Reserveoffizier
Reserveoffiziere sind Offiziere des Beurlaubungsstandes, die während Wehrübungen den Soldatenstatus besitzen. Im Dienstverhältnis haben sie die Befehlsgewalt über die unterstellten Unteroffiziere und die Mannschaften. Seit den Preußischen Reformen stellen sie ein Bindeglied zwischen Militär und Gesellschaft dar.
Geschichte (Deutschland)

Das Königreich Preußen wurde unter Friedrich Wilhelm I. seit Mitte des 18. Jahrhunderts militarisiert. Mit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Zuge der Preußischen Heeresreform (1807–1814) von Scharnhorst, Gneisenau, Boyen und Clausewitz stieg auch die Bedeutung der Reservisten für das Militär an. Im Kaiserreich genoss der „bürgerliche Reserveoffizier“ hohes Ansehen. Die Bedeutung die dem Militär zu dieser Zeit zukam findet sich in den Worten des Philologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff wieder:[1]
„Ich war damals schon jahrelang Professor wie heute, dachte und denke nicht gering von meinem Lehramte. [...] Aber wie geringfügig kam alles, was unsereiner leisten kann, demgegenüber vor was mein Hauptmann mit seiner [...] Arbeit erreichte, der Erzieher, der Hochschullehrer des Volkes.“
Überwiegend stammten die Reserveoffiziere aus großbürgerlichen Familien. Dessen Väter waren hohe Beamte, Gutsherren, Industrielle und Angehöriger der freien Berufe (Rechtsanwälte, Ärzte etc.). Reserveoffiziere nahmen mitunter im zivilen Berufsleben leitende Funktionen in Wirtschaft und Verwaltung wahr. Auch sie verkörperten die klassischen Offizierstugenden wie Redlichkeit, Tapferkeit, Großmut und Höflichkeit (siehe Kardinaltugenden). Der Historiker Friedrich Meinecke formulierte 1946 die Stellung des Offiziers in der preußisch-deutschen Gesellschaft in folgendem Satz:[2]
„Der preußische Leutnant ging als junger Gott, der bürgerliche Reserveleutnant wenigstens als Halbgott durch die Welt“
Reserveoffiziere übernahmen allerdings ihre Kosten für Ausrüstung, Bekleidung, Unterbringung und Verpflegung selbst. Die gesamten Aufwendungen beliefen sich je nach Truppengattung auf zwischen 2.000 und 3.000 Reichsmark. Damit wurden die Angehörigen der unteren Mittelschicht wie Handwerker und Volksschullehrer von dieser elitären Laufbahn de facto ferngehalten. Formal schrieb der Dienstherr den Bewerbern das Erreichen der Obersekundarreife eines Gymnasiums vor. Diese sogenannten Einjährig-Freiwilligen dienten gemäß den Richtlinien nur ein Jahr anstelle von drei Jahren im Heer oder bei der Marine.
Dem fähigsten Drittel ermöglichte das aktive Offizierskorps die Ausbildung zum Reserveoffizier. Die Anwärter erhielten nach bestandener Prüfung das Offizierspatents und wurden nach einer weiteren Wehrübung zum Leutnant der Reserve ernannt. Damit waren sie hoffähig.
Ganze Bevölkerungsschichten wie Katholiken, Atheisten und Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei wurden systematisch diskriminiert und weniger befördert. Allen voran Bürger jüdischen Glaubens wurden vom Offiziersstand fast vollständig ausgeschlossen. Im Jahr 1911 gab es im Königreich Preußen lediglich 21 ältere jüdische Reserveoffiziere, die vor 1885 befördert wurden.[3] Bekanntestes Beispiel für die antisemitische Haltung der Armee wurde der Fall des liberalen Politikers Walther Rathenau, der trotz seiner besitzbürgerlichen Herkunft nicht in das Offizierskorps aufgenommen wurde. Nur im Königreich Bayern (und bedingt im Königreich Sachsen) zählte man 1912 eine nennenswerte Anzahl von jüdischen Reserveoffizieren, die in erster Linie als Ärzte und Veterinäre eingesetzt wurden.
