Gladio
Gladio (vom lateinischen Wort für Schwert) war der Name einer Geheimoperation von NATO, CIA und des britischen MI6 während des Kalten Krieges. Besonders in Italien, aber auch in fast allen anderen westeuropäischen Ländern wurden Agenten ausgebildet, die im Falle einer Besetzung des jeweiligen Landes durch Truppen des Warschauer Vertrags Guerillaoperationen und Sabotage durchführen sollten (sogenannte "stay-behind"-Operationen). Zu diesem Zweck wurden europaweit geheime, illegale Waffendepots angelegt. Die Mitglieder von Gladio wurden unter anderem aus militärischen Spezialeinheiten, Geheimdienstkreisen und Rechtsextremisten rekrutiert, letztere teilweise mit bekanntem kriminellem Hintergrund.
Die Existenz der Untergrund-Armeen wurde vor der Bevölkerung und den Parlamenten geheim gehalten und war in den einzelnen Ländern jeweils nur einem kleinen Kreis von Regierungsmitgliedern bekannt. 1990 deckte der italienische Untersuchungsrichter Felice Casson nach Recherchen in den Archiven des Militärgeheimdienstes SISMI die Existenz von Gladio auf. Er bewies, dass Mitglieder des italienischen Gladio-Zweigs von den 60ern bis in die 80er Jahre hinein zahlreiche politisch motivierte Terroranschläge und Morde in Italien begangen hatten. Dabei hatte ein Netzwerk von geheimdienstlichen Stellen durch gezielte Verbreitung von Falschinformationen und Fälschung von Beweisen dafür gesorgt, dass die Verbrechen linksextremen Terroristen zugeordnet wurden Vorlage:Lit und Vorlage:Lit, siehe auch Rote Brigaden, Propaganda Due und Strategie der Spannung.
Der italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti gab unter dem Druck der nachfolgenden parlamentarischen Untersuchung an, dass Gladio auch in zahlreichen anderen europäischen Ländern existierte, was einen europaweiten politischen Skandal auslöste. Dies führte zu parlamentarischen Anfragen in mehreren Ländern und zu Untersuchungskommissionen in Italien, Belgien und der Schweiz.
Das Europaparlament drückte nach einer Debatte am 22.11.1990 seinen scharfen Protest gegenüber der NATO und den beteiligten Geheimdiensten aus. Es stellte fest, dass "diese Organisation (das Gladio-Netzwerk) über 40 Jahre hinweg außerhalb jeder parlamentarischen Kontrolle verdeckte geheimdienstliche und bewaffnete Operationen in mehreren Mitgliedsländern der EU betrieben" hatte, dass "die Militärgeheimdienste bestimmter Länder erwiesenermaßen in gravierende Terrorakte und kriminelle Aktivitäten verwickelt waren" und dass die Urheber über Gladio illegalen Einfluss auf die Innenpolitik zahlreicher EU-Staaten genommen hätten Vorlage:Lit.
Unabhängige Untersuchung
Die bisher einzige länderübergreifende, unabhängige Untersuchung zu Gladio war ein Forschungsprojekt an der ETH Zürich (siehe Weblinks). Der Historiker Dr. Daniele Ganser schrieb über die Ergebnisse Vorlage:Lit:
"Die Stay-behind-Armeen waren dem Volk, dem Parlament und den meisten Regierungsmitgliedern unbekannt und bildeten in ganz Westeuropa ein unsichtbares, koordiniertes, geheimes Sicherheitsnetz. In einigen Ländern, aber nicht in allen, mutierten die Sicherheitsnetze jedoch auch zu Terrorzellen. (...) Washington, London und der italienische militärische Geheimdienst befürchteten, dass der Einzug der Kommunisten in die (italienische) Regierung die Nato von innen heraus schwächen könnte. Um dies zu verhindern, wurde das Volk manipuliert: Rechtsextreme Terroristen führten Anschläge aus, diese wurden durch gefälschte Spuren dem politischen Gegner angelastet, worauf das Volk selber nach mehr Polizei, weniger Freiheitsrechten und mehr Überwachung durch die Nachrichtendienste verlangte."
