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Diabelli-Variationen

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Die Diabelli-Variationen gehören zu den großen Werken der Musikgeschichte, „die wir erst jetzt zu verstehen beginnen“. (Gerhard Oppitz). Für Hans von Bülow sind sie ein „Mikrokosmos des Beethovenschen Genius, ja sogar ein Abbild der ganzen Tonwelt“.[1]

Geschichte

1819 hatte der Wiener Musikverleger und Komponist Anton Diabelli alle namhaften österreichischen Komponisten um Variationen über ein von ihm vorgegebenes Thema gebeten. Ursprünglich hatte er an eine Sammlung gedacht, die je eine Variation jedes Komponisten enthalten sollte. Ludwig van Beethoven jedoch wollte keinen „Schusterfleck“ abliefern. Als letzter, lange nach Franz Schubert und Franz Liszt, stellte er seinen Beitrag 1823 fertig. Begeistert, gab Diabelli Beethovens Variationen gesondert heraus und ließ die Werke der anderen Komponisten in einem zweiten Teil folgen.

Antonie Brentano gewidmet, sind die 33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli Beethovens letzte große Klavierschöpfung. In jener Zeit schrieb er noch die drei letzten Klaviersonaten (op. 109, op. 110 und op. 111) und die Missa Solemnis. Die Arbeit an der Symphonie Nr. 9 quälte ihn.

Die Diabelli-Variationen sind neben Bachs Goldberg-Variationen und Regers Bach-Variationen das umfangreichste Variationenwerk für Klavier. Der Vortrag dauert insgesamt 50 bis 60 Minuten. Anders als vielleicht die Goldberg-Variationen sind sie nicht „nur“ eine Verdichtung aller früheren, sondern auch eine Öffnung späterer Musik.

„Altes und Neues stehen nebeneinander, vielmehr: beide werden innerhalb der Entwicklungsarchitektur zu einer höheren Einheit verschmolzen. Das Prinzip des ausgleichenden Gegensatzes herrscht allenthalben: Unerbittliche kontrapunktische Strenge steht neben zartem Tasten wie in einem Nocturne (Var. 29), entfesselte Viruosität neben lyrischen Ruhepunkten; farbige Flächigkeit wechselt mit Abschnitten, in denen schroffe Akzente das Thema gleichsam »gegen den Strich kämmen«.“

Volker Scherliess

Das Bonner Beethoven-Haus hat im Jahre 2009 den Autographen zu Opus 120 erworben und bis zum 20. April 2010 ausgestellt. Im Januar 2010 stellte das Digitale Archiv des Beethoven-Hauses eine digitalisierte Version in das Internet.

Thema

Diabellis Thema in C-Dur und Vivace (!) ist ein „Deutscher“, ein Vorgänger des Wiener Walzers. So „simpel“ es scheinen mag, so ideal entspricht es mit 8 x 2 x 2 Takten der damaligen Kompositionstheorie. Beethovens Schüler Carl Czerny schrieb dazu:[1]

„Zu Variationen eignen sich vorzugsweise jene Themen, welche schönen Gesang, wenig Modulation, gleiche zwei Teile und einen verständlichen Rhythmus haben.“

Carl Czerny

In Diabellis Thema wechselt zudem die Melodie zwischen rechter und linker Hand. Die zweiten acht Takte sind synkopiert. Beethoven „verwandelt“ alles, sogar Diabellis Akzente und dynamische Vorgaben. „Rote Fäden“ sind die Sekunden des Vorschlags vom Auftakt und die anschließende Quinte mit den repetierten Vierteln. „Ohrenfällig“ ist die innere Gliederung des Werks in dreimal zehn Variationen und einen Schlußteil mit drei Variationen. Dafür spricht auch, dass die Variationen X und XX (und XXIX) nicht wiederholt werden.

Variationen

Der 3/4-Takt des Themas wird schon in der ersten Variation zum markanten Gegenentwurf in 4/4 (Alla Marcia maestoso). Ihm folgen mit piano und leggiermente (Var. II) und dolce (Var. III und IV) wiederum Kontraste, die die immense Weite des ganzen Werks andeuten. So leicht wie energisch und immer noch in 3/4 kommt die Var. V daher (Allegro vivace). In ihrer strikten Zweistimmigkeit macht die Var. VI den Vorschlag des Themas zum Triller. Die Tempoangabe Allegro ma non troppo e serioso warnt davor, hier etwas zu „verspielen“. Von anrührender Zartheit ist die Dehnung des Themas in der Var. VIII (Poco vivace, dolce e teneramente). Ein schalkhaftes Spiel mit dem Vorschlag treibt die Var. IX, die erste im dunkleren c-Moll. Mit einem hinreißenden Presto zwischen pianissimo und fortissimo geht das erste Drittel der Variationen zu Ende (Var. X). Tonleitern in Oktaven und Sextakkorden, Trillerketten im Bass und Terzsprünge machen die Variation zu einem Kabinettstück.