Nach der Beförderung übten die ausgebildeten Reserveoffiziere in der Landwehr. Mit den Roonschen Reformen von 1860 dienten sie fortan in bürgerlichen Verbänden u.a. in der Artillerie und bei den Pionieren. Im Jahr 1914 zählte die Statistik mehr als 120.000 Reserveoffiziere in den Dienstgraden von Leutnant bis Major. Der zeitgenössische Historiker Heiger Ostertag urteilte über ihre Leistungen im Ersten Weltkrieg positiv, nämlich dass sie[4]
„militärische Leistungsträger waren und – unter Berücksichtigung ihrer relativ kurzen Ausbildungszeit – die aktiven Offiziere voll ersetzten.“

Im Widerstand gegen den Nationalsozialismus beteiligten sich viele aktive Reserveoffiziere wie Caesar von Hofacker, Fritz-Dietlof von der Schulenburg, Peter Graf Yorck von Wartenburg und Ulrich Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld. Sie knüpften Kontakte zwischen den zivilen (Kreisauer Kreis) und militärischen Oppositionellen um Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg.[5]
1967 wurden im Auftrag des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg) wehrsoziologische Untersuchungen durchgeführt.[6] Den Ergebnissen nach wurden Reservisten im Durchschnitt mit 25 bis 26 Jahren zum Reserveoffizier befördert. Sehr häufig wurden die jungen Reserveoffiziere als Zugführer oder stellvertretende Kompaniechefs eingesetzt. Mehrheitlich waren die Befragten Studenten der Rechtswissenschaft, Philologie und Pädagogik, gefolgt von Wirtschafts- und Sozialwissenschaft. Prozentual waren die Väter beruflich überwiegend gehobene bzw. höhere Beamte, leitende Angestellte oder Selbstständige.
Laufbahn (Bundeswehr)
Für die Deckung des Personalbedarfs der Reserveoffiziere ist die Abteilung V des Personalamtes der Bundeswehr zuständig. Voraussetzung für die Ausbildung zum Reserveoffizier ist die Bewerbung und Zulassung zum Reserveoffizieranwärter (ROA). Luftwaffe und Marine wählen ihren Nachwuchs in einer Eignungsfeststellung der Offizierbewerberprüfzentrale in Köln aus. Bewerber für das Heer müssen in das jeweilige Zentrum für Nachwuchsgewinnung und benötigen eine Beurteilung des Kompaniechefs.
Eignung
Das BMVg stellte folgendes Anforderungsprofil für die Laufbahn der Reserveoffiziere auf:[7]
- eine ausgeprägte Bereitschaft, sich einzusetzen und Verantwortung zu übernehmen,
- die besondere Eignung zur Menschenführung,
- eine hohe Selbstständigkeit und vorbildliches Verhalten, besonders in schwierigen Lagen,
- Planungs- und Organisationsvermögen,
- eine ausgeprägte Lernbereitschaft und -fähigkeit sowie
- eine hohe physische und psychische Belastbarkeit.
Beförderung

Die Reserveoffiziere werden nach Bedarf sowie Eignung, Leistung und Befähigung befördert:
- Leutnant/ Leutnant zur See
- Oberleutnant/ Oberleutnant zur See
- Hauptmann/ Kapitänleutnant
- Major/ Korvettenkapitän
- Oberstleutnant/ Fregattenkapitän
- Oberst/ Kapitän zur See
Für die Sanitätsoffiziere (Human- und Veterinärmediziner, Pharmazeuten und Zahnmediziner) gelten eigene Dienstgrade. Der einzige General der Reserve der Bundeswehr war der 1962 zum Brigadegeneral beförderte Friedrich August von der Heydte.
Bekannte Reserveoffiziere
Die nachfolgende Liste enthält bekannte Reserveoffiziere mit ihren erreichten Dienstgraden:

- Rainer Barzel (Oberleutnant zur See d.R.), Präsident des Deutschen Bundestages a.D.
- Klaus von Bismarck (Oberstleutnant d.R.), Intendant des WDR
- Eberhard von Breitenbuch (Rittmeister d.R.), Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944
- Heinrich Brüning (Leutnant d.R.), Reichskanzler
- Friedrich-Carl Bruns (Korvettenkapitän d.R.), Ständiger Vertreter der BRD bei den UN-Organisationen in Rom
- Walter Cramer (Oberleutnant d.R.), Unternehmer und Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944
- Alexander Duncker (Oberstleutnant d.R.), Verleger
- Thomas Enders (Major d.R.), Manager
- Jörg van Essen (Oberst d.R.), Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion
- Johann Maria Farina XIX (Oberstabsapotheker d.R.), Parfümeur
- Carl Friedrich Goerdeler (Hauptmann d.R.), Oberbürgermeister von Leipzig und Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944
- Joachim Herrmann (Major d.R.), Landesinnenminister
- Caesar von Hofacker (Oberstleutnant d.R.), Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944
- Alexander Hold (Hauptmann d.R.), Fernsehrichter
- Walter Homolka (Oberstleutnant d.R.), Rektor des Abraham-Geiger-Kollegs
- Eckart von Klaeden (Korvettenkapitän d.R.), Staatsminister bei der Bundeskanzlerin
- Horst Köhler (Leutnant d.R.), Bundespräsident a.D.
