Reinkarnationstyp
Als Fall vom Reinkarnationstyp (englisch: case of the reincarnation type) bezeichnet der Pionier der Reinkarnationsforschung Ian Stevenson den Fall einer Person, deren geäußerte Erinnerungen, Verhalten oder auch körperliche Eigenschaften auf die Möglichkeit eines früheren Lebens im Sinne der Reinkarnation hindeuten (suggestive of reincarnation). Das Phänomen, dass solche Fälle auftreten, gilt als unstrittig, über ihre Erklärung hingegen herrscht gegenwärtig in der Wissenschaft jedoch noch kein Konsens.
Einteilung in Untertypen
Zu unterscheiden ist zwischen gelösten Fällen (solved cases) und ungelösten (unsolved cases), je nachdem ob eine verstorbene Person gefunden wurde, auf die sich die vorhandenen Hinweise eindeutig beziehen. Weitere Einteilungskriterien sind:
- Die frühere und die gegenwärtige Person können derselben Familie angehören (same family cases) oder nicht.
- Das Geschlecht der früheren und der gegenwärtigen Person kann gleich oder verschieden sein.
- Die Erinnerungen können auf unterschiedliche Weise ausgelöst worden sein. Am wissenschaftlich wertvollsten sind spontane Erinnerungen insbesondere bei kleinen Kindern (dazu zählen die meisten von Stevensons Fällen). Hypnotische Fälle hingegen erwiesen sich für die Forschung nur in Ausnahmefällen als nützlich. Ganz selten gibt es Erinnerungen unter dem Einfluss von Meditation.
- Nach geographischen Gesichtspunkten lassen sich nationale von internationalen Fällen unterscheiden. Stevensons internationale Fälle, die nicht innerhalb der selben Familie auftraten (im 2. Weltkrieg in Birma getötete japanische Soldaten, an deren Leben sich birmanische Kinder erinnerten), waren bisher ausnahmslos ungelöst.
- Grundsätzlich ist auch noch zwischen Fällen mit berühmten und unbedeutenden Vor-Inkarnationen zu unterscheiden. Allerdings sind bisher nur wenige Fälle wissenschaftlich untersucht worden, die auf ein Vorleben als berühmte Persönlichkeit hindeuteten, und diese konnten sämtlich als offensichtlicher Betrug oder Selbstbetrug identifiziert werden.
Einige Sonderfälle treten nur sehr selten auf:
- Xenoglossie: Kenntnisse fremder, im gegenwärtigen Leben nicht erlernter, Sprachen, die zu einem erinnerten Vorleben passen.
- Zeitliche Überlappungen: Es sind einige Fälle untersucht worden, bei denen der Tod der identifizierten früheren Person vor der Geburt der gegenwärtigen stattgefunden hat. Das Ausmaß beträgt durchwegs nur wenige Tage. In einem Fall jedoch (dem Fall Jasbir in Indien) waren es dreieinhalb Jahre. In diesem Alter starb Jasbir vermeintlich an den Pocken, erwachte aber wieder und nahm danach die Persönlichkeit eines 22-jährigen Mannes an, der kurz zuvor in einem anderen Dorf plötzlich verstorben war. Zeitliche Überlappungen der Schwangerschaft mit dem Leben der später erinnerten früheren Person treten häufiger auf.
- Für die Forschung besonders interessant sind Fälle, in denen schriftliche Protokolle über die Äußerungen eines Kindes gemacht wurden, bevor man begann, sie zu überprüfen.
- Ebenfalls bedeutend sind Fälle, die in einem dem Reinkarnationsglauben feindlichen kulturellen Umfeld auftreten. Die wichtigsten Beispiele dafür waren Moslem-Kinder in Indien, die sich an ein Vorleben als Hindu erinnern.
