Dorfgericht
Leben
Gottschalk († 1190) gehörte in die zweite Generation der Holsten, die Graf Adolf II. von Schauenburg und Holstein 1143 zur Kolonisation Wagriens aufgerufen hatte. Er kam wahrscheinlich aus Nortorf und lebte im Dorf Horchen, dem heutigen Großharrie in Holstein, das damals zum Kirchspiel Neumünster gehörte. Das Dorf liegt zwischen dem Dosenmoor und dem Westrand einer Jungmoräne, auf teils sandigem, teils lehmigem Boden. Im 12. Jahrhundert war die einst besiedelte Moränenlandschaft von einem dichten Hochwald bedeckt.
Gottschalk war gerichtsfähig und mithin ein freier Mann. Seine Kate und seine Felder gehörten vermutlich ihm, oder er hatte am Boden wenigstens den Nießbrauch. Um seine Ackerfläche zu erweitern, rodete er Buchen und Eichen. Gottschalk besaß nur ein einziges Pferd und selbst im Winter ging er barfuß. Dennoch bedachte er Arme, die noch weniger besaßen als er. Gottschalk war häufig krank. Seine Frau war fast blind und sein Sohn war ein Schwächling. Allein mit ihnen bewirtschaftete er seinen Hof, seine beiden Töchter wohnten offensichtlich nicht mehr zu Hause.
Gottschalk gehörte zum holsteinischen Aufgebot, das im Namen Heinrichs des Löwen 1189 vom Overboden den Befehl zur Belagerung der Burg Segeberg erhielt. Zusammen mit den Männern aus dem Kirchspiel Neumünster erreichte er das Lager vor Segeberg am 10. Dezember. Zwei Tage später bekam er starkes Fieber und wurde von seinen Kameraden gepflegt. Am 17. Dezember fiel er in eine tiefe Bewusstlosigkeit, und am 20. schien er tot, nur sein Mund bewegte sich kaum sichtbar. Am 24. Dezember wurde seine Einheit abgelöst; in einem Karren brachten ihn seine Freunde nach Harrie zurück. In seinem Haus wachte der leblos Erscheinende wieder auf. Gottschalk erholte sich langsam und berichtete von seinem Erlebnis.
Visionsbericht
Wanderung im Jenseits
Am 20. Dezember verließ Gottschalks Seele den Körper und ließ ihn wie tot zurück. Zwei Engel begleiteten die Seele bei ihrer Wanderung im Jenseits. Zwei Meilen gingen sie von Norden nach Süden und gelangten zu einer Linde, an deren Ästen unzählige Schuhe hingen. Die Seelen von Toten, stille Gestalten, strömten aus allen Richtungen herbei. Einige wurden von einem Engel, der ihre Verdienste erkannte, mit Schnürstiefeln beschenkt. Auf Gottschalks Frage nach dem Sinn antworteten die Engel: Wer in seinem Leben mit seinem Nächsten barmherzig war, der erhält bei den bevorstehenden Peinigungen Beistand.
Mit 120 Unbeschuhten und 14 Schuhträgern begann der Marsch der Toten durch eine Heide, wo Dornen und Stacheln die ungeschützten Füße zerschnitten. Wer hinstürzte, erlitt die Qualen am ganzen Leib. Ihr habt dieses Elend verdient, erklärten die Engel, weil ihr euch den Lehren der Priester nicht gefügt habt. Als Gottschalk zusammenbrach, brachte ihm ein Engel ein Paar Stiefel. Nachdem alle die Dornenheide passiert hatten, wurden 25 der Unbeschuhten erlöst; sie durften sich der Gruppe der Schuhträger anschließen.
Nach dieser Prüfung kamen die Seelen an einen breiten Strom, aus dessen Oberfläche die Klingen von Schwertern, Spießen und Lanzen emporragten. Beim Überqueren des Flusses wurden die noch nicht Befreiten schrecklich verstümmelt. Gottschalk und die Entlasteten kamen auf Balken, die sich wie lebende Wesen bewegten, sicher an das andere Ufer. Diese Hilfe erhalten alle, die im Leben gemeinnützig gehandelt haben, erfuhr Gottschalk von seinem Engel. Die fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Büßer wurden wieder hergestellt und waren künftig von Strafen befreit. Bis auf sechs wurden alle entsühnt. Gottschalks erster Tag im Jenseits ging zu Ende; der Zug hatte mehr als vier Meilen zurückgelegt.
Der Zug ordnete sich neu: Gottschalk und die beiden Engel gingen voran. Dann kamen die Schuhträger, dann die nach der Dornenheide Entsühnten und die nach der Überquerung des Flusses Entlasteten. Abseits vom Weg folgten die sechs noch nicht Erlösten. An einer Wegegabel wies ein Engel den Abteilungen den Weg. Auf der in ihrem Glanz erstrahlenden Straße zum Himmel sangen die Vollkommenen jubelnd Gottes Lob und begannen in großer Klarheit zu leuchten. Die Seelen auf dem hellen und breiten Mittelweg stimmten fröhlich Gott preisende Lieder an. Der dunkle und morastige Weg zur Linken war für die hoffnungslos Verdammten bestimmt. Der Engel schickte die sechs aber nicht in die Tiefe, sondern in eine dunkle und wüste Gegend zwischen Mittelweg und Abgrund. Hier mussten sie sich mühsam einen Weg bahnen. Zu ihrem Führer wurde Gottschalk bestimmt, den die Engel beruhigten: Er habe nichts zu befürchten und stehe unter ihrem Schutz. Von der kleinen Gruppe hörte man Jammern und Klagen: Nur Sichtbares glaubten wir und wir hatten keine Hoffnung auf ewige Güter. Die Zeugnisse Gottes wolltet ihr nicht verstehen, antwortete ein Engel, zur Strafe erlebt ihr jetzt ein Zeugnis gegen euch selbst.
Betrachtung
Das Motiv der Wanderung im Jenseits und die Rückkehr in die irdische Welt gehörte zur verbreiteten erbaulichen Literatur des Mittelalters; insofern ist Gottschalks Visionsbericht nicht ungewöhnlich. Gottschalk als Laie und einfacher Mann war als Berichterstatter eine Besonderheit. Für die Jenseitsreise ist typisch, dass die Seele den Körper verlässt, der wie tot zurückbleibt. Häufig begleiten Engel den Visionär auf seiner Reise. Neben vielen Topoi enthält der Bericht auch Besonderheiten, die manchmal der vorchristlichen Vorstellungswelt entstammen. Den waffenstarrenden Fluss gibt es in der Edda. Die Szenen unter der Linde und das Überqueren der Dornenheide gehört wohl zur volkstümlichen Vorstellung. In der anderen Welt gelten die selben Himmelsrichtungen und Entfernungsangaben wie auf der Erde. Obwohl die Seelen körperlos sind, werden die Schmerzen körperlich empfunden. Gottschalk hat die Zahl der Toten unter der Linde genau gezählt und nach jeder Bußstation wird die Zahl der Entlasteten genannt.