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Kannibalismus

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Als der Kannibalismus (von spanisch Caribales bzw. Canibales für den Stammesnamen der Kariben) wird das Verzehren von Artgenossen oder Teilen derselben bezeichnet. Insbesondere versteht man darunter den Verzehr von Menschenfleisch durch Menschen (Anthropophagie). Angewendet wird der Begriff sowohl in der Völkerkunde als auch in der Zoologie, ferner auch in der Psychiatrie als Form der Paraphilie (teilweise speziell des Fetischismus).

Etymologie

Das Wort Kannibalismus beruht auf der spanischen Bezeichnung "Canibales" für die Insel-Kariben auf den kleinen Antillen, die nach inzwischen widerlegter Behauptung Kannibalismus ausübten.

Kannibalismus in der Ethnologie

Die Europäer begegneten dem Kannibalismus in den vergangenen Jahrhunderten, als sie die überseeische Welt erkundeten. Der rituelle Verzehr von Menschenfleisch, teilweise als Menschenopfer, wurde von verschiedenen Kulturen ausgeübt. Dabei waren es vor allem die Körper oder Teile besiegter Feinde, welche die Kannibalen und Kopfjäger verzehrten um ihre Kräfte zu erlangen. Einige Völker aßen jedoch auch Teile, vornehmlich die Gehirne, von Verwandten und Freunden. Alle diese Verhaltensweisen dienten nicht dem normalen Nahrungserwerb. Sie hatten eher psychologische Hintergründe, die Verzehrenden wollten Eigenschaften der Toten wie Stärke oder Intelligenz mit der Mahlzeit aufnehmen. Deshalb wurden auch Körperteile bevorzugt, bei denen der Sitz der Zauberkraft der Seele vermutet wurde, wie beispielsweise Gehirne und Herzen.

Kannibalismus wird insofern als eine bestimmte Technik der Annäherung mittels Einverleibung verstanden. Daher fassen manche das christliche Abendmahl als sublimen Kannibalismus auf. In diesem Fall spricht man von einer Transsubstantiation, bei der Brot und Wein symbolisch in Leib und Blut Christi verwandelt und einverleibt werden.

Im Jahr 1876 wurde der englische Missionar Thomas Baker auf der Insel Nubutautau, die zu Fidschi gehört, auf Grund einer Tabuverletzung verspeist. Denn es gilt auf den Fidschi-Inseln als Beleidigung, wenn man die Haare eines anderen berührt. Die Bewohner der Insel entschuldigten sich bei den Nachfahren Bakers im Jahr 2003 in feierlicher Form.

Eine besondere Brisanz erhält der Kannibalismus seit der Entdeckung der Prionen. Diese für die Rinderkrankheit BSE und die Scrapie der Schafe verantwortlichen "Erreger" werden durch den Verzehr befallener Organe übertragen. Dies ist auch der Fall bei der Krankheit Kuru, die bei dem Stamm der Fore in Papua-Neuguinea auftaucht und auf einen rituellen Kannibalismus zurückgeführt wird.

Kannibalismus zum Nahrungserwerb

Fälle von Kannibalismus zum Nahrungserwerb sind nur aus Notlagen wie der sogenannten Donner Party bekannt. Besonders bei Schiffbruch wurde er praktiziert um das eigene Leben möglichst lange zu erhalten, wenn auch nur wenige Fälle dokumentiert sind, da es meist keine Überlebenden gab. In solchen Fällen wurde allerdings von einem Gerichtsverfahren wegen Totschlags gegen die geborgenen Kannibalen abgesehen. Besonders in Gegenden in denen tierisches Eiweiß Mangelware war, kam es zum Verzehr von Menschenfleisch im Sinne von Nahrung.

Bekannte Fälle, bei denen die Verspeisung von Leichen in Notsituationen vorkam, sind die Belagerung von St. Petersburg (damals Leningrad) 1941 - 1944 und der Flugzeugabsturz in den chilenischen Anden 1972.

Eine Chronik über die vielen anderen Fälle aus allen Kontinenten seit Christi Geburt stellte Josef Nussbaumer zusammen in seinem Buch: Hungernde, Unwetter und Kannibalen.

