Ehrenmord
Laut dem Weltbevölkerungsbericht der UNO werden alljährlich weltweit mindestens 5.000 Mädchen und Frauen im Namen der sittlichen Ehre ermordet. Grundlage hierfür ist der traditionelle Ehrenkodex in bestimmten streng gläubigen Teilen bestimmter Religionsgemeinschaften, ohne dass jedoch die entsprechende Religion (meist der Islam) diese Handlungen gutheißt oder gar fordert. Sie treten meist in islamisch geprägten Ländern auf, beschränken sich jedoch nicht auf diese. In einigen islamischen Staaten sind Ehrenmorde vollkommen unbekannt.
Auch Männer werden im Namen der „sittlichen Ehre“ umgebracht (in der Regel von anderen Männern). Auch in diesen Fällen spricht man von Ehrenmord.
Ehrbegriff
Im Wertesystem vieler traditionell streng patriarchaler Länder hängt die gesellschaftliche Ehre der Männer in einer Familie auch vom normgerechten Verhalten ihrer weiblichen Familienangehörigen ab.
Als Verletzung der sittlichen Ehre gilt, wenn eine Frau die ihrem Geschlecht auferlegten Regeln und Normen verletzt, beispielsweise wenn eine Frau eine außereheliche sexuelle Beziehung eingeht, bzw. auch nur im Verdacht steht, dies getan zu haben. Von der Verletzung der sexuellen Ehre ist die ganze Familie betroffen, vor allem ihre männlichen Verwandten, die als verantwortlich für den Schutz der Ehre gelten. Die Ehre wird auch verletzt, wenn eine Frau von einem Mann vergewaltigt wird oder wenn er sie mit falschen Versprechen zu sexuellem Kontakt (quasi) gezwungen hat. In diesen Fällen trifft die Frau aber keine Schuld, den Täter umso mehr.
Der Begriff Ehrenmord bezieht sich auf die traditionelle Vorstellung von Ehre, welche nichts mit der Achtungswürdigkeit im Sinne der Aufklärung zu tun hat.
Ehrverletzung
Je nachdem, wie streng der Ehrbegriff ausgelegt wird, verletzt eine Frau die Familienehre sehr schnell. Es reicht, wenn sie ihre von der UNO garantierten Menschenrechte in Anspruch nimmt und beispielsweise einen für sie auserwählten Ehemann ablehnt (siehe Zwangsheirat) oder ihren Ehemann verlassen will. In Ländern wie Afghanistan oder Pakistan reicht je nachdem bereits der Wille zu einer solchen "Tat" oder gar der Verdacht, diesen Willen zu haben, damit sich die männlichen Verwandten in ihrer Ehre gefährdet sehen.
Ein Mann und seine Familie sind in diesem kulturellen Verständnis auch dann entehrt, wenn die Frau keine eigene Schuld an den Vorkommnissen trägt: zum Beispiel, wenn sie vergewaltigt wird oder wenn sich ein unpassender Mann in sie verliebt. Die afghanische Frauenrechtsorganisation RAWA machte Fälle von Ehrenmorden infolge eines zufälligen Blickes einer Frau auf einen Mann bekannt.
Im Verständnis dieser Kulturen geht es weniger darum, die Frau, die Schande über die Familie gebracht hat, zu strafen, sondern eher darum, den Fleck, den Schmutz aus der Familie zu entfernen. In der Zielsetzung ist der Ehrenmord daher mit einer Verstoßung vergleichbar.
Für Aufsehen sorgte 2005 in Deutschland der Fall der jungen Hatin Sürücü, die von ihren Brüdern ermordet worden sein soll, nachdem sie ein freies Leben führen wollte und sich gegen die von ihrer Familie inszenierte Zwangsehe mit ihrem Cousin ausgesprochen hatte.