- Fritz von der Lancken (Oberstleutnant d.R.), Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944
- Thomas de Maizière (Oberleutnant d.R.), Bundesverteidigungsminister
- Carsten Maschmeyer (Leutnant d.R.), Finanzunternehmer
- Hartmut Mehdorn (Hauptmann d.R.), Manager
- Christoph Müller (Leutnant d.R.), Botschafter der BRD in Peru
- Arend Oetker (Hauptmann d.R.), Unternehmer
- Wilhelm von Preußen (Oberleutnant d.R.), Kronprinz des Deutschen Reiches
- Joachim Ringelnatz (Leutnant d.R.), Schriftsteller
- Helmut Schmidt (Hauptmann d.R.), Bundeskanzler a.D.
- Fritz-Dietlof von der Schulenburg (Oberleutnant d.R.), Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944
- Nikolaus Schweickart (Oberleutnant d.R.), Manager
- Ulrich Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld (Hauptmann d.R.), Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944
- Hermann Simon (Leutnant d.R.), Unternehmensberater
- Holger Stahlknecht (Oberstleutnant d.R.), Landesinnenminister
- Peer Steinbrück (Leutnant d.R.), Bundesfinanzminister a.D.
- Lutz Stratmann (Leutnant d.R.), Landeswissenschaftsminister a.D.
- Peter Graf Yorck von Wartenburg (Oberleutnant d.R.), Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944
- Bernhard Weiß (Rittmeister d.R.), Polizeivizepräsident von Berlin
- Manfred Weiß (Oberst d.R.), Landesjustizminister a.D.
- Manfred Wörner (Oberst d.R.), ehemaliger NATO-Generalsekretär
Siehe auch
Rezeption
- Heinrich Mann: Der Untertan, Roman, 1918.
- Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick, Tragikomödie, 1931.
Literatur
- Der bürgerliche Reserveoffizier. In: Wolfram Wette: Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2011, S. 60 ff.
- Das vorherrschende Bild des Offiziers/ Reserveoffiziers in der preußischen Öffentlichkeit. In: Jens Riede: Offizier im Kaiserreich – Verkörperung der Gesellschaft? Eine Betrachtung der militärischen Führungskräfte unter besonderer Berücksichtigung Preußens 1871–1914. Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg 2009, S. 99 ff. (= Hamburger Arbeiten zur Allgemeinen Erziehungswissenschaft Nr. 2)
- Die Kampagne der deutschen Juden für den „Reserve-Offizier“. In: Jacob Rosenthal: Die Ehre des jüdischen Soldaten. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen. Campus Verlag, Frankfurt 2007, S. 17 ff.
- Rudolf Warnke: Der übende Reserveoffizier 1967. Aus der Untersuchungsreihe „Der Offizier der Bundeswehr“. Herausgegeben vom Bundesminister der Verteidigung, Führungsstab der Streitkräfte I/7, 1970. (= Schriftenreihe Innere Führung. Reihe: Führungshilfen Wehrsoziologische Studien, Heft 8)
- Max J. Loewenthal: Das jüdische Bekenntnis als Hinderungsgrund bei der Beförderung zum preußischen Reserveoffizier. Im Auftrag des Verbandes der Deutschen Juden. Hermann, Berlin 1911.
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Militarismus und Wissenschaft. In: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Reden aus der Kriegszeit. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1915, S. 83 f.
- ↑ Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen. Brockhaus, Wiesbaden 1946, S. 25.
- ↑ Esther Schwarz: Militarismus im Kaiserreich. In: Ursula Blömer, Detlef Garz (Hg.): „Wir hatten ein herrliches Leben ...“ Jüdische Kindheit und Jugend im Kaiserreich 1871–1918. BIS-Verlag, Oldenburg 2000, S. 53 ff.
- ↑ Heiger Ostertag: Bildung, Ausbildung und Erziehung im Kaiserreich 1871–1918. Eliteideal, Anspruch und Wirklichkeit des Offizierkorps. Lang, Frankfurt 1990, S. 296.
- ↑ Karl Heinz Roth, Angelika Ebbinghaus (Hrsg.): Rote Kapellen – Kreisauer Kreise – Schwarze Kapellen. Neue Sichtweisen auf den Widerstand gegen die NS-Diktatur 1938–1945. VSA-Verlag, Hamburg 2004, ISBN 3-89965-087-5, S. 159.
- ↑ Rudolf Warnke: Der übende Reserveoffizier 1967. Aus der Untersuchungsreihe „Der Offizier der Bundeswehr“. Herausgegeben vom Bundesminister der Verteidigung, Führungsstab der Streitkräfte I/7, 1970. (= Schriftenreihe Innere Führung. Reihe: Führungshilfen Wehrsoziologische Studien, Heft 8)
- ↑ Reserveoffizier – Eine Laufbahn mit hohem Stellenwert, nicht nur für die Bundeswehr