Russische Rechtschreibreform von 1918
Im Jahre 1904 wurde von der Russischen Akademie der Wissenschaften eine Sonderkommission der Orthographie gegründet, die zur Hauptaufgabe hatte, die Phonetik und der Orthographie der russischen Sprache in Einklang zu bringen. Doch erst im Mai 1917 wurde eine Sitzung einberufen, in der die vorbereitete Rechtschreibreform verlesen und beschlossen wurde. Im Zuge der innerstaatlichen Unruhen, die ihren Ausbruch in der Oktoberrevolution 1917 fanden, hatte die russische Übergangsregierung die beschlossene Rechtschreibreform nicht per Dekret erlassen können. Die von der Sonderkommission der Orthographie ausgearbeitete Rechtschreibreform wurde aber nachträglich vom regierenden Rat der Volkskommissare gebilligt und am 10. Oktober 1918 als "Декрет о введении новой орфографии" ("Das Dekret zur Anwendung neuer Orthographie") gesetzlich verabschiedet.
Herausgenommene Buchstaben
Russisches Alphabet vor der Rechtschreibreform im Jahre 1918
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Die 1918 umgesetzte Rechtschreibreform war die letzte und eine der größten Rechtschreibreformen in Russland. Sie brachte das moderne russische Alphabet mit 33 Buchstaben hervor, wodurch die russische Orthographie erheblich vereinfacht wurde. Vier Buchstaben wurden aus dem Alphabet herausgenommen und durch andere Buchstaben ersetzt, die für die Wiedergabe identischer Laute verwendet wurden. So wurde die komplizierte Schreibweise vieler Wörter, die aus etymologischen oder traditionellen Gründen als Norm galt und meist ein mühsames Auswendiglernen erforderte, einfach und leicht erlernbar gemacht. Die vier Buchstaben, die seit der Rechtschreibreform 1918 in der russischen Gegenwartssprache nicht mehr verwendet werden, sind:
- Der Buchstabe «i» wurde durch «и» ersetzt, das für die Wiedergabe identischer Laute [i] bzw. [j] verwendet wurde. Das «i» wurde vor anderen Vokalen, vor dem Buchstaben «й» und in einigen Wörtern aus etymologischen Gründen geschrieben, z.B.:
- zuvor: исторiя – heute: история (die Geschichte)
- zuvor: синiй – heute: синий (blau, männl. Adjektiv)
- zuvor: міръ – heute: мир (die Welt)
- zuvor: Нью-Іоркъ – heute: Нью-Йорк (New York)
- Der Buchstabe «ѣ», der im Russischen ять (Jatj) hieß, wurde durch «е» ersetzt. Ursprünglich, in der altslawischen Sprache, wurde das «ѣ» für die Wiedergabe eines langen Lautes verwendet, der vermutlich dem Laut [æ:] oder dem Diphtong [ie:] ähnlich war. Im Laufe der Zeit veränderte sich aber die Aussprache dieses Lautes und verschmolz mit [e] im modernen Russischen und mit [i] in der ukrainischen Sprache. Vor 1918 wurde das «ѣ» als sprachliches Relikt in sehr vielen Wörtern slawischer Herkunft geschrieben. Da es aber phonetisch von dem Laut [e] nicht mehr zu unterscheiden war, musste man eine Vielzahl von Regeln und Ausnahmen zu seiner richtigen Verwendung auswendig lernen. Deshalb gibt es im Russischen heute noch die Redewendung "выучить на ять", ([etwas] erlernen wie [die] Jatj[-Verwendung]), also "etwas gut auswendig können". Einige Beispiele für die alte und die neue Schreibweise sind:
- zuvor: дѣвочка – heute: девочка (das Mädchen)
- zuvor: лѣто – heute: лето (der Sommer)
- zuvor: медвѣдь, mit «е» in der ersten und «ѣ» in der zweiten Silbe – heute: медведь (der Bär)
- zuvor: крѣпкій – heute: крепкий (fest od. stark, männl. Adjektiv)
- Der Buchstabe «θ» der im Russischen фита́ (Fita) hieß und das griechische Theta in unveränderter Form darstellte, wurde durch «ф» ersetzt, das für die Wiedergabe des identischen Lautes [f] verwendet wurde. Das «θ» wurde aus etymologischen Gründen in den Wörtern griechischer Herkunft verwendet, die im Griechischen mit Theta geschrieben wurden, z.B.:
- zuvor: θита – heute: фита (das Theta)
- zuvor: ариθметика – heute: арифметика (die Arithmetik)
- zuvor: Θеодоръ – heute: Фёдор (Theodor)
- zuvor: Мараθонъ – heute: Марафон (Marathon)
- Der Buchstabe «ѵ», der im Russischen и́жица (Ischiza) hieß und in veränderter Form das griechische Ypsilon darstellte, wurde durch «и» ersetzt, das für die Wiedergabe des identischen Lautes [i] verwendet wurde. Das «ѵ» wurde aus etymologischen Gründen vorwiegend in sehr wenigen kirchlichen Begriffen griechischer Herkunft verwendet, die im Griechischen mit Ypsilon geschrieben wurden, z.B.:
Außerdem wurde durch die Rechtschreibreform die Verwendung des Buchstabens «ъ» aufgehoben, der als abschließendes Zeichen nach harten Konsonanten geschrieben wurde (siehe Beispiele oben). Der Buchstabe «ъ», der vor 1918 ер (Jer) hieß, ist aber im russischen Alphabet geblieben und wird heute твёрдый знак (tvjordy znak) – zu Deutsch: das harte Zeichen – genannt.