Wiederherstellung der Familienehre
Aufgrund der sozialen Struktur in den von Ehrenmorden betroffenen Ländern werden Ehrverletzungen vom sozialen Umfeld sehr streng sanktioniert. Deshalb darf die Ehrenmordproblematik nicht als "Männerproblem" verstanden werden. Es handelt sich dabei vielmehr um eine "Familiensache": Im Normalfall wird die gesamte erweiterte Familie von den Vorfällen informiert und entscheidet gemeinsam über das weitere Vorgehen.
So sind zwar meist nahe männliche Verwandte (Väter, Brüder, Ehemänner) die Täter, an der Tatvorbereitung sind jedoch auch Frauen beteiligt. Da die Anstiftung zum Mord in den meisten Ländern ebenfalls als schwere Straftat gilt, sind juristisch gesehen häufig auch Frauen Täterinnen, auch wenn bei Ehrenmorden die Schuld häufig nicht zweifelsfrei den Familienoberen zugeordnet werden kann.
Weit verbreitetes Vorkommen
Wie in der Einleitung erwähnt, sind der UNO ungefähr 5.000 belegte Fälle von Ehrenmorden im Jahr bekannt. Nur die wenigsten Fälle kommen jedoch vor Gericht, so dass die Dunkelziffer weitaus höher liegen muss. Die Schätzungen liegen zwischen 10.000 und 100.000 Fällen jährlich, so dass hier keine verlässliche Aussage gemacht werden kann.
Betroffen sind häufig Mädchen und Frauen aus dem islamischen Kulturkreis. Ehrenmorde findet man aber auch in Form von Blutrache in Brasilien, Ecuador oder Italien. Durch Migration treten Ehrenmorde beispielsweise auch in Deutschland oder dem Vereinigten Königreich auf.
Ehrenmorde in muslimischen Ländern
Ehrenmorde kommen gehäuft in Ländern des muslimischen Kernbreichs, also in der arabischen, persisch-afghanischen und türkischen Welt vor. Darüber hinaus ist Pakistan ein Land, in dem Ehrenmorde nicht nur an der Tagesordnung sind, sondern auch von der Öffentlichkeit weitgehend gebilligt werden. Dies wird nicht zuletzt durch das muslimische Recht (Scharia) gefördert, das Unzucht als Schwerverbrechen ansieht, das auch mit dem Tode geahndet wird. Da Selbstjustitz im islamischen Rechtsdenken kaum verwerflich ist, sind Ehrenmorde so leicht zu rechtfertigen.
Ehrenmorde in westlichen Staaten
Während klassische Ehrenmorde eher ein Phänomen ländlicher Strukturen sind, in denen das Ansehen und der Ruf einer Familie von großer Bedeutung sind, vor denen die Anonymität und die Unabhängigkeit urbaner Umgebungen gut schützen, sind die Ehrenmorde in westlichen Staaten vorwiegend in Großstädten und Ballungszentren mit hohem muslimischen Migrationsanteil zu finden. Manchmal geschieht dies erst als Folge einer Rückbesinnung von Migranten der dritten oder vierten Generation. Frauen, die den traditionellen Ehrenkodex missachten, verletzen damit die Ehre, spiegeln aber auch die Möglichkeiten, aus den repressiven Strukturen ihrer Familien ausbrechen zu können.
Rechtliche Situation
Rechtslage in den einzelnen Ländern
Obwohl in den meisten Staaten der Welt Mord und Totschlag verboten sind, gehen in vielen Ländern Täter von Ehrenmorden straffrei aus. Vielerorts werden wegen der spezifischen kulturellen Traditionen Verbrechen im Namen der Ehre von Richtern toleriert. In Ländern, wo das nicht so ist (wie z. B. in der Türkei), werden oft Minderjährige zur Tat angestiftet, um Strafmilderung zu erreichen. Inzwischen stehen in der Türkei Ehrenmorde auch bei Jugendlichen unter sehr hoher Strafe, was dazu geführt hat, dass die Zahl der Ehrenmorde dort drastisch abgenommen hat. Erwachsenen droht bei Morden - auch bei Ehrenmorden - eine lebenslange Strafe.