Die Forschungsergebnisse flossen in das Buch "NATO's Secret Armies: Operation Gladio and Terrorism in Western Europe" ein Vorlage:Lit, das als einzige umfassende schriftliche Dokumentation zu Gladio gelten kann (2005). Eine Kurzversion der Ergebnisse findet sich in dem Artikel "Nato-Geheimarmeen und ihr Terror" der Schweizer Tageszeitung "Der Bund" Vorlage:Lit, eine ausführlichere Darstellung liefert der 28-seitige Artikel "Terrorism in Western Europe: An Approach to NATO’s Secret Stay-Behind Armies aus der Zeitschrift "The Whitehead Journal of Diplomacy and International Relations" Vorlage:Lit.
Die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse im Jahr 2004 war Anlass für zahlreiche Presseartikel (siehe Weblinks), unter anderem in der "Neuen Zürcher Zeitung" (NZZ) und in "Der Spiegel".
Italien: Terror gegen die Zivilbevölkerung
In Italien war der Einsatz von Gladio auch für den möglichen Fall einer demokratischen Regierungsübernahme durch die Kommunistische Partei Italiens gedacht, die zeitweilig die stärkste Partei im italienischen Parlament war. Siehe dazu auch die Operation Demagnetize der CIA in Italien und Frankreich.
Mitglieder von Gladio waren in in den 70er und 80er Jahren Urheber zahlreicher Terroranschläge in Italien, die von offizieller Seite ursprünglich linksradikalen Terrorgruppen zugeordnet wurden. Dazu gehörte der verheerende Bombenanschlag auf den Hauptbahnhof von Bologna mit 85 Toten und 200 Verletzten im Jahr 1980 Vorlage:Lit. In diesem Zusammenhang ist auch die in Gerichtsverfahren festgestellte Verbindung zu der Geheimloge Propaganda Due (P2) relevant. Für eine ausführliche Darstellung siehe Vorlage:Lit. Es gibt auch Hinweise auf eine Beteiligung von Gladio-Mitgliedern in die Entführung und Ermordung des italienischen Spitzenpolitikers Aldo Moro, siehe dazu Rote Brigaden. Das wegen Mordes verurteilte Gladio-Mitglied Vincenzo Vinciguerra prägte für die gemeinsame Strategie hinter den Verbrechen den Begriff Strategie der Spannung (siehe auch Zitate).
Gladio in Deutschland
Eine Verstrickung von Gladio-Mitgliedern in den Bombenanschlag auf das Münchener Oktoberfest 1980 ist nicht bewiesen, wird aber nach neueren Forschungsergebnissen durch die damaligen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft nahegelegt Vorlage:Lit. Heinz Lembke, der Hauptzeuge für diesen Zusammenhang, war Eigentümer von 33 illegalen Waffen- und Sprengstoffdepots, deren Entdeckung 1980 ein breites Medienecho fand: Sie enthielten unter anderem automatische Waffen, 14.000 Schuss Munition, 50 Panzerfäuste, 156 kg Sprengstoff und 258 Handgranaten. Mitglieder der tatverdächtigen rechtsextremen Wehrsportgruppe Hoffmann hatten ausgesagt, dass Lembke sie mit Waffen und Sprengstoff versorgt habe. Lembke wurde am 1. November 1981, einen Tag vor seiner Vernehmung durch einen Staatsanwalt zum Oktoberfest-Attentat, erhängt in seiner Gefängniszelle aufgefunden Vorlage:Lit. Er hatte zuvor angekündigt, umfangreiche Erklärungen über seine Hintermänner abzugeben. Die Ermittlungen verliefen nach seinem Tod im Sand. Bis heute gilt offiziell die These von der Einzeltäterschaft des bei der Explosion der Bombe getöteten Gundolf Köhler.