Vor- und Nachteile der Rechtschreibreform
Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts merkt M. W. Lomonossow an, dass sich die Buchstaben «е» und «ѣ» in der Umgangssprache voneinander kaum noch unterschieden und es lediglich beim Vorlesen noch so sei, dass «е» als ein offener und «ѣ» als ein geschlossener Laut ausgesprochen werden müssen. Ein Jahrhundert später (1885) stellt J. K. Grot, einer der bedeutendsten russischen Philologen, in seinem Werk "Русское правописание" ("Russische Rechtschreibung") fest, dass es in der Aussprache der beiden Laute nicht mal den geringsten Unterschied gäbe. In den nachfolgenden Jahren sprechen sich immer mehr namhafte russische Schriftsteller und Wissenschaftler dafür aus, die Orthographie an die Veränderungen in der phonetischen Struktur der Sprache anzupassen. Die 1918 umgesetzte Rechtschreibreform war das Ergebnis dieses Bestrebens und hat die russische Orthographie erheblich vereinfacht.
In ihrer Gesamtheit hat die Rechtschreibreform die Schreibweise vieler russischer Wörter nicht nur leichter erlernbar gemacht, sondern ihr Aussehen grundlegend verändert und damit ihre morphologische Struktur in den Hintergrund treten lassen. Dadurch ist eine Reihe von Homographen entstanden, Wörtern mit ursprünglich unterschiedlichen Stämmen und Bedeutung, die heute im Russischen gleich geschrieben werden, z.B.:
- zuvor: мiръ (die Welt) / миръ (der Frieden) – heute: мир (die Welt od. der Frieden)
- zuvor: вѣдѣніе (die Kompetenz) / веденіе (die Führung) – heute: ведение (die Kompetenz od. die Führung)
- zuvor: желѣза (des Eisens, Gen. Sing.) / железа (die Drüse) – heute: железа (des Eisens od. die Drüse)
Wie das erste Beispiel zeigt, wurde das russische Wort «мир» vor der Rechtschreibreform je nach seiner Bedeutung entweder als «мiръ» (die Welt) oder als «миръ» (der Frieden) geschrieben. Heute sind die unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes «мир» wegen der gleichen Schreibweise nicht mehr zu erkennen. Deshalb kann man unter russischen Muttersprachlern immer wieder die Diskussion erleben, wie der Titel des von Leo Tolstoi geschriebenen Romans "Война и Мир" ("Krieg und Frieden") richtig zu interpretieren ist: Hat Leo Tolstoi den 1812 zwischen Frankreich und Russland geführten Krieg und ihm folgenden Frieden gemeint oder den napoleonischen Krieg und die darin verwickelte russische Gesellschaft, also die Welt? Da der Roman 1868 mit dem Originaltitel "Война и Миръ" erschienen ist, lautet die richtige Deutung des Titels "Krieg und Frieden". Genauso wurde der Titel auch in zahlreiche Fremdsprachen übersetzt.
Abgesehen von geschilderten Nachteilen und einiger damit verbundenen Verwirrungen wurde die neue, vereinfachte Rechtschreibung vom größten Teil russischer Bevölkerung gut angenommen. Und heute sagen viele Russchen, wenn ihnen ein vor der Rechtschreibreform abgedrucktes Buch in die Hände kommt, es sei schwer zu lesen, als wäre es in einer Fremdsprache verfasst.
Rechtschreibreform als Bestandteil politischen Kampfes
Nach der Machtübernahme im November 1917 sah die bolschewistische Regierung die alte Rechtschreibung als Sinnbild des abgeschafften Zarismus, deshalb versuchte sie, die vorbereitete Rechtschreibreform so schnell wie möglich umzusetzen. Unmittelbar nach ihrem Inkrafttreten ließen die Bolschewiki alle Drucktypen mit den abgeschafften Buchstaben zunächst aus Zeitungsdruckereien rasch entfernen, um so die mögliche Anwendung alter Rechtschreibung zu unterbinden. Große Buchdruckereien konnten sich allerdings auf die neue Rechtschreibung wegen zumeist manueller und deshalb sehr zeitaufwendigen Änderungen der Schriftsätze nicht sofort umstellen. Selbst 1920 wurde "Das Kapital" von Karl Marx immer noch in alter Rechtschreibung veröffentlicht. Die Russische Akademie der Wissenschaften nutzte die alte Schreibweise in ihren wissenschaftlichen Bücher noch bis ca. 1924. Gleichzeitig, in Bildungseinrichtungen und während der "Massenmaßnahmen zur Ausmerzung des Analphabetismus" in den 20-iger und 30-iger Jahren wurde ausschließlich die neue Rechtschreibung unterrichtet.
Aber nicht nur für die junge Sowjetmacht wurde die neue Rechtschreibreform zum Bestandteil ihres politischen Kampfes. Die russische Aristokratie und vor allem die konterrevolutionären Intellektuellen weigerten sich vehement, die neue Rechtschreibreform anzuerkennen. Russische politische Immigranten druckten ihre Zeitungen und Bücher teilweise noch bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in der alten Rechtschreibung.
Nachzählung der Buchstaben
35 minus 4 ist gleich 33?