Menschenrechtsorganisationen, Vereinte Nationen und NGOs
Bis weit in die 1990er Jahre wurden Ehrenmorde nicht als Menschenrechtsverletzungen behandelt, sondern als in die jeweilige nationale Gesetzgebung fallende "normale Verbrechen". Erst auf Druck von Frauenrechtsorganisationen, wie beispielsweise Terre des Femmes, haben in den letzten Jahren nichtstaatliche Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch angefangen, diese Problematik aus einer Menschenrechtsperspektive zu betrachten. Terre des Femmes Deutschland hat am 25. November 2004 eine zweijährige Kampagne „NEIN zu Verbrechen im Namen der Ehre“ begonnen. In Schweden hat die Organisation Kvinnoforum mit Unterstützung der EU das europaweite Projekt "Shehrazad - Combating violence in the name of honour" ins Leben gerufen, um Gewalt gegen Mädchen und junge Frauen in patriarchalen Familien vorzubeugen.
Siehe auch
Häusliche Gewalt, Familientragödie, Mord aus Leidenschaft, Blutrache
Literatur
- Schiffauer, Werner (1983): Die Gewalt der Ehre. Erklärungen zu einem türkisch-deutschen Sexualkonflikt, Frankfurt am Main: Suhrkamp ISBN 3-518-37394-3.
- Schiffauer ist Professor für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder
- Schöller, Tilman (2005): Halbmond über Palästina - in memoriam Hatun Sürücü
- Hanife Gashi/ Sylvia Rizvi (2005): Mein Schmerz trägt deinen Namen. Ein Ehrenmord in Deutschland
- Hülya Ates & Fabian Fatih Goldbach (2002): Verstoß = Liebe Tagebuch einer türkisch-deutschen Liebesbeziehung
Filme
- Morden im Namen der Familie, arte, 2. August 2005, Themenabend
Weblinks
Literatur
- "Honour Related Violence - European Resource Book and Good Practice" von Kvinnoforum (Frauenforum), Stockholm, 2005, 268 S., (engl.), pdf-Datei: 3.8 Mb
EU-geförderte Studie zur Lage der Gewaltverbrechen im Namen der Ehre in sieben europäischen Ländern und Empfehlungen zur Bekämpfung - "Verbrechen im Namen der Ehre." Fachtagung am 9. März 2005 in Berlin mit Terre des Femmes
- "Jährlich werden ca. 5.000 Mädchen und Frauen im Namen der Ehre ermordet. Die Dunkelziffer liegt jedoch viel höher, da die wenigsten Fälle vor Gericht behandelt werden."
Hilfsangebote
- SURGIR Weltweit tätige Hilfsbewegung zur Verteidigung von Mädchen und Frauen und deren Kinder, die kriminellen Traditionen und Bräuchen zum Opfer fallen
Links
- Links zum Thema Ehrenmorde / Verbrechen im Namen der Ehre von Terre des Femmes
- Gewalt gegen Frauen - allgemeine Linksammlung
Artikel
- "Sie war unerlaubt spazieren", taz, 25. Nov. 2004 von Edith Kresta
- Rechtsvergleich nach Ländern (pdf-Datei); (html-Datei: [1]) - „Schlachtfeld Frau“, Süddeutsche Zeitung, Nr. 46, 25. Februar 2005, S. 15 von Werner Schiffauer
- „Kulturbedingte "Ehrenmorde". Verbrechen gegen Frauen unter religiösem Vorwand: Endlich üben muslimische Verbände Kritik“, Die Zeit, 3. März 2005, Nr. 10, aktuelle Situation in der muslimischen Glaubensgemeinschaft und die allgemeine Rechtswahrnehmung in Deutschland
- Zehn-Punkte-Plan »Zur Bekämpfung der Intoleranz gegenüber Frauen«, Neues Deutschland, 6. März 2005 Zehn-Punkte-Plan des Türkischen Bunds Berlin-Brandenburg und Interview mit Evrim Baba
- "Ehrenmorde" weltweit ächten, Schwäbisches Tagblatt, 7. März 2005