Früheste Belege

Kannibalismus ist ein sehr altes Phänomen, das durchaus auch in Europa verbreitet war. So wird zum Beispiel für den Neandertaler vermutet, dass er zumindest stellenweise rituellen Kannibalismus praktizierte. Darauf deuten Bearbeitungsspuren an menschlichen Knochenfunden. Diese wurden stellenweise aufgebrochen, was darauf schließen lässt, dass man ans Mark gelangen wollte.

Herodot (III,38) berichtet von einem (dunkelhäutigen) indischen Volksstamm der Kallatier, bei denen die Leichen der Eltern aufgegessen werden. Auch bei den Azteken war der Kannibalismus neben den Menschenopfern wahrscheinlich ein häufiges Ritual. Des Weiteren war der Kannibalismus bei den Niam-Niam am Tschadsee und den Batak auf Sumatra verbreitet.

Hinweise auf Kannibalismus sind jeweils kritisch zu beurteilen, da der Vorwurf bis in die Neuzeit als Vorwand für die Diskriminierung von Volksgruppen oder Kriege gegen sogenannte "Wilde" benutzt wurde.

Rechtsfälle zum Kannibalismus

Der bekannteste Kannibale der deutschen Rechtsgeschichte ist ohne Zweifel der aus Hannover stammende Fritz Haarmann. Es ist allerdings nie geklärt worden, ob der Fleischer seine Opfer selbst aß oder nur als Dosenfleisch verkaufte. [beides ist nicht erwiesen!] Der Fall wurde unter dem Titel "Der Totmacher" mit Götz George verfilmt.

Im Jahr 2003 erregte ein Fall von Kannibalismus in Deutschland Aufsehen. Der Berliner Bernd Jürgen Brandes antwortete auf eine Internetanzeige und stellte sich als Opfer für ein kannibalisches Essen zur Verfügung, das der Rotenburger Armin Meiwes vornahm. Mit Einverständnis des Berliners hat Meiwes den Berliner vor laufender Kamera getötet und Teile seines Körpers gegessen. Der Staatsanwalt plädierte auf Mord, die Verteidigung auf Tötung auf Verlangen. Das juristische Problem dabei ist, dass Brandes mit seiner Tötung einverstanden war und dass es im deutschen Recht keinen Paragraphen für Kannibalismus gibt.

Weitere rechtlich bekannte Kannibalen sind der Russe Andrej Tschikatilo, die Amerikaner Jeffrey Dahmer und Ed Gein sowie der Duisburger Joachim Georg Kroll.

Kannibalismus im Tierreich

Beim Kannibalismus in der Zoologie wird unterschieden zwischen aktivem und passivem Kannibalismus. Ein aktiver Kannibale jagt und tötet Artgenossen, bevor er sie frisst während ein passiver Kannibale nur bereits tote Artgenossen verspeist. Letztere sind häufig Aasfresser wie die Tüpfelhyänen der afrikanischen Steppe oder verschiedene Arten von Krabben im Meer.

Aktiver Kanibalismus ist sehr häufig unter Fischen zu beobachten. Es wird geschätzt, daß bis zu 90 Prozent aller jungen Hechte von größeren Artgenossen gefressen werden. Ähnliches gilt für den Flußbarsch sowie viele andere Raubfische.

Beim intrauterinem Kannibalismus der bei einigen ovoviviparen Haien vorkommt, fressen die Embyonen noch im Mutterleib andere (meist) unbefruchtete Eier.(Oophagie) Im Falle der Tigerhaie fressen die Jungtiere sogar andere Föten, so dass vom gesamten Wurf lediglich 2 Jungtiere geboren werden, da das Muttertier 2 getrennte Gebärmütter hat.

Gottesanbeterinnen und andere räuberische Insekten sowie Webspinnen verhalten sich nach herrschender Meinung häufig kannibalisch, da sie ihre Artgenossen nicht von Beutetieren unterscheiden können. Schwierig wird das bei der Paarung. Die Männchen müssen versuchen, ihre Partnerin zu überraschen oder durch Fesseln oder "Brautgeschenke" ruhig zu stellen. Nicht immer klappen diese Strategien und so werden die Werber häufig noch vor oder während der Paarung zu einer willkommenen Beute des Weibchens.