Die SPD-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Rechtsauschusses Herta Däubler-Gmelin stellte 1981 eine parlamentarische Anfrage über die Zusammenhänge zwischen dem Fall Lembke und dem Oktoberfest-Attentat. Die Antwort von Andreas von Schoeler, damals Staatssekretär im Bundesinnenministerium, war: "Es besteht keine Verbindung" Vorlage:Lit.
Offizielle Darstellung und Untersuchungen
Der Öffentlichkeit wurde Gladio erstmals bekannt, als der damalige italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti am 3. August 1990 im Rahmen einer Parlamentsanfrage die Existenz einer "Operation Gladio" des militärischen Geheimdienstes SISMI bestätigte. Im Oktober des selben Jahres gab er unter dem Druck der an die Öffentlichkeit gekommenen Briefe des von den Roten Brigaden entführten und ermordeten Politikers Aldo Moro zu, dass die Operation entgegen seiner ursprünglichen Aussagen noch bis in die späten 70er Jahre lief und dass die NATO maßgeblich an der illegalen Operation beteiligt war Vorlage:Lit.
Es folgte eine Reihe von Dementis der Regierungen anderer europäischer Länder. In der Schweiz, Belgien und Italien fanden Anfang der 90er Jahre parlamentarische Untersuchungen zu Gladio statt. Der Schweizer Oberstleutnant Herbert Alboth, Mitglied der Geheimarmee, kündigte 1990 vor der parlamentarischen Untersuchungskommission an, dass er alle seine Unterlagen und Informationen über die P26 (die Schweizer Gladio-Gruppe) übergeben wolle. Kurz vor seiner Aussage wurde er ermordet in seiner Berner Wohnung gefunden, erstochen mit seinem eigenen Armee-Bajonett Vorlage:Lit.
In Deutschland stellten die Grünen eine parlamentarische Anfrage. Die Bundesregierung antwortete sinngemäß, dass ihr keinerlei Kenntnisse über aktuelle Aktivitäten von Gladio in Deutschland vorlägen bzw. dass diese spätestens 1972 eingestellt worden seien.
Es ist bis heute nicht bekannt, ob Gladio nach dem Ende des Kalten Kriegs vollständig eingestellt wurde und was mit der gelagerten Ausrüstung passiert ist.
Zitate
Man musste Zivilisten angreifen, Männer, Frauen, Kinder, unschuldige Menschen, unbekannte Menschen, die weit weg vom politischen Spiel waren. Der Grund dafür war einfach. Die Anschläge sollten das italienische Volk dazu bringen, den Staat um grössere Sicherheit zu bitten. Diese politische Logik liegt all den Massakern und Terroranschlägen zu Grunde, welche ohne richterliches Urteil bleiben, weil der Staat sich ja nicht selber verurteilen kann.
Vincenzo Vinciguerra, 1990 wegen Mordes an drei Carabinieri verurteilter Rechtsextremist und Gladio-Mitglied Vorlage:Lit
Lange habe ich darum gekämpft, um endlich zu erfahren, wer oder welche (Attentäter) es wirklich waren. Ich musste jedoch lernen, dass man mir darauf nie eine ehrliche Antwort geben wird. (...) Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man sich nur Ärger einhandelt, wenn man insistiert.
Ignaz Platzer, der durch das Bombenattentat auf das Oktoberfest 1980 seine beiden Kinder verlor. Quelle: Süddeutsche Zeitung, München, 27.9.1996, S. 39
Ich bin ins Gefängnis gegangen, weil ich die Existenz dieser supergeheimen Organisation nicht enthüllen wollte. Und jetzt kommt Andreotti und erzählt es dem Parlament!
General Vito Miceli, ehemaliger Chef des italienischen Militärgeheimdienstes SID und NATO-Funktionär, nachdem der italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti die Existenz von Gladio bestätigt hatte. Quelle: Italienisches Magazin "Europeo", 16. November 1990, zitiert aus Vorlage:Lit
Terror eignet sich mehr als irgendeine andere militärische Strategie dazu, die Bevölkerung zu manipulieren.