Selbst „verwandelt“, staunt man in einer anderen Welt. In ruhigem dolce macht die Var. XI (Allegretto) den Vorschlag zu dreistimmigen Triolen. In der nächsten (Un poco più moto) bauen Quart- und Terzgänge mit dem Thema im Bass neue Spannung auf. So scheint der Beginn der Var. XIII das Scherzo der 9. Sinfonie (Beethoven) zu zitieren; den gehämmerten a-Moll-Akkorden folgen ruhige Vierteltupfer. In C-Dur wendet sich das Vivace aber zum wunderbaren Grave e maestoso (Var. XIV) mit schweren Tonika- und Dominantakkorden im Bass und fallenden Schleifern in den Oberstimmen.[2] In 2/4 und sempre pp erinnert das Presto scherzando (Var. XV) an die Moments musicaux (Schubert). Unbeschwerte Spielfreude entfaltet sich in den beiden mittleren Allegro-Variationen (Var. XVI und XVII). Nach einem sachten Frage- und Antwortspiel der Var. XVIII (poco moderato, dolce) und dem kanonischen Presto (Var. XIX) schließt das zweite Drittel mit der verhangenen Bass-Variation in 3/2 (6/4).

Stürmisch (Allegro con brio) beginnt das letzte Drittel mit Kurztrillern im Oktavabstand über die ganze Klaviatur (Var. XXI). So schnell wie bezaubernd ist das Leporello-Zitat aus Mozarts Don Giovanni „notte e giorno faticar“ (Var. XXII), dem das virtuose Allegro assai (Var. XXIII) nicht nachsteht. Der Gesang der dreistimmigen Fughetta (Var. XXIV) ist ein nachbarockes Wunder, eine kontemplative Einkehr vor der ersten Wiederkehr des „Walzers“ im 3/8-Takt. Die rechte Hand spielt mit der Quinte und den Tonwiederholungen der ersten, die linke leggiermente mit den Sekundschritten der zweiten Themahälfte. Im selben Takt bleiben die beiden folgenden Variationen (piacevole und Vivace). Ihr Verwirrspiel um Sekunden und Quinten wird in der ausgreifenden Akkord- und Oktavenfolge der wuchtigen Variation XXVIII „angehalten“, mit Sforzatos auf jedem der beiden Viertel. Folgen kann nur Stille. Wie Licht von einem fernen Stern leuchtet im mezza voce die zweite Moll-Variation (Adagio ma non troppo). Mit drei ruhigen Akkordvierteln links und wieder mit Schleifern rechts vergeht sie ohne Wiederholung. Verhalten bleibt das dreistimmige Fugato der Variation XXX (Andante, sempre cantabile), die in der kleinen Vorschlagssekunde zwischen c-Moll und Des-Dur schwankt.

Nach innen gekehrte Ruhe verströmt das Largo, molto espressivo (Var. XXXI). In 9/8 erinnert diese melancholische „Fantasie“ an Carl Philipp Emanuel Bach.[1] Wie selbstverständlich mündet diese nacheinander dritte c-Moll-Variation in die leuchtende Paralleltonart Es-Dur. Die dreistimmige Doppelfuge (Var. XXII) ist der Schlussstein des Gewölbes, eine Ehrerbietung an Bach, den Beethoven verehrte. Ein verkürzter Dominant-Septimennonenakkord (ohne Grundton) wischt alle Fugenstrenge beiseite. Poco adagio und immer leiser findet er über den Dominantersatz e-Moll (der Paralleltonart von G-Dur) zum C-Dur der letzten Variation.[3] Im Tempo di Menuetto moderato (aber nicht schleppend) ist sie die Verzierung des Schlusssteins. Voller Anmut blickt sie auf den weiten Weg des verwandelten Themas zurück; der Arietta von op. 111 ganz ähnlich, endet sie aber nicht piano, tief und abgeschlossen, sondern forte, hoch und offen mit obenliegender Terz – als ob es weitergehen könnte.

So trifft (der von Beethoven geschätzte) Johann Baptist Cramer auch die Diabelli-Variationen, wenn er über den Charakter der Tonart C-Dur sagt:[4]

„Eine Mischung von heiterer Frölichkeit und sanftem Ernst, ist der Hauptzug dieser Tonart. Menuetten und anmuthige Sonaten sind unter andern ihren Eigenschaften angemessen.“

Johann Baptist Cramer (1786)

Einzelnachweise

  1. a b c Volker Scherliess im Begleitheft zur CD mit Ugorskis Diabelli-Variationen (DG 435 615-2)
  2. Steigende Schleifer spielen die Bässe am Anfang vom 2. Satz der Eroica
  3. Kantor Matthias Hoffmann-Borggrefe, Hamburg
  4. Tonartencharakteristik

Siehe auch