Bei Mäusen und Ratten kann Kannibalismus ebenfalls auftreten. Bei sprunghaften Zunahmen der Populationsdichte werden schwächere Jungtiere teilweise von gestreßten Erwachsenen getötet und gefressen. Dieses Phänomen tritt auch bei der intensiven Tierhaltung auf. Hier fressen sich Schweine gegenseitig die Schwänze oder Ohren ab, Hühner verletzen sich durch gegenseitiges Anpicken.

Männliche Alligatoren und Warane töten häufig Artgenossen, denen sie überlegen sind und fressen diese. So stellen bei solchen Arten besonders die ausgewachsenen Männchen eine große Gefahr für Jungtiere dar, die sich entsprechend bis zu einer bestimmten Körpergröße verstecken müssen.

Ein besonderer Fall von Kannibalismus im Tierreich sorgte gerade in den letzten Jahren für Aufregung. Es existieren viele Berichte über Löwen, die Junge töten und dann angeblich auch fressen. Dabei töten diese Löwen nicht die eigenen Jungtiere, sondern die anderer Paare. Durch die Tötung der Jungtiere regt das Männchen einerseits das Weibchen zu erneuter Paarungsbereitschaft an und schaltet gleichzeitig potentielle spätere Rivalen für seinen Nachwuchs aus. Auch bei der Hauskatze ist ein solches Verhalten häufig. Dieses als Infantizid bezeichnete Phänomen taucht auch bei verschiedenen Primaten auf, so bei Mantelpavianen und bei Hulmanen, eventuell auch bei Schimpansen.

Autokannibalismus

Als Autokannibalismus bezeichnet man den Verzehr von Teilen des eigenen Körpers. Neben der Autoaggression kann ein Grund dafür zum Beispiel eine abnorme Spielart (und abnorme Intensität) des Sexualtriebs sein (spezieller Fetisch). Allerdings gilt auch Fingernägel kauen als autokannibal.

Begriffsübertragung

Auch in die Astronomie hat der Begriff Einzug gehalten, hier bezeichnet er das Verschlucken kleiner Galaxien durch größere Nachbarn. Ebenfalls übertragen wurde der Begriff auf die Fertigungssteuerung: Hier bezeichnet er (allerdings nicht normgerecht) den Ausbau von Teilen aus bereits montierten Baugruppen oder Produkten, um die so "kannibalisierten" Teile in andere Baugruppen einzubauen, die schneller fertig werden müssen.

In der Wirtschaft gibt es den Begriff der Kannibalisierung.

Literatur

  • Richard Andree: Die Anthropophagie, eine ethnographische Studie, Leipzig, 1887
  • Oscar Kiss Maerth: Der Anfang war das Ende — Der Mensch entstand durch Kannibalismus, Düsseldorf, 1971
  • Josef Nussbaumer unter Mitarbeit von Guido Rüthemann: Hungernde, Unwetter und Kannibalen, Studienverlag Innsbruck/München 2004. Weitere Infos dazu
  • Heidi Peter-Röcher: Kannibalismus in der prähistorischen Forschung. Studien zu einer paradigmatischen Deutung und ihren Grundlagen. Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie 20. Bonn : Habelt 1994 ISBN 3774926468.
  • Heidi Peter-Röcher: Mythos Menschenfresser. Ein Blick in die Kochtöpfe der Kannibalen Beck'sche Reihe 1262. München : Beck, 1998. ISBN 3406420621. Siehe Rezensionen in der Jungen Welt
  • Michael Schneider: Tödliches Begehren - Kannibalen und Serienmörder, BOD, Norderstedt 2004, ISBN 3833412690
  • Reay Tannahill: Fleisch und Blut — Eine Kulturgeschichte des Kannibalismus, München, 1979, ISBN 344211215X
  • Ewald Volhard: Kannibalismus, 1939, 540pp. 42 figs. 20 maps, Die umfangreichste ethnologische Studie zum Thema