Dr. Daniele Ganser, Historiker und Gladio-Forscher (Quelle: Der Europäer, Jg. 9 / Nr. 6 / April 2005)
Siehe auch
- Strategie der Spannung, zu den politischen Hintergründen von Gladio
- Propaganda Due, italienischer Geheimbund mit engen Verbindungen zu Gladio, prominentestes Mitglied war Silvio Berlusconi
- Demagnetize, Geheimoperation der CIA in Italien und Frankreich in den 50er Jahren
- Rote Brigaden, italienische linksextremistische Terrorgruppe der 70er Jahre, von Gladio-Mitgliedern teilweise unterwandert
- NATO
- CIA
- Giulio Andreotti, langjähriges Mitglied der italienischen Regierung als Minister und Ministerpräsident, 2002 wegen Mordes verurteilt (Urteil 2003 aufgehoben), Mitglied der Democrazia Cristiana
- Aldo Moro, Politiker der Democrazia Cristiana, der von den roten Brigaden entführt und ermordet wurde, kurz nachdem er den sogenannten "historischen Kompromiss" mit der KPI eingeleitet hatte
Literatur
- [1] Daniele Ganser: Nato-Geheimarmeen und ihr Terror. In: "Der Bund", Bern, 20.12.2004, S. 2
- [2] Daniele Ganser: Nato's Secret Armies: Operation Gladio and Terrorism in Western Europe. Frank Cass, London 2005, ISBN 0714685003
- [3] Daniele Ganser: Terrorism in Western Europe: An Approach to NATO’s Secret Stay-Behind Armies. In: The Whitehead Journal of Diplomacy and International Relations, South Orange NJ, 2005, Vol. 6, 1, S. 69. Sehr lesenswerter Artikel (28 Seiten, PDF) , basierend auf den Ergebnissen des Forschungsprojekts an der ETH Zürich
- [4] Daniele Ganser: The Secret Side of International Relations: An approach to NATO’s stay-behind armies in Western Europe. Konferenzbeitrag, 55th Political Studies Association Annual Conference, University of Leeds, 4.-7. April 2005
- Karl Hoffmann: Vor 25 Jahren: Bomben-Anschlag im Bahnhof von Bologna. Italien und der Terror von rechts. In: Deutschlandfunk, 2.8.2005
- Johannes Lieberer: Wiesn-Attentat: Geheimarmee unter Verdacht. Abendzeitung, München, 17.5.2005, S. 3. Artikel über das Oktoberfest-Attentat 1980.
- Nikolaus Ramseyer: Schweizer Geheimtrupp passte zum Gladio-Konzept der USA. Die 1990 enttarnte Geheimarmee P-26 war via Grossbritannien indirekt in die Gladio-Planung der USA und der Nato eingebunden. In: Basler Zeitung, Basel, 16.12.2004, S.4 unten
- Leo A. Müller, Werner Raith (Hrsg.): Gladio, das Erbe des Kalten Krieges. Der NATO-Geheimbund und seine deutschen Vorläufer. Rowohlt, Reinbek 1991, ISBN 3499129930
Weblinks
- Forschungsprojekt zu Gladio mit umfangreicher, online einsehbarer Dokumentensammlung von Dr. Daniele Ganser, Historiker an der ETH Zürich
- Interview mit Dr. Daniele Ganser über die Ergebnisse des Gladio-Forschungsprojekts an der ETH Zürich
- guter Hintergrundartikel von www.quibono.net
- Zahlreiche Presseartikel zu Gladio, unter anderem aus "Der Spiegel" und der "Neuen Zürcher Zeitung (NZZ)"
- Ein Überblick über die italienischen Wurzeln von Gladio
- Gladio oder die Rache Moros Ein Überblick über die Versuche der Aufarbeitung von Gladio in verschiedenen Ländern