Beobachtungen, die für die Forschung relevant sind
Folgende Elemente spielen in Fällen vom Reinkarnationstyp für die Forschung eine wichtige Rolle:
- Erinnerungen, die sich verifizieren lassen: Die sind umso bedeutender, je unwahrscheinlicher es ist, dass die sich erinnernde Person die erinnerten Informationen auf gewöhnlichem Weg erfahren haben konnte. Deshalb wird der Möglichkeit früherer Kontakte zwischen den beiden betroffenen Familien große Aufmerksamkeit gewidmet.
- Verhaltens-Eigenschaften, die im Zusammenhang mit dem erinnerten Vorleben psychologisch sinnvoll sind: Dazu zählen neben Vorlieben und Abneigungen, die schon früher bestanden, vor allem Phobien (scheinbar unbegründete Ängste), die mit einem gewaltsamen Tod im Vorleben zusammenhängen (beispielsweise gegen Wasser bei einer Erinnerung an einen Tod durch Ertrinken).
- Manche Fälle sind angekündigt. Entweder äußert sich die frühere Person vor ihrem Tod über ihre Wünsche hinsichtlich der Wiedergeburt in einer bestimmten Familie oder es treten Ankündigungsträume der späteren Mutter oder einer nahestehenden Person auf. Die haben zumeist eine Anfrage des Verstorbenen zum Inhalt, ob er willkommen ist. Wegen der Möglichkeit der Beeinflussung duch eine solche Ankündigung ist der wissenschaftliche Wert angekündigter Fälle vergleichsweise niedriger einzustufen.
- Körperliche Merkmale und Anomalien im Zusammenhang mit dem Vorleben: Dazu zählen Muttermale aber auch angeborene Missbildungen an Stellen früherer (und häufig tödlicher) Verletzungen. Das ist für die Forschung deshalb sehr wichtig, weil sich solche körperliche Phänomene völlig objektiv und unstrittig feststellen lassen. Stevenson hat eine große Zahl derartiger birthmarks fotografiert.
Geschichte
Antike Berichte über Erinnerungen an frühere Leben gibt es betreffend Pythagoras und Apollonius von Tyana. Der indische Herrscher Aurangzeb, der von 1658 bis 1707 regierte, ließ, obwohl er Moslem war, einen solchen Fall untersuchen. Der nächste bekannte war der des 1815 geborenen Japaners Katsugorô, der 1897 publiziert wurde. 1898 erschien das Werk The soul of a people von Fielding Hall, das sechs weitere Fälle aus Birma beschreibt.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunders wurde über einige Fälle sporadisch in Zeitungen und okkultistischen Zeitschriften berichtet. Die meisten von ihnen ereigneten sich in Indien (der bekannteste war der Fall Shanti Devi). 1956 erlange ein hypnotischer Fall in Amerika mit einem Vorleben in Irland (als Bridey Murphy) internationales Aufsehen.
1961 unternahm Ian Stevenson seine erste Forschungsreise nach Indien, wo er zu seiner Verwunderung auf zahlreiche Fälle vom Reinkarnationstyp stieß. 1966 veröffentlichte er 20 davon in seinem weltweit bekannten Werk Twenty cases suggestive of reincarnation, das auch Fälle aus Ceylon (heute Sri Lanka) und Brasilien, dem Libanon (bei den Drusen) und Alaska (bei den Tlingit-Indianern) enthielt. Stevenson ist trotz seines mittlerweile hohen Alters bis heute in der Erforschung solcher Fälle aktiv, die sich später auch auf die Türkei (bei den Aleviten) Birma, Thailand und Westafrika erstreckten.
Erklärungsversuche
Jeder einzelne Fall ist individuell daraufhin zu untersuchen, welche Erklärung für ihn am wahrscheinlichsten zutrifft.
