Buddhismus in Tibet
Erster Kontakt mit buddhistischen Lehren
Lha Thotori Nyentsen
Der erste Kontakt mit buddhistischen Lehren in Tibet fand zur Zeit des 28. Königs der Yarlung-Dynastie Lha Thotori Nyentsen statt. Nach der Überlieferung soll zu dieser Zeit auf wundersame Weise eine kostbare Schatulle auf dem Dach des Königspalastes Yumbu Lhakang erschienen sein. Diese enthielt zwei buddhistisches Sutra-Texte, eine goldene Miniatur-Stupa, das sechs-silbige Mantra des Bodhisattva Avalokitesvara Om Mani Peme Hung und andere heilige Objekte. Der König konnte die Bedeutung der Objekte nicht verstehen, erkannte aber intuitiv, daß sie von besonderer Bedeutung waren. Aufgrund einer, weniger phantastischen und vielleicht wahrscheinlicheren, Schilderung wurden ihm diese Gegenstände von einem indischen Mönch gebracht, der erstmals buddhistische Lehren nach Tibet einführen wollte. Dieser aber reiste, da er die Sprache des Königs nicht konnte und auch keine Übersetzer zur Hand waren unverrichteter Dinge wieder nach Indien zurück und ließ lediglich die Schatulle samt Inhalt als Gabe an den König zurück. Aufgrund seiner Verehrung für diese kostbaren Objekte soll der betagte König, nach der Legende, auf wundersame Weise das Aussehen und die Vitalität eines jungen Mannes zurück erhalten haben und lebte daraufhin bis zum Alter von 120 Jahren.
Songtsen Gampo
Unter dem zentraltibetischen König Songtsen Gampo (Regierungszeit 617-649) begann der Buddhismus in Tibet erstmals wirklich Fuß zu fassen, auch wenn es zu dieser Zeit nur wenige Buddhisten gab und ihre Tempel schlichten Kapellen ähnelten. Der König selbst gründete zwei dieser Heiligtümer in Lhasa darunter den Jokhang-Tempel. Er wird aus diesem Grund auch, neben König Trisong Detsen und König Ralpachen, zu den drei Dharma-Königen Tibets gerechnet. Vorherrschende Religion war damals noch die schamanistisch-animistische Bön-Religion.
Erste große Übersetzungswelle und Verbreitung des Buddhismus
Nyingma-Schule
Die eigentliche landesweite Verbreitung des Buddhismus in Tibet fand zur Zeit der ersten Übersetzungsphase buddhistischer Schriften, aus dem Sanskrit ins Tibetische, im 8. Jahrhundert statt. Der tibetische König Trisong Detsen lud Anfang des 9.Jahrhunderts die indischen Meister Padmasambhava (Guru Rinpoche) und Shantarakshita nach Tibet ein, um dort den Buddhismus zu lehren. Guru Rinpoche betonte vor allem die tantrischen Aspekte des Buddhismus und bezwang, nach der Überlieferung, die Geister und Dämonen Tibets, weshalb sich der Vajrayana-Buddhismus, eine Weiterentwicklung des Mahayana-Buddhismus, maßgeblich in Tibet durchsetzte. Guru Rinpoche und Shantarakshita gründeten im Jahr 814 das erste buddhistische Kloster Samye-Ling, welches sich zum wichtigsten Lehrzentrum der damaligen Zeit entwickelte. Die aus dieser ersten Übersetzungsphase entstandene Schultradition nennt man Nyingma, wörtlich "Die Alten". Sie wird aufgrund ihrer frühen Entstehung auch als die Schule der "Alten Übersetzungen" bezeichnet. Vom 8. bis zum 11. Jahrhundert war die Nyingma-Tradition die einzige buddhistische Schule in Tibet.
Verfolgung des Buddhismus unter König Langdarma
Aufgrund der Buddhistenverfolgung unter dem tibetischen König Langdarma (Regierungszeit 836-842) wurde der Buddhismus in seiner äußeren Form stark zurückgedrängt. Die mündlichen Überlieferungslinien der Schule der Alten Übersetzungen (Nyingma-Kama) überstandem diese Zeit der Verfolgung unbeschadet. Desweiteren verbarg Guru Rinpoche, der die Unterdrückung des Buddhismus zur Zeit Langdarmas voraussah, und seine engsten Schüler viele tantrische Lehren, die in den folgenden Jahrhunderten als sogenannte Verborgene Schätze (Terma) wiederentdeckt wurden. Diese wiederentdeckten Schätze wurden Grundlage für eine Vielzahl eigenständiger Überlieferungslinien.
