte. Dieses System der Delegierung setzt sich bis zum Zentralrat auf staatlicher Ebene fort. Die Wahlvorgänge geschehen also von unten nach oben. Die Ebenen sind meist an Verwaltungsebenen gebunden. Im Unterschied zu klassischen Demokratiemodellen nach Locke und Montesquieu existiert in Rätesystemen keine Gewaltenteilung, das heißt, sie üben auf ihrer jeweiligen Ebene alle drei Gewalten aus; sie sind für Gesetzgebung, Rechtsprechung und Ausführung voll verantwortlich. Sie haben meist ein imperatives Mandat, sie sind also an den Auftrag ihrer Wähler gebunden – im Gegensatz zum Freien Mandat, bei dem die gewählten Mandatsträger nur "ihrem Gewissen" verantwortlich sind. Die Räte können von ihrem Posten jederzeit abgerufen werden.
Der Rätegedanke beziehungsweise die Idee der Räterepublik entstand aus der Arbeiterbewegung und wurde unterschiedlich sowohl von Michail Bakunin (Anarchismus) als auch von Karl Marx (Sozialismus/Kommunismus)und Lenin weiterentwickelt.
Ein Rätesystem wurde während der russischen Revolution ab 1905 erstmals umgesetzt. Damals bildeten sich spontane Selbstverwaltungsorgane (Räte, russisch = Sowjets) die, von Lenin unterstützt, nach der Oktoberrevolution 1917 fest eingerichtet wurden und das Grundgerüst der Sowjetunion bildeten.
Allerdings gab es einige Räte in Russland und dessen Machtbereich, die teilweise andere Vorgaben als die Partei der Bolschewiki Lenins umzusetzen versuchten, und deren absoluten Führungsanspruch über die Arbeiterklasse und die Revolution zunehmend in Frage stellten. Diese vor allem von den "Sozialrevolutionären" dominierten Räte und Rätedemokratien wurden während des russischen Bürgerkriegs von der Roten Armee unter der Verantwortung Leo Trotzkis zerschlagen.
Beispiele hierfür finden sich im Kronstädter Matrosenaufstand oder der anarchistischen Machno-Bewegung, die zwischen 1918 und 1922 den größten Teil der Ukraine kontrollierte, unter der Führung von Machno.
Nestor Machno installierte zwischen 1918- 1922 in der Ukraine ein am Anarchismus orientiertes System. Die Führung unterlag aber eigentlich nur ihm und von ihm eingesetzten "Gouverneuren". Also ist die Rolle dieser Räte umstritten. Es werden antikommunistisch orientierte, verherrlichende ("demokratische") Mythen über Machno angezweifelt. Auf der Grundlage von neuen Dokumenten aus Archiven der zerfallenen Sowjetunion geht außerdem hervor, dass die "Anarchisten" von Kronstadt und Machno stark mit der Weißen Armee verbunden waren und im Grunde nur von den eindringenden imperialistischen Armeen Westeuropas finanziert und unterstützt wurden, um die Oktoberrevolution zu vernichten. So waren die Sprüche der Kronstädter Matrosen nicht nur "Räte ohne Bolschewiki", sondern auch "Juden raus!". Daher stellte die Bevölkerung der umliegenden Dörfer von Kronstadt eine starke Bewegung auf, die die Bewegung der Matrosen - lange bevor Trotzkis Rotarmisten eintrafen - niederschlug.
Das Partei- und Fraktionsverbot sind Kinder des russischen Bürgerkriegs, die die Entstehung konterrevolutionäre Elemente generell verhindern sollten. Lenin und dessen Partei schränkten 1921 nach den Erfahrungen mit dem Kronstädter Matrosenaufstand die Kompetenzen der Räte stark ein, um die Macht der Partei auch weiterhin sicherzustellen. Die Diskussionen in den Räten in der Sowjetunion waren aber nach wie vor ein wichtiges Element in der Entwicklung in der Partei und der Politik der Bolschewiki. Nach Lenins Tod 1924 und der Machtübernahme Stalins nahm die Bedeutung dieser Räte weiter ab. Unter Stalin wurde der Demokratische Zentralismus in einen "bürokratischen Absolutismus" umgewandelt, um die Linke Opposition (unter Trotzki) und später die Rechte Opposition (unter Bucharin) aus der Partei drängen zu können. Stalin stärkte außerdem die Macht seines Amtes (Generalsekretär der KPdSU) und festigte sie mit der Schaffung eines Personenkults um ihn. Eine kritische Bezeichnung für dieses spezielle System Stalins ist "proletarischer Bonapartismus". Aussenpolitisch wurde die Idee der Weltrevolution zugunsten der These des "Sozialismus in einem Lande" aufgegeben.
In der Umbruchzeit nach dem Ende des ersten Weltkriegs bildeten sich im November 1918 nach dem Vorbild der Entwicklung in Russland auch in Österreich, Ungarn, Deutschland und anderswo spontan so genannte Arbeiter- und Soldatenräte (zuerst am 4. November 1918 in Kiel). Nach dem Spartakusaufstand unter Führung der KPD im Januar 1919 stieg deren Zahl noch weiter an, nun gab es unter anderem in Berlin, München, Hamburg, Bremen und dem Ruhrgebiet Arbeiter- und Soldatenräte.
Im Dezember beschlossen die Räte aus ganz Deutschland im von Friedrich Ebert geführten "Rat der Volksbeauftragten" die Wahlen zu einer deutschen Nationalversammlung. Damit trafen sie die Wahl für eine parlamentarische Demokratie und gegen ein Rätesystem.
Trotzdem wurden im Frühjahr 1919 nach dem Vorbild der Sowjetunion in Bremen, Baden, Braunschweig, Würzburg und in München unter Kurt Eisner 1919 offiziell Räterepubliken proklamiert. Aber schon im März beschloss die Reichsregierung gegen die Räte vorzugehen. Die Reichswehr und Freikorps-Soldaten (sog. Weiße Truppen) erhielten den Auftrag, gegen die sozialistischen und kommunistischen Rätemilizen (sog. Rote Truppen) vorzugehen und lösten diese Räterepubliken gewaltsam auf. Am 11. Oktober 1919 trat die Weimarer Verfassung in Kraft. Auch in Ungarn wurde im März 1919 eine Räterepublik proklamiert, die aber auch nur bis August 1919 Bestand hatte. Weitere Räterepubliken gab es im Sommer 1919 in der Slowakei um die Stadt Košice und 1920-1921 für 16 Monate in der iranischen Provinz Gilan. Die Räte tauchten auch im Ungarischen Aufstand von 1956 wieder auf.
Obwohl dann nicht mehr so genannt, hatten 1989 im Endstadium der VR Polen und der Deutschen Demokratischen Republik die "Runden Tische" räterepublikanische Züge.
Literatur
- Oscar Anweiler, "Die Rätebewegung in Russland 1905-1921", Leiden 1958
- Sebastian Haffner: Der Verrat, 1968 (Nachdruck Berlin 1995). ISBN 3-930-27800-6
Regionale und Lokale Räteorganisationen in Württemberg. Bearbeitet von Eberhard Kolb und Klaus Schönhoven. Droste Verlag. Düsseldorf. ISBN 3-7700-5084-3