- Betrug: Der bekannteste höchstwahrscheinlich betrügerische Fall war der eines israelischen Kindes, das sich an ein Vorleben als König David erinnert haben soll. Nachprüfungen zeigten, dass der Fall praktisch zur Gänze frei erfunden war. Klar betrügerische Fälle sind sehr selten, weil es für sie kaum eine nennenswerte Motivation gibt. Die häufig geäußerte Meinung, die Erfindung eines reichen oder berühmten Vorlebens könnte die soziale Position heben, gilt in den Ländern Südasiens, in denen die meisten untersuchten Fälle auftraten, nicht. Nach dem dort herrschenden Karma-Glauben ließe dieser soziale Abstieg auf schwere Verfehlungen im Vorleben schließen.
- Selbstbetrug: Es gibt Fälle, die sich am leichtesten dadurch erklären lassen, dass Eltern Äußerungen ihres Kindes missverstanden und sich in ihrer Phantasie einen Fall zusammengereimt haben. Das bekannteste Beispiel dafür ist eine angebliche Reinkarnation des amerikanischen Präsidenten Kennedy in dem kurz nach seinem Tod geborenen Türken Kenedi Alkan (sein Vorname ist die türkische Schreibweise von Kennedy).
- Kryptomnesie: Unter Kryptomnesie versteht man eine Schein-Erinnerung an Dinge, deren Informationsquelle man vergessen hat. So kann ein historischer Roman oder Film den Inhalt einer vermeintlichen Erinnerung an ein Vorleben bilden.
- genetisches Gedächtnis: Dies ist eine oft gehörte, aber kaum brauchbare Erklärung, denn die Vererbung von Erinnerungen ist biologisch äußerst unplausibel und außerdem kann sie grundsätzlich keine Details aus dem Leben nach dem letzten Zeugungsakt enthalten. Zu den am häufigsten geäußerten Erinnerungen gehört aber der Tod der früheren Person.
- außersinnliche Wahrnehmung: Bei der außersinnlichen Wahrnehmung (ASW) handelt es sich um ein parapsychologisches Phänomen, über dessen Existenz in der Wissenschaft noch kein Konsens besteht. Die starke Identifikation einer Person mit einer ganz bestimmten verstorbenen kann es nicht erklären. Überdies schneiden Menschen mit Erinnerungen an frühere Leben bei Messungen ihrer ASW-Fähigkeiten nicht besser ab als der Durchschnitt.
- Besessenheit: Die Besessenheit ist ein spiritistisches Modell, das annimmt, der Geist eines Verstorbenen würde die lebende Person beeinflussen oder vorübergehend verdrängen. Für beide Varianten gibt es in der Parapsychologie je einen Vorzeige-Fall, der sie dringend nahezulegen scheint. Es sind dies der Fall Thompson-Gifford und das bekannte Watseka-Wunder. Allerdings hat die erste Möglichkeit mit den meisten Fällen vom Reinkarnationstyp wenig Ähnlichkeit, und die zweite geht in die Reinkarnation über, wenn man den Zeitraum dieser Verdrängung auf das ganze Leben ausweitet.
- Reinkarnation: Für alle jene Fälle, deren Erklärung auf eine bisher genannte Weise nicht möglich oder extrem unplausibel wäre, vermutet die Reinkarnationsforschung das Vorliegen einer tatsächlichen Reinkarnation, da weitere Alternativen nicht bekannt sind.
Die Reinkarnationshypothese im allgemeinen (also nicht bezogen auf einen bestimmten Fall) nimmt an, dass die Reinkarnation ein Naturphänomen ist, das real eintreten kann, ohne sich darauf festzulegen, bei welchem Fall sie tatsächlich eingetreten ist. Dafür führt sie auch Argumente ins Treffen, die sich aus der statistischen Gesamtbetrachtung aller untersuchten Fälle ergeben.
Einige Ergebnisse der Forschungen
- Die untersuchten Fälle zeigen einen signifikanten Überhang an Erinnerungen an einen gewaltsamen Tod. Beim Rest mit Erinnerungen an einen natürlichen Tod trat dieser überwiegend plötzlich und zu einem Zeitpunkt ein, in dem der Verstorbene noch mitten im Leben stand. Stevenson verwendet dafür die Bezeichnung unfinished business. Ein Beispiel dafür wäre etwa eine Mutter mit kleinen Kindern.