Zweite Übertragung des Buddhismus von Indien nach Tibet
Die zweite Übertragung des Buddhismus von Indien nach Tibet fand ab dem 11. Jahrhundert statt. Der indische Mönch Atisha (982-1054) ein weit bekannter Gelehrter der buddhistischen Universität von Vikramasila, reiste im Jahr 1042 nach Tibet und brachte lehren des Mahayana und verschiedene Vajrayana-Praktiken mit. Er betonte die Bedeutung der Vinaya-Regeln und gründete seine Belehrungen in Tibet hauptsächlich auf den Sutra-Lehren, die auf der zweiten Lehrperiode Buddha Shakyamunis beruhen.
Alte Kadampa-Schule
Auf ihn geht die Schule der Alten Kadampa-Meister zurück. Die Kadampa-Schule ist eine Vorläufertradition der drei neueren Hauptschulen des tibetischen Buddhismus, die aus der zweiten Übersetzungsphase tantrischer Lehren, von Indien nach Tibet, hervorgegangen sind. Diese drei Haupttraditionen der "Neuen Übersetzungen" (Sarma), ab dem 11.Jahrhundert, sind die Kagyü-, Sakya- und die Gelug-Schule. Die Kadampa-Tradition wurde durch Atisha's Schüler und nachfolgende Lehrer, an alle buddhistischen Traditionen in Tibet übermittelt. Die Schule der Alten Kadampa-Meister ist als eigenständige Schule nicht erhalten geblieben. Sie ist im 14. Jahrhundert in die Gelug-Schule (auch Neuere Kadampa genannt) aufgegangen.
Kagyü-Schule
Die Kagyü-Schulen des tibetischen Buddhismus gehen auf Marpa den Übersetzer (1012 - 1097) zurück, der die Mahamudra- Übertragungslinie von Tilopa und Naropa weiterführte. Außerdem studierte Marpa bei den großen indischen Meistern Maitripa (auch Jhanagarbha genannt) und Kukuripa. Er traf während seiner dritten Reise nach Indien Atisha und studierte bei ihm die Lehren der Kadampa. Von seinen Reisen nach Indien brachte er viele buddhistische Schriften mit und übersetzte diese ins Tibetische. Marpas Hauptschüler war der in Tibet wegen seiner entbehrungsreichen Lehrzeit und seinen spirituellen Gesängen weithin bekannte Yogi Milarepa (1042 - 1123). Milarepa wurde erst nach einer langen Phase äußerst harter Prüfungen in die tantrische Praxis eingeführt. Milarepas wichtigste Schüler waren Rechungpa, und der Mönch Gampopa aus Dagpo. Gampopa wurde wegen seiner Gelehrsamkeit berühmt. Er begründete die für die Kagyü-Schulen typische Form der Belehrung, indem er die klösterliche Tradition der früheren Kadampa und die Yogi-Tradition der indischen Meister miteinander verschmelzen ließ.
Chöd
Die Chöd-Praxis ("Abschneiden") ist eng mit der Meisterin Machig Labdrön (1055 - 1149) verbunden. Die Lehre stammt aus der ZHi.byed-Tradition und wurde von dem indischen Meister Padampa Sangye im Jahre 1092 nach Tibet gebracht. 1097 gründete Padampa Sangye das Kloster Dingri von dem die Tradition in Tibet ausging. Machig-Labdrön die mit der Chöd-Praxis höchste Verwirklichung erlangte, ist wegen ihrer besonderen Lebensgeschichte und der Verbreitung der Chöd-Lehren in Tibet berühmt geworden. Chöd zielt auf das Abschneiden der Ego-Anhaftung, die als Wurzel weltlichen Leidens gilt, mittels eines ausgesprochen schaurigen Rituals und basieren auf den Lehren zu Prajnaparamita (höchster transzendenter Weisheit). Die von Padampa Sangye ausgehende Überlieferung dieser Lehre ist in allen Schulen des tibetischen Buddhismus bis heute erhalten geblieben, als eigenständige Schultradition besteht sie nicht mehr.