- Die weit verbreitete Meinung, ein plötzlicher Tod bei starken Bindungen an das Leben würde zu einer früheren Reinkarnation führen, wird durch die Statistik unterstützt. Da solche den Großteil der untersuchten Fälle ausmachen, ist die Zwischenzeit zwischen dem Tod der früheren und der Geburt der gegenwärtigen Person zumeist kürzer als 3 Jahre.
- Die allermeisten Kinder, die Erinnerungen an ein Vorleben äußern, beginnen damit im Alter von 2 bis 5 Jahren. Ein Großteil von ihnen vergisst diese Erinnerungen bis zum Eintritt der Pubertät wieder.
- Fälle vom Reinkarnationstyp treten zwar nicht ausschließlich, aber doch sehr gehäuft in Ländern auf, in denen der Glaube an die Reinkarnation weit verbreitet ist. Das wird von Kritikern als Argument gegen die Echtheit der für die Reinkarnation sprechenden Fälle angeführt, die sie für ein kulturelles Konstrukt halten. Demgegenüber nimmt die Evans-Wentzsche Hypothese an, dass die religiösen Erwartungen zu Lebzeiten Einfluss auf postmortale Gegebenheiten und auch auf die Erinnerungsbereitschaft haben kann.
- Aus den bisherigen Untersuchungen ergaben sich keine Argumente zugunsten eines Karma, obwohl der Glaube daran in den Ländern Südasiens, in denen die meisten Fälle auftraten, ebenso stark ist wie der an die Reinkarnation selbst.
- Es zeigt sich die Gültigkeit des Storyschen Gesetzes (benannt nach Francis Story, der mit Stevenson zusammenarbeitete), wonach Menschen dazu neigen, in der Nähe ihres Todesortes zu reinkarnieren, solange kein besonderer Grund für eine größere Entfernung vorliegt.
- Fast in allen Fällen gibt es irgendeinen Zusammenhang zwischen der früheren und der gegenwärtigen Person, wobei der familiäre der häufigste ist. Auch die Leiche des Toten kann ein solches Verbindungsglied sein (beispielsweise in dem Fall der Bergung eines Toten im Fluss, an dessen Leben sich das bald danach dort geborene Kind später erinnert).
- In den meisten Fällen, die Zwillinge betreffen, zeigen sich Erinnerungen an enge Beziehungen dieser beiden in einem Vorleben.
- Ungelöste Fälle zeigen im Vergleich mit gelösten nur zwei statistisch signifikante Unterschiede: eine geringere Dauer der Erinnerungen (vermutlich bedingt durch vermindertes Interesse und die fehlende Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit den früheren Verwandten) und ein höherer Anteil an gewaltsamen Todesarten. Letzteres wird im Rahmen der Reinkarnationshypothese damit erklärt, daß solche Todesarten für die Betroffenen sehr eindrucksvoll sind, und deshalb leichter erinnert werden als andere, für die Identifizierung wichtige, Details (wie etwa der Name).
Einige bemerkenswerte Fallstudien
- Bridey Murphy, der bekannteste Fall, hypnotisch
- Imad Elawar, einer der am besten untersuchten Fälle
- Jasbir, Fall mit extremer Überlappung
- Katsugorô, der älteste Fall, über den Details bekannt sind
- Kenedi Alkan, ein Fall, der auf Selbsttäuschung beruhen dürfte
- King-David-Fall, der bekannteste betrügerische Fall
- Lorenz-Fälle, die bekanntesten Fälle Südamerikas (zwei zusammenhängende)
- Pollock-Fall, bekanntester Fall Europas, Zwillings-Fall
- Shanti Devi, bekanntester Fall aus der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts
- Tin Aung Myo, ungelöster internationaler Fall mit Geschlechtswechsel und Identifikationsstörung
- Wijeratne, einziger Fall mit Karma-Bezug, Erinnerung an das Leben eines Mörders