Sakya
Sakya war ursprünglich der Name eines von Khön Könchog Gyalpo (1034-1102) begründeten Klosters Hauptsitz nahe Shigatse in Südtibet. Die tantrischen Lehren der Sakyapa wurden von Bari Lotsawa im elften Jahrhundert aus dem Sanskrit übersetzt. Er reiste nach Indien und brachte verschiedene tantrische Lehren nach Tibet. Die Sakya-Tradition wurde daraufhin von den "fünf ehrwürdigen höchsten Meistern" gegründet. Zu diesen zählen Kunga Nyingpo, Sonam Tsemo und Dragpa Gyaltsen, der 1. Sakya Pandit Kunga Gyaltsen und Dromtön Chögyal Phagspa Lodro Gyaltsen. Diese fünf höchsten Meister gründeten ihre Lehren auf denen des großen indischen Gelehrten und Siddha Virupa. Sie übernahmen seine Mahamudra-Übertragungslinie und auch die Lehren vieler anderer großer Siddhas. Die Sakya-Linie hat darüber hinaus auch Lehren der Alten Kadampa übernommen. Gegen 1264 erhielt der Sakya-Meister Phagspa vom mongolischen Kaiser Kublai Khan, der zu dieser Zeit die Mongolei, China und Tibet beherrschte, die Lehnsherrschaft über Tibet. Diese übten die Sakya bis ins Jahr 1354 aus. Im Zuge der Reformation des Tsongkhapa gaben sie ihre Herrschaft über Tibet an die Gelug-Schule ab. Das derzeitige Oberhaupt der Sakya-Tradition ist Sakya Trizin (* 1945).
Jonang
Jonangpa bezeichnet eine Unterschule der Sakya-Tradition des tibetischen Buddhismus (Vajrayana).
Gelug
Die Gelug werden auch als die "Schule der Tugendhaften" bezeichnet und wurde von Tsongkhapa (1357-1419) gegründet. Er vertrat die Ideale der früheren Kadampa-Schule und strich die Bedeutung der Vinayaregeln heraus. Deshalb legen die Gelug auf Mönchsdisziplin und Zölibat großen Wert. Der Kern der Übertragungen der Gelug liegt in den Lehren der Kadampa, insbesondere in den Mahayana-Lehren Atishas. Tsongkhapa faßte diese Lehren in seinem Werk Lamrin Chenmo (Große Darlegung des Stufenwegs) zusammen. Der "Lamrim-Stufenweg zur Erleuchtung" ist bis auf den heutigen Tag die Grundlage des von den Gelug gelehrten Erleuchtungsweges. Durch die Jahrhunderte wurden aber auch verschiedene tantrische Lehren aus den anderen Schulen übernommen. Die Dalai Lamas, wichtige Lamas der Gelug, hatten eine bedeutende geistliche Rolle und, bis zur chinesischen Besetzung Tibets, auch die weltliche Herrschaft über Tibet inne. Das geistige Oberhaupt des Gelug-Ordens ist Yeshi Dhondup Rinpoche.
Rime
Im 19. Jahrhundert entstand durch die Meister Jamyang Khyentse Wangpo, Jamgon Kongtrul und Orgyen Terdak Lingpa die so genannte "Rime-Bewegung", die gruppenübergreifende Lehren aus allen Gegenden Tibets und von Meistern aller Traditionen sammelte. Ziel war es, die in Tibet verbreitete "Konkurrenz" (Sektierertum) der Schulen zu überwinden. Diese Lehren wurden in größeren Sammlungen zusammengefasst. Die wichtigsten Sammlungen der Rime-Bewegung sind "Fünf Große Schätze" (Jamgön Kongtrul Lodrö Thayes) und "Schatz der wiederentdeckten Lehren" (Rinchen Terdzös). [Bearbeiten]
Bön
Im Kontext des Buddhismus in Tibet findet sich mit der Tradition des Bön eine weitere Tradition, die dem Vajrayâna, nahesteht. Sie haben in ihren Praktiken und Lehren Gemeinsamkeiten mit der Nyingma-Schule. Die Bön beziehen sich in den Ursprüngen ihrer Überlieferung aber nicht auf den historischen Buddha Shakyamuni. Sie haben sich teilweise aus dem vorbuddhistischen, schamanisch praktizierenden Bön-Glauben entwickelt. Es wird auch der Meister Tönpa Shenrab Miwoche als Gründer der Tradition genannt.
Zerschlagung des Buddhismus durch die chinesische Invasion und Kulturrevolution
Durch die chinesiche Invasion Tibets im Jahre 1950 und die Kulturrevolution, ausgelöst von Mao Tsetung wurde der Buddhismus in Tibet in seiner äußeren Form vernichtet. Der 14. Dalai Lama floh 1959 ins indische Exil, die Chinesen zerstörten 99% aller Klöster und Tempel. Von ursprünglich 6000 tibetischen Tempel existierten am Ende der Kulturrevolution nur noch 7. Trotz starker Unterdrückung und Verfolgung, durch die chinesischen Machthaber, existiert der Buddhismus in Tibet nach wie vor und ist stark im tibetischen Volk verwurzelt.